Caroline an Gleim, an seinem Geburtstage

[18] den 2ten April 17751.


Dem Dichter, der ein süßes Lied

Voll hoher Weisheit mir gesungen:

»Wie schön das zarte Veilchen blüht;

Wie bald es welkt, und wie, verschlungen

Vom Boden, welcher es gezeugt,

Es keine Sonne grüßt, sich keinem Zephyr neigt;

Wie dann zu lichtern Dämmerungen

Der Geist der Blume durchgedrungen,

Im Schöpfers-Angesichte schwebt,

Sich höher, immer höher hebt,

Und zwischen Engeln einst im Paradiese lebt«;
[19]

Dem Dichter, dessen holde Klage,

Durch Hoffnung großer Seligkeit,

Mich so zum bangen Sterbetage

Der besten Mutter eingeweiht;

Dem will ich, voll von zärtlichem Entzücken,

Die Erstlinge des Frühlings pflücken,

Und singend ihm sein Fest mit jungen Veilchen schmücken.

Fußnoten

1 Wenige Wochen, nachdem meine Freundinn das vorstehende Lied erhalten hatte, starb ihre Mutter.


Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 18-20.
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