Zwölftes Kapitel

[128] Wilhelmis Erwachen war äußerst schmerzlich. Der Diener Philipp hatte nicht gewagt, die Unordnung anzurühren; er ließ alles stehn und liegen. Denn seiner Meinung nach war es bei dem Herrn nicht mit rechten Dingen zugegangen, und er wünschte, daß dieser sich selbst von dem Greuel überzeugen möge. »Bei uns hat der Satan gewirtschaftet, Herr Kammerrat«, sagte der Mensch, als er ihn endlich spät aus dem Bette holte. Wilhelmi fühlte sich matt und angegriffen, aber er meinte in die Erde zu sinken, als er sein Zimmer betrat. Schon der gedeckt stehngebliebne Tisch mit den Resten der Mahlzeit würde hingereicht haben, ihn höchlich zu verstimmen; was war jedoch dieser Tisch gegen die Stühle, die Flämmchen in ihrem Mutwillen zu einer Pyramide zusammengeschoben, gegen den Tintenstrom, der sich aus der umgeworfnen Flasche ergossen hatte, gegen die zerschlagne Scheibe, und endlich gegen die Schnurrbärte des Plato und Pythagoras? Ärgerlich befahl er dem Diener, schnell aufzuräumen, und ging zum Herzog, der, wie er hörte, schon nach ihm verlangt hatte.

»Nun, Sie sind gestern abend recht lustig gewesen!« rief ihm der Fürst heiter entgegen.

»Ich habe die Genesung unsres jungen Freundes gefeiert«, versetzte Wilhelmi mit halber Stimme.[128]

»So werden wir ihn ja endlich auch wohl zu sehn bekommen«, sagte der Herzog einigermaßen empfindlich. »Aber die Briefe, wo sind sie? lassen Sie mich sie unterschreiben!«

»Welche Briefe, Ew. Durchlaucht? Ja, die Briefe! – Großer Gott, die Briefe! – O ich Unseliger!«

Es war Posttag. Wichtige Geschäftsbriefe, deren Abgang aus manchen Gründen beschleunigt werden mußte, waren zu schreiben gewesen; Wilhelmi hatte sich vorgenommen gehabt, den Rest des Abends oder den frühen Morgen dazu zu verwenden, als er Hermann in sein Zimmer führte.

Pünktlich sonst in seinem Dienste bis zum Pedantischen, war er jetzt so gröblich von der Regel abgewichen, welche den Ehren- und Angelpunkt seines Lebens bildete, und bei welcher Veranlassung! Er geriet völlig außer sich, und ergoß seinen Kummer, ohne der Gegenwart des Herzogs zu achten, in einer verzweiflungsvollen Rede über die Schwäche und Inkonsequenz des Menschen. Kaum konnte ihn der Herzog, der diesen gewaltsamen Ausbruch eines unbegrenzten Pflichteifers (denn darin suchte er den Grund desselben) nicht ungern hörte, durch herablassende und gütige Worte einigermaßen beruhigen.

Indessen kleidete sich Hermann an, um seinen Besuch bei der Fürstin zu machen. Zur guten Stunde war ein schwerer Geldbrief vom Oheim angelangt, nebst Abrechnung und Beilagen, die er durchzusehn, sich noch nicht die Zeit genommen hatte. Sogleich war ein Bote im gestreckten Trabe nach der Stadt geschickt worden, um das Notwendigste herbeizuschaffen, was zur anständigen Kleidung gehört. Mit großer Genugtuung vervollständigte er die ihm für Flämmchen anvertraute Summe wieder, von welcher er die Zeit her zu seinen Ausgaben hatte nehmen müssen. Es blieb ihm ein sehr bedeutender Überschuß, er sah sich im Spiegel vorteilhaft ausstaffiert, er fühlte sich frei, berechtigt, wie jeder mit Gelde versehne Mensch. Nur von der Ausschweifung der vergangnen Nacht empfand er noch einige Nachwehen.

Aber auch diese verschwanden, als er in das Zimmer der Herzogin trat. Homer erzählt von einem Kraute Moly, dessen Genuß alle Einflüsse unheimlichen Zaubers abwendet, und es[129] war Hermann, als habe ihm ein himmlisches Wesen so ein schützendes Mittel gereicht, da er den holden Duft süßer Wohnlichkeit einsog, der durch das heitre prächtige Gemach hinwehte. Die Herzogin hieß ihn freundlich willkommen; er ward aufgefordert, ihrem Stickrahmen gegenüber Platz zu nehmen. Nun war ihm erst wie einem Gesunden zumute. Unterwegs hatte er einen Entschluß gefaßt, den auszuführen er für Pflicht hielt. »Wie?« sagte er, »du hast gehorcht, du bist im Besitz der Hälfte eines Familiengeheimnisses, und deine Wohltäter wüßten von diesem Umstande nichts? – Wahr zu sein hast du geschworen, beweise hier auf die Gefahr, in Ungnade zu fallen, daß du deinen Eid halten willst.«

Als daher in dem Gespräche eine Pause entstand, fing er seine Beichte an, in welcher er freilich den Umstand betonte, daß ihn nur der Zwang der Umstände zum unerbetnen Vertrauten gemacht habe. Er beteuerte, daß, was er gehört, für ewig in seinem Busen begraben bleiben werde, und schloß mit der Bitte, ihm zu sagen, ob er auf der Stelle einen Ort verlassen solle, wo sein Anblick vielleicht mißfällig sei?

Die Herzogin hatte sich, um ihre Bewegung zu verbergen, anfangs tief auf ihre Arbeit niedergebeugt; bald aber fand sie sich, und noch während Hermann sprach, faßte sie einen Plan. Sie glaubte, vielleicht zu sehr, an einen vernünftigen Zusammenhang der Zufälligkeiten in der Welt, und sah in der Dazwischenkunft des jungen vielversprechenden Fremdlings so etwas von einem Winke der Vorsehung. Ganz beruhigt erhob sie daher ihr Haupt, als jener geendet hatte, und sagte: »Daß es mir nicht angenehm sein kann, von Ihnen belauscht worden zu sein, begreifen Sie selbst. Indessen waren Sie unschuldig daran, und damit ist die Sache abgemacht.« Er hoffte, sie werde ihm irgendeine tröstliche Andeutung geben, wie die seine Näherung ablehnenden Worte, welche sie damals zugleich gesprochen hatte, zu verstehen wären, aber vergebens. Schon erwartete er mit Herzklopfen seine Entlassung, als die Herzogin, scheinbar nur, um das Gespräch fortzuführen, einige Fragen nach seiner Vaterstadt tat. Mit weiblicher Feinheit wußte sie den Faden von Straße zu Straße zu spinnen, bis nach dem Hause seiner Eltern, und so war er auf einmal, er[130] merkte selbst nicht, wie, in einer Erzählung von seiner Jugend und von seinen frühesten Verhältnissen begriffen.

»Es ist gewiß«, sagte er, »daß dem Menschen nichts mehr schadet, als wenn über dem Gemälde seiner ersten Tage ein verworrnes unruhiges Licht zittert. Das Kind soll, wie die Pflanze, aus festem Boden, unter dem gleichen Scheine der nach ewigen Gesetzen wiederkehrenden Sonne emporwachsen. Ich dagegen bin in einer Lage zum Bewußtsein gekommen, die viel von dem Schwanken des Schiffbruchs, oder vom Stegreifsleben einer Nomadenhorde hatte. Ich war etwa neun Jahre alt, als es dem damals Allmächtigen beliebte, auch unsre gute ehrwürdige Reichsstadt unter die Fürsorge seines Zepters zu nehmen. Nun sollten wir Franzosen werden, blieben Deutsche, und niemand wußte, was bei der Sache herauskommen werde. Auf großen Tafeln stand mit ellenlangen Buchstaben zu lesen, daß wir jetzt eine Munizipalität, ein Tribunal, und eine Präfektur statt des Rats der Oberalten, des Schöppenstuhls und der Pfennigmeisterei hätten. Die Patrioten zogen sich ins Dunkel zurück, schweigend, wie grollende Titanen, die Geschichte der eignen Stadt, womit sonst ein Knabe aufgenährt wird, blieb uns fremd; wer mochte von der Vergangenheit reden, der man das ganze Unglück der Gegenwart aufbürdete? Wir liefen hinter den neuen Mäntelchen, Krägelchen und Schärpen her, bis wir hörten, in den hübschen Kostümen steckten lauter abgefeimte Schelme. Rings um uns zischte es von nichts, als von Bestechungen, Kabalen, Begünstigungen durch die niedrigsten Mittel. Welche Eindrücke für ein junges Alter, worin alles so scharf aufgefaßt wird.«

»Sonderbar«, sagte die Herzogin. »Ich lebte damals in Paris. Es war der ruhigste Ort auf der Welt. Niemand fühlte die Bewegung, die den ganzen Erdboden erschütterte. Man sah derselben, wie einem Schauspiele zu; die Bulletins glichen den Reden der Helden in der Tragödie, und die Trophäen, welche von Zeit zu Zeit anlangten, kamen den Menschen nur wie neue Szenerien vor, womit seine Hauptstädter zu ergötzen, der Gebieter die kluge Gefälligkeit hatte. Aber Ihre Eltern?«

»Sie ruhn in Frieden! Teuer sei mir das Andenken dieser verehrten Häupter! Sie haben in mir das höchste Vertrauen[131] erweckt; warum soll ich zaudern, von allem zu sprechen, was mich bei dieser Erinnrung bewegt? Außer dem Hause war das Verderben, im Hause gab es kein Behagen. Nicht, daß irgendein Zwiespalt hervorgetreten wäre; nein, im Gegenteil, mein Vater bezeugte der Mutter nur Achtung und Aufmerksamkeit, und sie war das Muster weiblicher Sanftmut und Unterwürfigkeit. Aber dem Blicke des Kindes blieb nicht verborgen, daß hier doch jene Eintracht der Herzen fehle, die in tausend kleinen unbeschreiblichen Zeichen sich kundgibt. Ernst und still gingen die Urheber meiner Tage nebeneinander her: Wie oft fand ich die Mutter in Tränen! Wie oft sah ich den Vater, wenn ich von der Straße und meinen Kamaraden kam, trüb und gedankenvoll am Fenster stehn! Sein schwerer Blick ruhte in den Wolken, als suche er da etwas, was ihm auf der Erde mangle. Er hatte viele Eigenheiten. So durfte in seiner Gegenwart nie von einer Hochzeit gesprochen werden. Er geriet, geschah dies einmal zufällig, in eine solche Schwermut, daß er dann mehrere Tage lang für jeden unsichtbar blieb. Eine andre Sonderbarkeit war, daß nichts in der Welt ein Versprechen ihm abzulocken vermochte. ›Wir wollen sehn‹, war alles, was er auf die dringendsten Bitten erwiderte. Dann aber tat er, was er nur konnte, und dieses ungewisse Wort galt bei den Leuten mehr als ein Eidschwur andrer.

Ich liebte meine Eltern herzlich. Mein Vater war mir eine Art Gottheit, die sich in heiliges Dunkel verbirgt. In mancher Nacht lag ich auf meinen Knien, und bat den Himmel, es so zu fügen, daß meine Eltern einander doch auch so liebhaben möchten, wie ich sie liebte. Aber mein Naturell war munter und beweglich; alle diese finstern Dinge konnten seine Fröhlichkeit nicht zerstören. Ich war viel außer dem Hause, viel unter andern Menschen, man mochte mich gern leiden, eine Antwort fehlte mir nie, und mehrere meiner jüngern und ältern Bekannten schienen ein Vergnügen daran zu finden, wenn sie meine Geistesgegenwart auf die Probe stellen durften. Was sonst einem Kinde so natürlich ist: daß es seine Eltern für einen Wall und Rückhalt in jeglicher Not ansieht, blieb mir immer fremd. Sie waren von einem mir unbekannten[132] Leide schon so sehr bedrückt; sollte ich ihre Verlegenheiten vergrößern?

Nun erschien das Jahr 1813. Als Siebenzehnjähriger stand ich in den Donnern von Lützen. Da lernte man sich erst recht fühlen, den Schanzen und Kolonnen gegenüber, sich selbst und seinem Schicksale überlassen. Nachher habe ich meine Eltern immer nur auf kurze Zeiten wiedergesehn. Ich studierte, reiste viel, war hier und dort. So bin ich das unruhige, unstete, ach und leider zu früh mit der Welt und ihrem Laufe bekannt gemachte Wesen geworden, welches Sie mit solcher Nachsicht angehört haben. Bringen Sie mich nicht in eine Klasse mit den eiteln, vorlauten, zerstreuten Jünglingen unsrer Tage; ich stehe vielleicht an Geist in keiner Beziehung über ihnen, aber mein Sinn ist anders. Sie sind so höchst zufrieden mit sich, ach! und ich bin leider so höchst unzufrieden mit mir! Ich habe keine Jugend gehabt. Ist das vielleicht die Krankheit und der Mangel meiner Natur? Die Dinge gewähren mir keine Resultate. Alles, was ich anfasse, löst sich unter meinen Händen in ein Abenteuer auf, welches sich immer in die Gestalt meines Vorteils verwandelt. Wer aber wird nicht müde, vom Leben nur die sogenannten Annehmlichkeiten zu erbeuten? Wer wünschte nicht, daß ihn eine milde Fügung mit gütiger Hand in die Mitte des Dasein stellen, und in dessen Geheimnisse einweihen wollte?«

Die Herzogin hatte mit größerem Interesse zugehört, als sonst den Erzählungen und Klagen der Jugend zuteil zu werden pflegt. »Milde Fügung! Gütige Hand!« sagte sie lächelnd. »Es ist schlimm, daß sich die Fügungen nicht bestellen lassen. – Übrigens glaube ich, daß Sie empfinden, was Sie aussprechen. Und daher denke ich, daß die Schicksale nicht ausbleiben werden, nach denen Sie sich sehnen.«

Hermann erhob sich. »Mir ist eben von der dunklen Macht, welche unsre Tage beherrscht, eine Frage vor gelegt worden, und wenn ich nicht gar zu unbescheiden erschiene, so möchte ich mir die Antwort wohl hier erbitten.«

Er zog ein kleines Portefeuille hervor. »Diese Brieftasche sendet mir mein Oheim«, sagte er. »Ich soll dieselbe nach dem Willen meines Vaters öffnen, wenn ich das vierundzwanzigste[133] Jahr zurückgelegt habe. Die Worte des Verstorbnen besagen, daß ich nicht eher mich ankaufen, nicht eher ein festes Amt übernehmen und hauptsächlich nicht eher mich verloben soll, bis ich den Inhalt kennengelernt. Vor einigen Tagen erreichte ich jenes Lebensalter. Was soll ich tun?«

Die Herzogin sah ihn betroffen an. Dann beschaute sie aufmerksam das Portefeuille. Es war alt, mit kostbarer eingelegter Arbeit von Goldstäbchen, Perlemutter und Steinen geziert. Auf der hintern Fläche war etwas, wie ein großes Wappen eingebrannt, dessen Embleme sich aber nicht mehr entziffern ließen. Es schien viel gebraucht worden zu sein.

Sie hakte an dem silbernen Schlößchen; sie schien auf einen passenden Ratschlag zu sinnen. »Hat Ihr Vater in seinen Angelegenheiten etwas ungeordnet zurückgelassen?«

»Nein, sein Leben war dem Gange einer wohlgestellten Uhr gleich.«

»Sie lieben Ihre Eltern, nicht? Sagten Sie nicht so?«

Er neigte sich, stumm bejahend.

»Lassen Sie das Portefeuille uneröffnet!« rief die Herzogin. »Alle Geheimnisse sind verderblich, alle ohne Ausnahme.«

Er zauderte, es aus ihrer Hand zurückzunehmen. »Die Neugier ist der unüberwindlichste Fehler unsrer Natur.« Er wagte nicht, mehr zu sagen.

»Sie haben es so gewollt!« versetzte sie, indem sie es hastig in den Schreibtisch legte. »Nun ist es für Sie verloren, denn mit meinem Willen lesen Sie kein Blatt darin.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 128-134.
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