(CLVI.)
Die Wolthätige Natur.

[208] Obwol in vorgesetzter Rähtsel der Welt Beschaffenheit abgebildet wird / da der Unberedte / der Unverständige / der Ungerechte / der Trunckenbold (also genent / als ein truncknes Bild) einander die Hände bieten / und mit den Armen ihre Kurtzweil treiben; so kan er doch auch füglich gezogen werden / auf die wolthätige Natur / welche einen einen Mangel mit einer besondern Gabe zu ersetzen pfleget / wie wir auß nachgehenden Geschichten vernehmen wollen.

2. Nechst Koburg war ein Knab ohne Hände gebohren / konte aber / durch beharrliche Gewonheit mit den Füssen thun / was andre mit den Händen verrichteten. Er gebrauchte das Messer und schneide Brod und die Speise damit / ase / trancke / schriebe sehr zierlich / schniede Federkiele / und was man sonsten mit Händen zu thun pflegte. Es waren aber seine Zeen länger / als sonsten ins gemein / daß er etwas umfassen können. Als ich diesen in Welschland gesehen / war er 31. Jahr alt.

3. Zu Nantes in Franckreich ist gleichfals ein Knab / ohne Hände geboren worden / welcher seine Füsse auch so meisterlich gebrauchen können / daß er ein Pistol laden unnd losbrennen / eine Nadel einfedeln / spielen mit Karten unnd Würffeln / sich kemmen / Geld zehlen / je den Degen führen können. Mit einer Peitsche hat er so klatschen können als der stärckste Fuhrmann. Montaigne l. 1. c. 22.

4. In Gelderland ist ein solcher Mann / ohne Hände geboren / gerichtet worden / weil er einen mit seinen Füssen / wie erst erzehlet worden / ermordet und beraubet. Dieser war 40. Jahr alt / und hat mit den Muskeln der Schuldern eine Axte gefast / und samt den geneigten Haubt Holtz spalten können / und so starck zu hauen / als ein andrer. Hat auch schnell[208] lauffen können und ist ein böser Mensch gewesen. Pareus von Mißgeburten l. 24. c. 8.

5. Nechst Paris hat ein grosses Schwein einem Kinde in der Wiegen die Hände abgefressen: Als es aber groß worden / hat es sich der Stümpffe und Muskeln fast wol bedient / als andre der Hände und Finger. Diese Weibsperson konte Teppicht wurcken / geschwind und künstlich nähen / daß sich jederman darob verwundert.

6. Camerarius / der gelährte und berühmte Mann schreibet / daß zu seiner Zeit zu Nürnberg gelebt ein Knab / und ein Mägdlein von einem Vatter gezeuget / welche stumm und taub von Mutterleib geboren; Doch von der wolthätigen Natur so reichlich begabet / daß sie beede wol in dem Sinne lesen / schreiben und rechnen können. Der Knab hat deuten können / was er zu verstehen geben wollen / und hat auch verstanden / was man ihm gedeutet. Er ist ein Meister in allen Spielen gewesen / wie seine Schwester in aller Nadelarbeit / und haben sie geschrieben / daß sie den Leuten an der Bewegung der Lippen ansehen / was sie sagen / ob sie solches gleich leicht vernehmen durch das Gehör. Diese beede / schreibt ferners Camerarius weren in die Predig gegangen / und hätten fleissig zugehöret / wann man den Nahmen unsers Erlösers genennet / auch sich gleich andren mit Hut abnehmen und Neigung andächtig erwiesen.

7. In Flandern ist Jean Ferdinand ein blind geborner armer Mann / in Philosophia und in der Poeterey sehr gelehrt worden / hat auch auf allerhand Seitenspielen sich meisterlich hören lassen / und Lieder mit 24. Stimmen gesetzet.

8. Zu Mecheln in Braband hat gelebt Nicas von Werte / welcher blind worden bevor er das dritte Jahr erfüllet / aber doch ein wundergelehrter Mann worden / (ohne Wissenschafft deß A b c) daß er Magistrirt / unnd der Raht ihm die Schul zu Mecheln anvertrauet. Nachmals ist er Doctor beeder Rechten und Professor zu Cölln worden / da er mit grossem Ruhm und Verwunderung viel Jahre gelehret.[209]

9. Ludwig Groco von Hadria beygenamt der Blinde hat in gebundner und ungebundner Rede treffliche Bücher geschrieben / und ist ihm in den alten und neuen Schrifften fast nichts unwissend gewesen. Seine Trauer und Freudenspiele sind so sinnreich und zierlich / daß viel von diesem Blinden ihre Erfindungen absehen.

10. Romigläus ein Blindgeborner ist so sehr gelehrt worden / daß er mit den Gelehrtsten sich in Streit eingelassen / gepredigt / ein gutes Urtheil und nicht minder eine übertreffliche Gedächtniß erwiesen. Es liegen auch noch etliche Bücher in offnem Druck / so dieser Mann geschrieben.

11. Es lehret die Erfahrung / daß die jenigen / welchen mit grossem Verstand begabt / eine schwache Gedächtniß haben. Die aber eine gute Gedächtniß / daß sie nicht gar zu klug sind / und ob wol natürliche Ursachen hiervon angezogen werden können / so wollen wir es doch lieber der wolthätigen Natur zuschreiben / welche unsre Unvollkommenheit etlicher Massen zu entsetzen / bemühet ist. Von einem / der eine gute Gedächtniß ohne Verstand hat / sagte jener recht / daß er gleich seye einem schönen Buch / dessen Bögen verhefft und unrecht eingebunden / darinnen man alles findet / was man nicht suchet.

12. Hieher könte man auch zehlen / daß die Armut mit der Gedult / die Demut mit Gunst / der nidrige Stand mit der Vergnügung ersetzet / der Reichthum hingegen mit Ungedult / der Stoltz mit Haß / die Ehre mit Sorgen vernachtheilt wird / dahin nemlich auch der Eingangs gemeldte Rähtsel zielet / und auf zweyerley Weise / nemlich in Buchstablichen Gleichniß Verstand hieher kan gezogen werden.


Rähtsel.


Mich hat deß Künstlers Hand zu Freund' und Leid gemacht /

Wann Venus und ihr Mars auf meinen Bauch gebracht.[210]

Ich rede stumme Wort / doch kann man nicht verstehen /

bald ein pechschwarzer Mann pflegt mit mir umzugehen.

Wie manches graues Haubt hab ich vulcanisirt /

und ihn mit einer Kron / den Oxen gleich / geziert.

Ich gebe / was ich selbst nit hab' / und solche Thaten /

wird von dem starcken Wein der Essig leicht errahten.


Quelle:
Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte, 2 Bde, Frankfurt a.M. und Hamburg 1664, S. 208-211.
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