IV. Der Herausgeber an den Arzt

[507] Ich bin an der Elbe geboren, und erinnre mich aus meinen Kinderjahren einer großen Überschwemmung dieses Stroms. Weit über die Ufer, ja über die niedrigeren Dämme hin, wogte die graugelbliche Wassermasse mit weißkräuselnden Wellenhäuptern, Landstraßen und Fluren waren verschwunden, nur in der Ferne deuteten Turmspitzen und Waldsäume das Feste noch an. Man führte mich auf die Brücke, von welcher man in dieses wogende Getöse hinabsah, und meine Begleiter forderten mich auf, über das große Naturschauspiel zu erstaunen. Ich aber konnte an dem wüsten Einerlei, an dem Unabsehlichen, Nichtzuunterscheidenden keine Größe entdecken, und blieb in meiner Seele ganz ungerührt. Die andern schalten mich verstockt, fanden aber gleichwohl auf meine Frage: ob Millionen Tonnen Wassers, zusammengegossen, eben mehr wären, als[507] Wasser? nichts zu erwidern. Gleich darnach reiste ich in unser Oberland, in den Harz, welcher einen Teil der Fluten aus seinen von Schnee und Regengüssen geschwellten Wässern dem Strome zugesendet hatte. Wild und hastig stürzten die Flüsse, Flüßchen und Bäche dem ebnen Lande zu, aber jedes Bette hatte seine eigentümliche Gestalt, die Wände faßten noch das Gerinne, welches hier rasch und tosend fortschoß, dort sich um Baumstücke oder Felsblöcke brausend wirbelte, und jegliche dieser schäumenden Adern gewissermaßen zu einer lebendigen Person machte. Hier ward nun mein Entzücken laut, ich konnte mich nicht satt sehen an diesem Toben und Wesen, und sagte, das sei das wahre, große Naturschauspiel, wenn die Kräfte so besonders und für sich aufträten, und doch so innig zusammenhingen. Denn Seitenspalten und Nebenkanäle verknüpften diese Söhne des Gebirgs, die Elementargeister reichten einander die silberweißen Arme.

Die Knabenerinnerung soll eine parabolische Antwort sein auf die Frage, warum ich statt der Familiengeschichten nicht Welt- und Zeitgeschichte geschrieben habe, und warum ich sie vermutlich niemals schreiben werde. Mir erscheint ihr Geist nur in großen Männern, nur die Anschauung eines solchen vermöchte mir den Sinn für irgendeine Periode aufzuschließen. Wir besitzen aber keinen, haben seit Friedrich keinen besessen. Napoleon schien sich eine Zeitlang dazu anzulassen, aber es fehlte ihm die letzte Weihe, das organisierende Genie. Er hat nicht einmal vermocht, einen originalen französischen Staat zu schaffen, seine Institutionen sind schon jetzt veraltet. Im Laufe der Jahrhunderte wird er nur wie ein Attila und Alarich, die Vorläufer Karls des Großen, dastehn, und diesen zweiten Karl, diesen Erneuer des mürbe gewordnen Weltstoffs werden unsre Augen leider nicht mehr erblicken. Was ist also das politische Leben unsrer Zeit? Eine große, weite, wüste Überschwemmung, worin eine Welle sich zwar über die andre erhebt, aber gleich darauf von ihrer Nachfolgerin wieder umgestürzt und zerschlagen wird. Ich kann daran nichts Schönes erblicken. Leider haben die Beherrschten mehr Geist als die Herrscher, deshalb vermag nicht einer dieser feste Gestalt zu gewinnen, und jener sind viele, so daß sie sich gegenseitig aufheben.[508]

Ich fühle mich daher immer versucht, von der Ebne, in welcher diese Wogen als Revolutionen, Thronstreitigkeiten, Kongresse und Interventionszüge sich brausend mischen, aufwärts nach dem Gebirge emporzusteigen, welches durch seine hinabgesendeten einzelnen Fluten jene allgemeine Wasserwüste erschafft. Nie sind die Individuen bedeutender gewesen, als gerade in unsern Tagen, auch der Letzte fühlt das Flußbette seines Innern von großen Einflüssen gespeist. Dort also, auf entlegner Höhe, an grüner Waldsenkung, zwischen einsamen Felsen, im Rücken der politischen Ebne, wachsen und springen meine Geschichten. Jeder Mensch ist in Haus und Hof, bei Frau und Kindern, am Busen der Geliebten, hinter dem Geschäftstische und im Studierstübchen eine historische Natur geworden, deren Begebenheiten, wenn wir nur das Ahnungsvermögen dafür besitzen, uns anziehn und fesseln müssen.

In diesem Sinne reicht die Gegenwart oder die jüngste Vergangenheit dem, welchem das besondere, gegliederte Leben mehr gilt, als der unentschiedne Strudel, in welchen die verschiednen Strömungen der Lebenstätigkeiten endlich zusammenrinnen, wenn sie in den Konflikten des Öffentlichen einander begegnen, des Stoffes die Fülle dar, und es ist nicht nötig, in die Zeiten der Kreuzzüge, oder der Jesuitenherrschaft, oder des Dreißigjährigen Kriegs zurückgehn, um bedeutsame Anschauungen zu gewinnen.

Man hat unsre Tage mit denen der Völkerwandrung verglichen. Das Römische Reich zerfiel in jenen, und die Germanen traten an dessen Stelle. Auch wir hatten so ein Römisches Reich an der Autokratie der Fürsten oder gewisser allgemeiner Begriffe. Beides neigt sich zu seinem Untergange, und die Individualitäten in ihrer schrankenlosen Entbindung stehn als die Germanen der Gegenwart da. Noch haben sie nur zerstört, nicht das geringste Neue ist von ihnen bisher erfunden und gebildet worden. Mein Sinn, in welchem etwas Dichterisches sich nicht austilgen lassen will, neigt sich mit Wehmut und Trauer dem Verfallenden zu, denn die Musen sind Töchter der Erinnrung; aber eine Tatsache läßt sich nicht ableugnen, nicht verschweigen.[509]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 507-510.
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