Vierte Szene

[250] Rüdeger tritt mit seinen Gästen und den Nibelungen ein. Giselher folgt später und hält sich abseits.


HAGEN.

Wir erschrecken hier?


Allgemeine Begrüßung.


HAGEN zu Gudrun.

Man hat mich wohl verleumdet und verbreitet,

Daß ich nicht küssen kann? Hier der Beweis.


Er küßt sie, dann zu Götelinde.


Verzeiht mir, edle Frau! Ich war besorgt

Für meinen Ruf und mußte eilig zeigen,

Daß ich kein Lindwurm bin. Doch, wär ichs auch,

So hätt ein Kuß von diesem Rosenmund

Mich so gewiß zum Schäfer umgewandelt,

Als es im schönsten Märchen je geschah.

Was soll ich? Veilchen suchen? Lämmer fangen?

Ich wette um den zweiten Kuß mit dir:

Die Blumen sollen nicht ein Blatt verlieren,

Die Lämmer nicht ein Haar! Sprich, gehst dus ein?

RÜDEGER.

Zum Imbiß jetzt! Im Grünen ist gedeckt.

HAGEN.

Erst laß uns deine Waffen doch besehn!


Tritt vor einen Schild.


Das ist ein Schild! Den Meister mögt ich kennen,

Der ihn geschmiedet hat. Doch hast du selbst ihn

Gewiß nicht aus der ersten Hand.

RÜDEGER.

Versuchs,

Ob du errätst, wer ihn vor mir besaß.

HAGEN nimmt den Schild von der Wand.

Ei, der ist schwer. Nur wen'ge gehn herum,

Die solch ein Erbstück nicht verschmähen müßten.

GÖTELINDE.

Hörst du, Gudrun?[250]

HAGEN.

Du kannst ihn liegen lassen,

Wie einen Mühlenstein, wos dir gefällt,

Er schützt sich selbst.

GÖTELINDE.

Habt Dank für dieses Wort.

HAGEN.

Wie, edle Frau?

GÖTELINDE.

Habt Dank, habt tausend Dank,

Es war mein Vater Nudung, der ihn trug.

VOLKER.

Dann hatt er recht, als er Euch schwören ließ,

Euch keinem andern Recken zu vermählen,

Als dem, der seine Waffen brauchen könne,

Man denkt zum Schild sich leicht das Schwert hinzu.

HAGEN.

Das hab ich nie gehört. Was solch ein Fiedler

Doch alles weiß!

RÜDEGER.

Es war so, wie er sagt.

HAGEN will den Schild wieder aufhängen.

Nun, ich beklage seinen Tod von Herzen,

Ich hätt – verzeiht – ihn selbst erschlagen mögen,

Es muß ein trotzger Held gewesen sein.

GÖTELINDE.

Laßt ihn nur stehn.

HAGEN.

Das tut kein Knecht für mich.

RÜDEGER.

Schon gut. Wir wissen jetzt, was dir gefällt!

HAGEN.

Meinst du? Zum Balmung würd er freilich passen,

Den mir der wackre Siegfried hinterließ,

Und daß ich Waffen sammle, leugn ich nicht.

RÜDEGER.

Nur nimmst du keine aus der ersten Hand.

HAGEN.

Ich liebe die erprobten, das ist wahr!


Alle ab.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 250-251.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Nibelungen
Die Nibelungen
Dramen (Judith - Maria Magdalena - Gyges und sein Ring - Die Nibelungen)
Agnes Bernauer - Die Nibelungen - Deutsche Klassiker Bibliothek der literarischen Meisterwerke

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon