Fünfte Szene

[95] MUTTER BUNTSCHUH. Ach Gott ... in diesem Hause des Reichtums ist einer alten, einfachen Frau wie mir auch immer ganz unheimlich zumute ... ja ... liebes Fräulein Grasmück, nicht ... mit meiner Not will ich Sie gar nicht erst plagen ... also erzählen Sie mir lieber noch etwas von ihrem kindlichen Leben ...

RADIANA. Ich weiß nichts ... ich habe ja gar nichts in mir ... oder doch ... eigentlich habe ich seit Tagen ein ganzes Konzert in mir ... und immer nur alle seligen Töne um einen Menschen geschlungen ...

MUTTER BUNTSCHUH. Ja, ja, ja ... das kann ich mir schon denken, daß Ihnen auch ein Mensch wie Tobias ungeheuren Eindruck macht ... mit seinen Erfolgen ... Sie sind noch jung ... auf Prunk und Reichtum müssen Sie im Zirkus auch sehen ... alle wissen schließlich, daß er das Gold nur so in Scheffeln ausschüttet, wenn er einmal in Gebelaune ist ...

RADIANA stutzig. Nein ... Herrn Tobias Buntschuh meine ich nicht ... ach Gott ... eben, das ist es ja, was ich mir gar nicht getraue, Ihnen laut heraus zu sagen ... ein gewöhnliches, törichtes Mädel wie ich bin ... jetzt habe auch ich eine Last zu tragen ...[95]

MUTTER BUNTSCHUH. Sagen Sie es ruhig ... klagen Sie ruhig ...

RADIANA erregt. Ich will gerade wie meine Mutter sein ... auch meine Mutter hat in ihrem ganzen Leben nur einen Mann lieben mögen ... nur immer denselben ... durchaus nicht, weil es ihr nur Pflicht war ... nein ... ganz und gar nicht ... nur, weil es ihr alle Seligkeit ... und Sinn und Lust und alles bedeutete ... bis dann der Vater bei einem Sprunge in der Manege stürzte und gestorben war ... die sich nie wegwarf ... nur immer ein und dieselbe Liebe im Herzen hatte ... so daß der Vater die Mutter auch wert und teuer hielt ... nie mochte, daß Weib und Kind in der Manege irgend etwas täten ... die Leute im Zirkus wußten überhaupt gar nicht, wo sein Weib und sein Kind wohnten ... bis dann nach seinem Tode ich an die Reihe kam, für meine Mutter das Leben zu verdienen ... weil ich so schlank und geschickt war ...


Sie hat sehr entschlossen gesprochen. Aber sie wischt sich plötzlich die Tränen.


MUTTER BUNTSCHUH. Weinen Sie nicht, liebes Kind ...

RADIANA. Nein, nein ... ich bin gar keine junge Henne, die ewig nur gackert ... und dann das Ei nicht bebrütet ... und eine Heultrompete bin ich am wenigsten, die alles dumme Gefühl immer hinaustuten muß ... ich weiß sehr genau, was ich bin ... ich bin ein Zirkusmädel und mache meine Sprünge ... und kann mir dabei noch immer die Welt betrachten ... aber Reichtum und Glanz und Scharfsinn ... und alle Tugenden der Menschen dazu ... locken mich gar nicht ... da mache ich mir einen Dreck draus ... mag ich eine Herumzieherin sein ... mögen wir ruhig weiterziehen ... da werde ich nur an Herrn Wendelborn denken ... und mein Herz wird sich in Augenblicken zersehnen nach dem verlorenen Himmelreich ... und wenn ich werde einen beliebigen Mann haben ... und Jungen und Mädel von ihm haben ...[96] da werde ich es ihnen einbläuen ... seid ja kein Freund wie Herr Wendelborn ... damit ist die Seligkeit nicht zu erreichen, wenn man Glück und Liebe und das letzte nur für seinen Freund hinwirft ...

MUTTER BUNTSCHUH ordentlich erschrocken. Fräulein Grasmück ... Kindel ... was Sie nur für eine kleine, kluge, energische Person sind ... nein ... ich höre ...

RADIANA. Jawohl ... nun sollen Sie auch das Äußerste noch hören, Frau Buntschuh ... Jetzt weint sie plötzlich heraus. es ist ein Blödsinn, was Herr Wendelborn sich denkt ... ich bin kein verworfenes Herze, wie Herr Wendelborn sich das denkt ... ich kann nicht aus Mitleid kommen und die Liebende spielen, mit Rosen und Blumen und Grimassen im Gesicht ... ich kann doch nicht einem beliebigen Manne mit Narde die Füße salben ... und sie dann mit meinem Haare abtrocknen womöglich ... Herrn Wendelborn könnte ich Leib und Seele hinwerfen und nach gar nichts fragen ... aber sonst für niemand ... und nicht um allen Reichtum und alle Ehren ... es wäre denn, daß ich mich aus Mitleid hingeben müßte, um dabei zu verderben und zu sterben ...

MUTTER BUNTSCHUH. Geliebtes Kindel ... mein Gott ... komm ... ich muß dich küssen ... komm ... seien Sie nur einer alten Mutter nicht böse ... ich muß Sie im Arme halten ... ich halte den größten Schatz auf Erden im Arme ... und mir ist, als wenn ich in diesem Gartensaale auf einmal die reinste Himmelsluft spürte ... ach ... du unglücklicher Tobias ... mit all deinen Reichtümern und all deinen Erfindungen ...


Quelle:
Carl Hauptmann: Die goldnen Straßen. Leipzig 1918, S. 95-97.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die goldnen Straßen
Die goldnen Straßen