Die Alte

[285] Zu meiner Zeit

Bestand noch Recht und Billigkeit.

Da wurden auch aus Kindern Leute;

Da wurden auch aus Jungfern Bräute:

Doch alles mit Bescheidenheit.

Es ward kein Liebling zum Verräther,

Und unsre Jungfern freiten später:

Sie reizten nicht der Mütter Neid.

O gute Zeit!


Zu meiner Zeit

Befliß man sich der Heimlichkeit.

Genoß der Jüngling ein Vergnügen,

So war er dankbar und verschwiegen:

Und jetzt entdeckt er's ungescheut.

Die Regung mütterlicher Triebe,

Der Fürwitz und der Geist der Liebe

Fährt oftmals schon ins Flügelkleid.

O schlimme Zeit!


Zu meiner Zeit

Ward Pflicht und Ordnung nicht entweiht.[285]

Der Mann ward, wie es sich gebühret,

Von einer lieben Frau regieret,

Trotz seiner stolzen Männlichkeit!

Die Fromme herrschte nur gelinder!

Uns blieb der Hut und ihm die Kinder.

Das war die Mode weit und breit.

O gute Zeit!


Zu meiner Zeit

War noch in Ehen Einigkeit.

Jetzt darf der Mann uns fast gebieten,

Uns widersprechen und uns hüten,

Wo man mit Freunden sich erfreut.

Mit dieser Neuerung im Lande,

Mit diesem Fluch im Ehestande

Hat ein Komet uns längst bedräut.

O schlimme Zeit!


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 285-286.
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