6. Schlagadodros Tugend und Fall

[469] Balsamine! Schlagadodro!

Macht der Schönheit! Kraft der Tugend!


Auf der Mauer saß der Riese,

Mit den Beinen düster baumelnd,

Tief im Herzen schwarzen Vorsatz,

Traurigkeit im finstern Auge

Über seine strenge Tugend,

Die ihn morden hieß, den Guten.


Und er sprach zu seinen Mohren:

»Grabet eine Gruft, sechs Schuh tief,

Unterm Ringe dieser Mauer!

Meine Liebste schlag' ich heute

Tot, und werf' hinab die Leiche.«


Knull, der Obermohr, die andern

Kohlpechschwarzen Untermohren

Neigten sich und gingen eiligst,

Schaufelten das Grab sechs Schuh tief

An der Mauer von Brambambra.


Kam die Zofe Violette,

Sprach mit ihrem schnipp'schen Munde:

»Meine gnädigste Prinzessin

Läßt Euch fragen, langer Recke,

Weshalb Ihr seit dreien Tagen

Gänzlich sie vermieden habet?

Seit drei Tagen sitzt Ihr, baumelnd

Mit den Beinen, auf der Mauer,

Kommt nicht mehr zum Tee, zum Essen;[469]

Die Prinzessin heischt Erklärung

Wegen dieser großen Grobheit.«


Es versetzte Schlagadodro,

Ungeschlachtens Sohn und Erbe:

»Ich vermeide Tee und Essen,

Sitze baumelnd auf der Mauer,

Meine Unschuld vor Verführung

In der Einsamkeit zu schützen.«


Maulend ging hinweg das Zöfchen,

Zu der Mohren Schaufelchore

Rief hinab der Tugend-Riese:

»Grabt ein zweites Loch, ihr Schwarzen,

Dran soll auch die Kammerkatze!«


Unten auf der Felsenplatte

Aus dem Arm der holden Schütz'rin

Sprang der Held, Don Tulifäntchen.

Schlug's Visier auf, tapferkühnlich,

Von dem Helm von Haselnußschal'.

Sprach zur goldbeschwingten Fee:

»Göttin, was beginn' ich jetzo?«


Drauf versetzte Fee Libelle

Mit den goldenblauen Flügeln:

»Dieses sage dein Gemüt dir.

Deine Tat sei deines Herzens

Eingebornes Kind, Geliebter.«


Sprach der Held, Don Tulifäntchen:

»Mir gebeut das Herz, das edle,

Erst noch einmal Schlagadodro

Herzufordern mir zum Schwertkampf,

Ehrlich, auf den freien Streitplan.

Denn die List gebraucht der Wackre

Nur, wenn offne Schlacht versagt ist.«[470]

Ihm die Augen küssend, sprach

Fee Libelle: »Handle also!

Du bist immerdar derselbe.«


Und hinauf rief Tulifäntchen

Zu dem tugendhaften Riesen:

»Komm herab, du Kornverderber!

Komm herab, du Schafverschlinger!

Komm herab, du Äpfelfresser!

Luftzerreißer! Sonnenfeind!

Komm herab, du Mörder Quintens!

Komm herab, Prinzessinräuber!

Vor sein Schwert zum letzten Male

Lud der Sohn Don Tulifantens

Nieder deinen langen Leib!«


Oben sagte Schlagadodro,

Ungeschlachtens Sohn und Erbe:

»Wie das Heimchen unten zirpet!

Unglückseligste Prinzessin,

Dieses Heimchen singt dein Grablied.«


Rief der Held, Don Tulifäntchen:

»Nicht einmal mir Antwort gibt

Dieser schändlichste der Riesen!

Ha, so büße deinen Hochmut!«

Rief's, und ging, und kroch ins Löchlein

Links der Pforte. Fee Libelle

Schwebte nah' im Sonnengolde,

Schimmel trabte ausgelassen,

Wie verrückt, rings um die Mauer.


Balsamine! Schlagadodro!

Macht der Schönheit! Kraft der Tugend!


Kam die Zofe Violette,

Sprach zum Riesen, schnipp'schen Mundes:

»Meine gnädigste Prinzessin[471]

Will mit Euch Französisch treiben,

Sie erwartet Euch im Diwan.«


Riese, Riese, laß die Tugend!

Unter dir miniert das Schicksal.

Geh zur genialen Schönheit,

Zur lavendelduft'gen Fürstin!


Es erseufzte Schlagadodro,

Ungeschlachtens Sohn und Erbe,

So ganz überaus erschrecklich,

Daß die Zofe Violette


Ward vom Luftzug umgeworfen.

Darauf sprach er: »Dieser Seufzer

War der Menschheit Überbleibsel,

Jetzo fühl' ich mich als Halbgott.

Sage deiner Herrin, eilends

Soll sie sich zu mir verfügen!

Du kommst auch mit, schnipp'scher Grasaff'!

Damit holla, punktum, basta!«


Zitternd raffte sich das Zöfchen

Auf und ging. Der biedre Riese

War allein mit seiner Größe.

Sprach: »Zwei Dinge kenn' ich einzig,

Die mir einzuflößen Ehrfurcht

Sind imstande. Nämlich erstens,

Mein Charakter. Darauf zweitens,

Diese Mauer. Beide passen

Wie gegossen aufeinander,

Ganz massiv sind alle beide,


Für die Ewigkeit gegründet.

Bagatellen sind dagegen

Höll' und Himmel. Wohl das beste

Wär's, ich gäb' den ganzen Kram auf,

Religion und Gott und Teufel,

Glaubte künftig an mich selbst nur,

Und an meine eh'rne Mauer![472]

Doch wie ist mir denn? Was wackelt

Also seltsam unterm Kreuzbein?«


Und es bebt' und wippt' und wiegte

Und es schwankt' und schwappt' und schwaumelt'

Und es kreischt', es riß, zerspliß,

Ritz an Ritz, die Mauer rings!

Und es stöhnt' und schrie und jaulte

Zeternd Schlagadodro, brüllend

Sank er in zerborstne Klüfte.

Und es schwand und starb sein Laut hin

Ins Getöse, das wild aufdrang

Aus dem neugebornen Chaos.

Schollernd, knallend, krachend, platzend

Rutschten nieder die gelösten

Eisenstücke, Eisenbalken

Quetschten sich dazwischen gellend!

Türme nickten, stürzten drüber,

Diese Balken überwuchtend,

Und sie brachen! Und hinunter

Stürzten Balken, Stücke, Türme,

Die zerrissen in dem Absturz!

Wirrsal, Strudel, Stumpfen, Qualmschutt,

Donnertosende Zerstörung,

Fiel die große Riesenmauer,

Fiel die Mauer von Brambambra! –


Aber unter Donnersturz-Graus

Stand der Held, Don Tulifäntchen,

Festgelehnt aufs Schwert, das gute,

In den Lärmen blickend freudig

Aus den unbewegten Wimpern,

Wohlbeschützt. – Ob seinem Haupte

Flatterte die Fee beschirmend,

Ausgespannt die beiden Flügel,

Wie ein Dach; so wahrte gütig

Die Unsterbliche den Helden.

Platten, Stein' und Balken glitten[473]

Federn gleich, vom Wind verhauchet,

Links und rechts vom Haupt des Helden

Nieder auf den Boden harmlos.

Wohl dem Manne, dem die Götter

Schützen das geliebte Leben!

Lange stand er so. Der Qualm zog

Um die wilde Trümmerstätte

Schwer, erstickend, deckendichte,

Lang', die Aussicht ihm verbergend.


Als der Himmel wieder blaute,

Sprach der Held, Don Tulifäntchen:

»Göttliche, wenn dir's genehm ist,

Laß uns schaun des Tages Opfer!«


Ihm versetzte Fee Libelle,

Faltend ihre goldnen Flügel:

»Das geschehe, wie du's wünschest.«

Und sie faßt' ihn bei der Locke,

Schritt voran, voll freud'gen Trotzes

Folgt' ihr nach der kleine Kampfherr,

Und so gingen Held und Fee

Über Trümmer durch das Schlachtfeld.


Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 1, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 469-474.
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