30.

[139] Die Sterne glitzern und die Blumen saugen

Den lauen Balsam dieser Julinacht,

Ich öffne weit die welterfüllten Augen

Und halte wunderstille Sternenwacht.

Die Blumen duften und die Blicke saugen

Aus blauen Baldachinen Schauensmacht:

Mit goldnen Himmelsblumen hold im Bunde

Zittr' ich im milchig hellen Äthergrunde.


Und dieser sausend sternumsäten Erden

Zeichn' ich der Seele lichte Lettern hin:

Ich kann kein dürftiger Knecht des Daseins werden,

Weil ich in Ewigkeiten web' und bin.

Mag das Geschick Sich, wie »Es« will, geberden,

Hoch thront Unendlichkeit – Befreierin,

Mit schicksallosen, zeiterhabnen Zügen,

Die nie sich wandeln und die niemals lügen.


O Lebensangst, du schlotternder Philister,

Geschlichen fast in diese feine Haut,

Verbrenne nun mit kläglichem Geknister

Am Strahlenherde ganz, den ich geschaut!

Was ficht mich an Frau Missis und Herr Mister,

Die mit gedrücktem Wirbelglied gebaut?

Ich will mich nicht den Kleinen überheben,

Doch über dem Gemeinen will ich schweben.
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Sternflüstern und geheimnisvoll Gefunkel!

Bekenntnis flutet durch den blauen Dom.

Das Leben ist ein lichtdurchrieselt Dunkel,

Ein unergründlich ewiggleicher Strom.

Was spinnt Urahne Kraft auf ihrer Kunkel?

Kein Bruno weiß es und kein Papst in Rom –

Kein freier Geist, kein formgebundner Glaube

Begreift den Sinn des Adlers und der Taube.


»All-einig – einig – einig«, hör' ich rauschen,

»Sei ruhig, Mensch, du Spiegel der Natur!

Ich bin ein Lied, dem Narr und Weiser lauschen,

In Rätselsang verzittert meine Spur.

Was frommt's, mit falschem Tand sich aufzubauschen?

Sei Kind, such Blumen auf der Sternenflur!

Kind Genius – dir tut die Welt kein Schaden:

Dein ist die Unschuld und die Kraft in Gnaden.«

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 139-141.
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