28.

[134] Welch krausen Zickzackweg bin ich gestiegen

Zu dieser Anhöh, die mich höher ruft!

In welchen Wünschen kann das Herz sich wiegen,

Bis sich dem Blick das Bergziel abgestuft!

Abgründe rings, drin Ungeheuer liegen!

Wer seid ihr, Genien, die ihr so mich schuft,

Daß ich, schon manchem Drachen schier im Schlunde,

Hier stehe heil – mit wem seid ihr im Bunde?


Entwirr' ich dieses Knäul von Leidenschaften,

Drin Schritt auf Schritt mein Fuß verstrickt sich sah,

Wie Schuldgespenster mich zu Boden rafften,

Wie durch Verblendung ich dem Wahnsinn nah,

Wie durch vergeudend Unmaß mir erschlafften

Des Geistes Muskeln, und es doch geschah,

Daß es mich aufhob wie mit Adlersfängen,

Glaub' ich bereitet mich zu Gipfelgängen.


Wer sagt: Durch eigne Kraft? Wer: Gottesmächtig?

Verdienst und Fügung sind von Grund gemischt.

Als ich das Gift geschüttelt schreckensnächtig,

Mir die Verzweiflung: »Trinke!« zugezischt,

»Die Hölle will's. Der Trug ist niederträchtig.

Das Flämmchen quält sich. Besser, es erlischt.«

Wer wirkte, daß den Sud ich fortgegossen?

Wer hat den Faden mir ans Seil geschlossen?
[135]

Und als des Menschheitsglaubens Frühlingsblüte,

Von Frost befallen, tief ihr Haupt gebeugt,

Als Hagel schlug und winterlich Gewüte

Den Lenz zerriß, den ich im Traum erzeugt,

Als eisiger Schauer Anhauch im Gemüte

Des Herzens Kinder mordete, gesäugt

Mit meines Lebens liebevollsten Säften,

Wer nährte mich mit welterprobtern Kräften?


Geheimnis ganz. Frischgärung aus Verderben.

Aufrichtung aus zerstörtem Tempelgrund.

Mußt' ich in niederer Gestaltung sterben,

Um reif zu sein zu höherem Wesensbund?

Brach das Geschirr des Geistes mir in Scherben,

Daß es zu schönern Formen auferstund?

Darf sich mein winzig Schicksal fragend brüsten:

»Läuft so das Lebensschiff von Todesküsten?«


Wer weiß, wohin mich diese Segel tragen?!

Vom Augenblick zur Ewigkeit – hoiho!

Kein enges Sackloch soll mich fürder plagen,

Ich bin ein Mensch – Urgeist, du schufst mich so.

An meiner Schwachheit will ich nicht verzagen,

Der Überwindung werd' ich kräftig froh,

Und diese Welt, gemacht mich zu beschränken,

Soll mich dafür mit ganzer Freiheit tränken.
[136]

Und unter mir aus Freiheit, die erhaben

Ob jener ist, die vordem mich berauscht,

Lass' ich den Losungsschrei des Menschheitsknaben,

Seit ich dem Lied der Ewigkeit gelauscht.

Mag sein, man kommt ins Alter bald der Schwaben,

Und, wie gesagt, wir fühlen wie vertauscht,

Wobei wir weder uns des Frühern schämen

Noch durch Vergangenes uns lassen lähmen.

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 134-137.
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