Erstes Kapitel

[571] Cornelie stützte das Haupt des Oheims. »Ist dir diese Lage recht?« fragte sie ihn mit sanfter Stimme. »Ja, mein liebes Kind«, versetzte der Alte. »Wie wohl tut mir der Atem deiner Sorgfalt! Es ist recht schön von dir, daß du von der grünen Wiese hereingekommen bist, einen hinsterbenden Greis zu pflegen.«

»Du wirst dich erholen, Vater«, sagte Cornelie. »Nein, meine Tochter«, antwortete der Oheim, »wir werden bald voneinandergehn. Ein arbeitsames Leben zehrt auf; es ist ein sonderbares Gefühl, deutlich das Kapital seiner Kräfte überschlagen zu können, aus deren nicht zu berechnendem Reichtume man in der Jugend mit so verschwenderischen Händen schöpfte. Ich habe diese Empfindung jetzt oft.«

Der Dirigent einer Abteilung des Gewerbebetriebs trat ein, um die Meinung des Prinzipals über eine neue Anlage einzuholen. »Verfahren Sie hierin ganz nach eigner Einsicht«, erwiderte der Oheim, nachdem er sich die Sache hatte vortragen lassen. »Sie müssen sich nach und nach gewöhnen, selbständig zu handeln.«

»Welche Besorgnisse Ihnen auch Ihre Gesundheitsumstände einflößen«, sagte der Mann nicht ohne Rührung, »Besorgnisse, die, will es Gott, sich als ungegründet ausweisen werden, so seien Sie überzeugt, daß Ihre Weisheit unsre unverbrüchliche Richtschnur immerdar bleibt, daß keiner von uns an eine Zukunft nach Ihnen denkt.«

Eine andre Türe ward gewaltsam aufgerissen, Ferdinand stürmte herein, die Jagdtasche an der Seite, die Flinte über den Rücken geworfen. Er warf ein paar Feldhühner Cornelien zu Füßen, und rief: »Da hast du einen Braten in die Küche!« – Dann entfernte er sich ebenso laut, wie er gekommen war, ohne von dem Kranken Notiz zu nehmen. Dieser schickte ihm einen kummervollen Blick nach; der Geschäftsmann sah seufzend[571] vor sich nieder, Cornelie weinte still in einer Ecke des Zimmers. »Fürchten Sie nichts«, sagte der Kommerzienrat zu seinem Freunde. »Ich werde Verfügungen treffen, daß die Schöpfungen unsrer redlichen Mühe, die Anstalten, zu deren Begründung sich Kenntnisse, Fleiß und gegenseitiges Zutraun so vieler Männer verbinden mußten, nicht zusammenstürzen, wenn zwei Augen sich schließen, daß sie wenigstens nie von den Launen eines unbändigen Jungen abhangen sollen.«

Als jener das Zimmer verlassen hatte, sagte Cornelie: »Er wird gewiß noch anders und besser, Vater.«

»Nein«, erwiderte der Kranke, »ich täusche mich nicht mehr mit leerer Hoffnung. Die wilden, verderbten Neigungen sind zu tief bei ihm eingewurzelt, ich muß ihn aufgeben und seinen Weg ziehen lassen, denn es ist fruchtlos, gegen des Menschen Natur anzugehn. Liederlich wird der Bube nun auch, ich habe das leider erfahren. Großer Gott, wie war es möglich, daß zwei stille, einfache Menschen, wie meine Frau und ich, ein solches unstetes Wesen erzeugen konnten?«

Cornelie suchte den Leidenden zu beruhigen, und der Abend ging in Gesprächen mit dem Prediger, der sich, als es dunkel geworden war, wie gewöhnlich einfand, friedlich hin.

Der Oheim hatte, als er die Abnahme seiner Kräfte merklicher werden sah, von manchen seiner Eigenheiten abgelassen; sein Wesen war von Tage zu Tage gütiger und milder geworden. Die Geschäfte ruhten schon seit einiger Zeit fast ganz in den Händen der Untergebnen, und wenn ihm auch die Erhaltung des Ganzen am Herzen lag, so nahm er doch an dem Einzelbetriebe und an dem merkantilischen Resultate wenig Anteil mehr. Dagegen hatte sich seine Neigung für die Pflanzen zu einer wahren Zärtlichkeit gesteigert, und eine andre Jugendrichtung, die Liebe zur Chemie, stellte sich ebenfalls wieder ein. Dieser verdankte er die erste glückliche Wendung seines Schicksals. Er hatte als junger Mensch eine große Schiffslast für völlig verdorben gehaltner Ware an sich gebracht, und sie durch eine geschickte Behandlung in verkäuflichen Zustand gesetzt, dadurch aber in wenigen Wochen einen Gewinn von vielen Tausenden gemacht. Nun, in seinen letzten Lebenstagen, saß er wieder, wie damals, sooft es seine Umstände[572] erlaubten, im Laboratorio vor dem Ofen, glühte und schied, ohne einen weiteren Zweck, als die Vermehrung seiner Kenntnisse dabei zu verfolgen. Besonders eifrig untersuchte er die Mischungen der Bodenfläche seiner Besitzungen, da er, wie er scherzend sagte, doch zu wissen wünsche, welchen Elementen sein Staub sich dermaleinst verbinden werde.

Eines Tages ließ er den Prediger, diesem sehr unerwartet, rufen. Nach einigen vorbereitenden Reden eröffnete er demselben, daß er seinen Umgang und Zuspruch wünsche, da er das Herannahen des Todes fühle. Der Prediger, ein verständiger Mann, welcher einen Rückkehrenden von der konsequentesten Denkungsart, welcher sich von jeher allem Kirchlichen so ferngehalten, vor sich sah, begriff wohl, daß er auf die gewöhnliche Weise hier nicht einwirken dürfe, daß er vielmehr vor allen Dingen den eigentlichen Zustand des Kranken zu erforschen habe. Er tat daher einige geschickte Fragen, welche den Oheim auch wirklich dahin brachten, sich über sein Innres ohne Rückhalt auszusprechen.

»Zuvörderst muß ich Ihnen versichern«, sagte er, »daß ich mich vor dem Tode durchaus nicht fürchte. Nur für den Müßiggänger kann dieser Rechnungsabschluß beschwerlich sein; wer es sich immerdar hat sauer werden lassen, empfindet gewiß endlich ein Bedürfnis, auszuruhn. Weder Gewissensbisse, noch Angst vor dem Unbekannten da drüben treiben mich zu Ihnen. Aber es ist so natürlich, daß, wenn die eine Art der Beziehungen zu verschwinden anfängt, und eine andre beginnt, man sich über diese aufzuklären wünscht. Diese Aufklärung suche ich nicht unter Heulen und Zähnklappern, sondern mit einem stillen Verlangen, dessen Befriedigung mir so das Liebste wäre, was mir hier noch begegnen könnte.«

Der Prediger sah wohl ein, daß eine solche Stimmung mit der eigentlichen christlichen Sehnsucht nichts gemein habe. Gleichwohl durfte er, in seinem Amte angesprochen, sich dem Suchenden nicht versagen. Er wählte daher den Weg der historischen Belehrung, und schlug dem Oheim vor, sich zuvörderst davon zu unterrichten, wie Lehre und Dogma seit ihrem Entstehen von den Menschen aufgefaßt worden seien, und unter ihnen gewirkt haben.[573]

Dem Oheim war dies ganz genehm, und so brachte denn der Prediger von da an in jeder Woche mehrere Abendstunden bei seinem Patrone zu, ihm aus einem Handbuche der Kirchengeschichte vorlesend und seine Erläutrungen hinzufügend. Mit großem Interesse verfolgte der alte Mann die Entwicklungen der christlichen Kirche, und wies oft mit vielem Scharfsinne die Verwandtschaft unter den verschiednen Lehrmeinungen und Sekten nach. Sehr bald hatte er ausgefunden, daß das eigentümliche Leben des christlichen Geistes sich in den drei ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung erschöpft, und daß alles Spätere doch nur mehr in Wiederholung und Modifikation einer schon früher dagewesenen Entfaltung bestanden habe.

Bei den Gesprächen über diesen Gegenstand erwähnte der Prediger einst des Umstandes, daß sich auch die Versuche der frühesten Häretiker, den göttlichen Geheimnissen auf magische oder sinnliche Weise beizukommen, bis in die jüngsten Zeiten erneuert hätten. »So befand sich hier ganz in der Nähe«, sagte er, »vor etwa hundert Jahren eine Gemeinde, welche alle Schwärmereien der Gnostiker und Manichäer in sich vereint wieder aufleben ließ, und ziemlich lange ihr Wesen trieb, bis die herrschende Kirche sie mit solcher Strenge unterdrückte, daß nicht einmal ihr Gedächtnis in den Nachkommen geblieben ist, und auch ich von ihrem Dasein nichts wissen würde, hätte ich nicht ihre Geschichte, von einem Märtyrer der Sekte aufgeschrieben, ganz zufällig unter vergeßnen Papieren gefunden. Woher sie ihre Irrtümer genommen, ist mir dunkel geblieben; aus den Papieren ging so viel hervor, daß die Bekenner jenes Wahns geringe Leute gewesen waren, von denen sich nicht vermuten ließ, daß sie die Sache aus gelehrter Kunde geschöpft haben sollten. Ich bin daher schon auf den Gedanken gekommen, daß sich gewisse Einbildungen immer von Zeit zu Zeit wie Krankheiten von selbst aus dem Leben der Kirche erzeugen, und daß namentlich die böse Täuschung, dem Göttlichen durch geheime Zeichen und eine willkürliche Allegorie beikommen zu können, fortwuchern wird, solange es ein Christentum gibt.

Auch ihre Begräbnisstätte habe ich vor kurzem entdeckt«, fuhr der Prediger fort. »Sie liegt in einer einsamen wüsten[574] Gegend, und wie durch Instinkt getrieben, haben sie sich ihren Ruheplatz um Trümmer bereitet, die wohl ohne Zweifel dem Heidentume angehören. An den vermorschten hölzernen Kreuzen und Denktafeln, sowie an einigen roh und dürftig zugehauenen Steinen lassen sich noch sonderbare Embleme erkennen, die ohne Zweifel eine mystische Bedeutung hatten. Wenn es Ihnen gelegen ist, so kann ich Sie einmal dorthin begleiten. Die Sache ist immer merkwürdig genug, um eine Spazierfahrt bei schönem Wetter zu verlohnen.«

Der Oheim erklärte sich mit Vergnügen dazu bereit, und man beschloß, den ersten heitern Tag zum Besuche dieses Altertums anzuwenden.

Einmal um jene Zeit sagte der Oheim zum Prediger: »Ich fühle, daß auch das religiöse Organ von Jugend auf geübt sein will, und daß im Alter die Fasern zu zähe werden, um in dieser Hinsicht noch mit Erfolg sich etwas anzueignen. Aber so viel begreife ich, daß etwas, was die Menschen neunzehn Jahrhunderte hindurch beschäftigt hat, kein Possenspiel sein kann, und Sie mögen daher, wenn wir auseinandergehn, von mir die Hoffnung schöpfen, daß ich vielleicht anderwärts nachholen werde, was ich hier versäumt habe.«

Auch gegen die Katholiken war der Oheim nachgiebiger und freundlicher geworden. Er sah jetzt gelassen zu, wenn sie durch das Haus zur Messe gingen, ja er schenkte dem Altare ihrer Kirche eine neue prächtige Bekleidung, und ließ an die Stelle der messingnen, kostbare silberne Leuchter setzen. Hierüber mußte er selbst lächeln. Scherzend rief er aus: »Im Grunde bleibe ich mir doch treu, ich mache den Schaffner jetzt bei dem lieben Gotte, wie ich ihn lange auf irdische Weise gemacht habe.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 571-575.
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