I. Der Herausgeber an den Arzt

[501] Sie erinnern sich vielleicht kaum noch unsrer Zusammenkunft in *, wo ich Sie inmitten der damals Ihnen kurz zuvor untergebnen Anstalten und im Feuer einer frischen, mannigfaltig wirkenden Tätigkeit traf. Der Umfang dieser Geschäfte, welche Ihnen neu waren, der Lebensatem, den die große Stadt dem wissenschaftlichen Manne zuhauchte, und dessen Macht sich noch nicht durch Gewöhnung abgeschwächt hatte, mochte in Ihnen eine erhöhte Stimmung hervorgerufen haben. Unsre Unterhaltung war die inhaltreichste. Mit schlagenden Worten gaben Sie mir in der Kürze den deutlichsten Begriff von dem Stande Ihrer Wissenschaft in der Gegenwart.

Ich würde mich, wie ich schon andeutete, vermutlich sehr irren, wenn ich glauben wollte, daß meine Person und Erscheinung in Ihnen einen Eindruck zurückgelassen hätte, nur von fern demjenigen gleichkommend, welchen ich mit mir fortnehmen durfte. Es ist mir so angeboren, bedeutenden Menschen gegenüber mich still zu verhalten, da ich es für einen größeren Vorteil erachte, ihnen zuzuhören, als mich selbst vorzutragen.

Dennoch wage ich, als seien wir einander Freunde und Vertraute geworden, Sie um eine Gefälligkeit anzusprechen und zwar um eine große. Es gibt Dienste, welche so sehr in einem allgemeinen Interesse erbeten werden dürfen, daß deren Leistung auch gegen den ganz Fremden vielleicht kaum mit Recht zu versagen ist.

Lassen Sie mich Ihnen bekennen, daß mich nicht der Anteil an Ihrem Institute, und nicht Ihr öffentlicher Ruf mich zu Ihnen trieb, sondern daß ich aus einem mehr persönlichen Beweggrunde kam. Nahe hatten Sie einem Teile der Personen[501] aus den höchsten Ständen und der mittleren Schicht der Gesellschaft gestanden, deren Schicksale sich eine Zeitlang auf eigne Weise berührten und durchkreuzten. Sie waren in der Verkettung der Leidenschaften und Umstände durch Rat und Tat, in Liebe und Widerwillen selbst handelnd gewesen.

Durch Zufall auf die Betrachtung jener aristokratisch – bürgerlichen, politisch – sentimentalen Haus – und Herzensereignisse geführt, durch Neigung bei der Betrachtung festgehalten, wünschte ich den Mann kennenzulernen, welcher in diesen Dingen – verzeihen Sie mir den Ausdruck – hin und wieder den Mephistopheles gespielt hatte.

Nun war aber Ihre Erscheinung ganz verschieden von meinen Gedanken. Ich bemerkte nach den ersten Reden, welche wir wechselten, daß Ihre Seele eine philosophisch – religiöse Färbung erhalten hatte, die zu meinem Bilde von Ihnen nicht paßte. Überrascht durch diese Entdeckung vermochte ich daher auch nicht, das Gespräch auf jene Begebenheiten zu lenken, die mich so sehr beschäftigten, und es entspann sich die Unterredung allgemeinen Inhalts, welche, so anziehend sie auch für mich war, dennoch meinen Wünschen widerstritt.

Denn zwölf Jahre bin ich den Lebensvorfällen der Menschen, welche, wie wir alle, als duldende Epigonen den von einer früheren Zeit uns hinterlaßnen Kelch auskosten mußten, aufmerksam gefolgt, ich habe niedergeschrieben, was ich von ihnen erkundete, und mich bestrebt, die verborgnen Fäden nach den bekannten Tatsachen ergänzend darzulegen. Wie weit mir dieses Werk gelungen, vermag ich zwar nicht zu entscheiden, gewiß aber ist es, daß die Bücher dieser Geschichten, teils im Plane bedacht, teils in der Anlage entworfen, und teils in der Ausführung vollendet, einen großen Abschnitt meines eignen Lebens hindurch mir unausgesetzt – treue Begleiter waren.

Jetzt sind die Entwicklungen nach tiefem Dunkel tröstlich erfolgt. Fröhliche Kinder umspielen die Knie derer, welche einst unrettbar verzweifeln zu müssen schienen, leidende Seelen haben sich in edler Tätigkeit erholt, nur die starren, eigentlich schon im Leben toten Naturen, nur einige lieblichwilde Auswürflinge geheimer Sünde oder gottschändender[502] Vermischung umhüllt das Schweigen des Gewölbes, oder deckt die grüne Erde, welche alles zuletzt mütterlich verhüllt.

Aber eine düstre Zwischenzeit trat diesen heitern Ausgängen vor. Am Schlusse meines Werks fühle ich mich unfähig, jenen wesentlichen Teil desselben zu liefern. Alles war damals verdeckt, entweder von den Vorhängen des Krankenbettes, oder von dem Siegel der Beichte, oder von der Scham der sich selbst zerwühlenden Brust. Die Geretteten bewahren ihre Erinnerungen zu heilsamer Scheue vor den Ungeheuern, welche unser Dasein umlagern, aber sie reden nicht davon, sie entziehn sich der Mitteilung über diese Gemüts – und Geistesnächte, wenigstens gegen mich.

Das neunte und letzte Buch, das Buch der Entwicklungen, ist geschrieben, und ich würde allenfalls auch das achte zusammenphantasieren können. Aber etwas Halbrichtiges würde mir selbst am wenigsten genügen. Gerade für diese Zwischenzeit wäre mir diplomatische Treue höchst erwünscht. Ich habe oft die Feder schon angesetzt, aber sie unwillig immer wieder weggelegt.

So müßten die »Epigonen« vielleicht ein im Wichtigsten verstümmeltes Bruchstück bleiben, wenn Sie, mein Herr, sich nicht helfend in das Mittel schlagen wollen. Sie waren in jener Zeit den Leidenden nahe; es ist unmöglich, daß Ihnen verborgen blieb, was mir zu entziffern nicht gelingen will. Ich weiß nicht, ob ich recht tue, es gibt vielleicht eine Leidenschaft für die Wahrheit, die wir gleich den andern bezwingen sollten. Wenn dem so ist, so kann ich wenigstens ihrer nicht Meister werden, und ich bitte, ja ich beschwöre Sie, meinem Drange nachzugeben, mir Ihre Kunde von dem Verlaufe der beiden Jahre, welche ich meine, und die Sie kennen, nicht vorzuenthalten.

Schreiben Sie mir, was das Gewissen der Herzogin bedrückte? welches Unglück auf der Ehe Johannens gelastet? was beide Frauen nervensiech machte? welche Antriebe den Herzog so unvermutet dahin brachten, alle seine Güter dem Widersacher abzutreten?

Mit einem Worte: Lösen Sie mich auf einige Zeit in der Autorschaft ab, und übernehmen Sie die Redaktion des vorletzten Buchs, es sei, in welcher Form Sie wollen.[503]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 501-504.
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