13.

[101] Und wir auch mußten fingerübend tasten,

Bis eins dem andern völlig auf der Spur,

Bis wir uns kontrapunktisch klar erfaßten

Auf unsrer doppelten Klaviatur.

Glück ist kein Leierstück für Klimperkasten –

Durch Dissonanz strebt tiefere Natur

Im Wechselkampf von Suchen und Sichfliehen

Zum Lustverschmelzen seliger Harmonien.
[101]

Du bist nicht ich, ich bin nicht du. Es zittert

Durch jeden anders der Akkord der Welt.

Urfugen sind milliardenfach zersplittert,

Zu Wellchen ist des Kosmos Klang zerschellt.

Die Liebe spürt im Klanggewirr und wittert,

Wo sehnsuchtsvoll sich Ton dem Ton gesellt –

Wenn sich zwei Menschenleben ganz gefunden,

Hat sich geschiedner Schall dem Schall verbunden.


Wer kann der Liebe reines Wesen deuten,

Das Gottes heiligstes Geheimnis ist?

Aus dieses Urgrunds Meerestiefen läuten

Verborgne Glocken, deren Klang ermißt

Kein Pfiffikus mit wissenschaftsgescheuten

Witzohren und geriebener Forscherlist:

Mit schwingt ein dunkler Ton aus ewigen Sphären,

Den kann mir kein Akustiker erklären.


Er klingt aus leisem Unterton der Stimme,

Wenn sich die Wange dicht zur Wange schmiegt,

Klingt aus dem Schluchzen, wenn von Trotz und Grimme

Die Doppelseele sich Verzeihn ersiegt.

Klingt aus dem Zuruf, daß zum Licht ich klimme

Aus Stunden, drin mich's düster überfliegt,

Klingt aus dem Abschiedsgruß beim Händedrucke,

Wenn ich, wie vor Verlust, zusammenzucke.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 101-102.
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