Dreiunddreißigster oder XXV. Trinitatis-Sektor

[294] Große Aloe-Blüten der Liebe: oder das Grab – der Traum – die Orgel nebst meinem Schlagfluß, Pelzstiefel und Eis-Liripipium


In Gustav rückten die höchsten Lichter aus des Freundes Bild langsam in das der Geliebten über. Jetzt trat erst ihr Gesicht, das am Totenbette ewige Strahlen in ihn geworfen hatte, aus dem Zypressen-Schatten vor. Die einsame Pyramide stand erhaben als Wach-Engel neben dem Begrabnen. Er trug sich hinauf, mit Schmerzen, aber mit sanftern; er hatte nun doch den unbeschreiblich süßen Trost, den Menschen in der Erde nie gekränkt, und ihm oft verziehen zu haben; er wünschte, Amandus hätte seine Verzeihung noch öfter veranlasset; sogar dies deckte seinen wunden Busen mit warmem Troste zu, daß er jetzt ihn so liebe, so betrauere, ungesehen, unbelohnet.

Oben trat er noch in einige Leidens-Dornen, worüber man laut aufschreiet; aber bald flogen seine Augen sehnend auf der Licht-Brücke, die von einer Lampe aus Beatens Zimmer über den Garten zum Berg hinüberlief, gleich andern Phalänen ihren hellen Fenstern nach. Er sah nichts als bald das Licht, bald einen Kopf, der es verbauete; aber diesen Kopf schmückte er im seinigen schöner aus als irgendeine Frau den ihrigen. Er legte und lehnte sich, halb kniend und halb stehend, mit dem Blick gegen den langen[294] Lichtstrom zugewandt, an das Postement der Pyramide an. Müdigkeit und schlaflose Nächte hatten seine Tränen-Drüsen mit jenen drückenden und doch reizenden Tränen gefüllet, die oft ohne Anlaß und so bitter und so süß kurz vor Krankheiten oder nach Ermattungen ausströmen. – Dieselben Ursachen breiteten zwischen ihn und die äußere Welt gleichsam einen dunkeln Nebeltag oder Heerrauch; seine innere Welt hingegen wurde aus einer Federzeichnung ohne seine Anstrengung ein gleißendes Ölgemälde, dann ein musivisches, endlich eines in erhobner Arbeit – Welten und Szenen bewegten sich vor ihm auf und ab – endlich schloß der Traum die ganze nächtliche Außenwelt mit seinen Augenlidern zu und machte hinter ihnen eine neu geschaffne paradiesische auf; gleich einem Toten lag sein schlummernder Körper neben einem Grabmal und sein Geist in einer über den ganzen Abgrund hinüberreichenden Himmel-Au. Ich werde den Traum und sein Ende sogleich erzählen, wenn ich dem Leser die Person gezeigt habe, die den Traum zugleich verlängerte und endigte.

Nämlich Beata – kam. Sie konnte weder seine Wiederkunft noch seine letzte Station wissen. Die Nähe des Ottomarschen Leichenbegängnisses, die Entfernung Gustavs, dessen Bild seit dem letzten Auftritt tief in und gleichsam durch ihr Herz gepresset war, und die Entfernung des Sommers, der sein buntes blühendes Gemälde täglich um einige Zoll wieder zusammenrollte, alles das hatte sich in Beatens Brust zu einem drückenden Seufzer gesammelt, den das laute Jagdschloß mit seinen Dunstkreisen einklemmte und mit dem sie reinere Ätherkreise suchte, um ihn an einem Grabe auszuhauchen und aus ihm den Stoff zu neuen einzuatmen. – Schwärmerisches Herz! du treibest mit deinen fieberhaften Schlägen freilich dein Blut zu reißend um und spülest mit deinen Güssen Ufer, Blumen und Leben fort; aber dein Fehler ist doch schöner, als wenn du mit phlegmatischem Getriebe aus dem stehenden Wasser des Blutes bloßen Fett-Schlamm anlegtest!

Die Nachtwandlerin fuhr zusammen, da sie den schönen Schläfer sah; sie hatte im ganzen Garten, den sie in diesen stillen Minuten durchstrichen hatte, niemand vermutet und gefunden. Er lag auf einem Knie sanft zusammengesunken; sein blasses Gesicht[295] wurde von einem schönen Traum, vom aufgehenden Monde und von Beatens Auge angestrahlt. Ihr fiel nicht ein, daß er sich vielleicht nur schlafend stelle; sie zitterte also um einen halben Schritt näher, um erstlich gewiß zu sein, wers wäre, und um zweitens mit vollem Auge auf der Gestalt zu ruhen, vor der sie bisher nur vorüberstreichen durfte. Unter dem Anschauen wußte sie nicht recht, wann sie es eigentlich endigen sollte. Endlich wandte sie ihrem Paradiese den Rücken, nachdem sie noch einmal ganz an ihn getreten war; aber unter dem trägen Rückwärtsgehen fiel ihr (ohne Schrecken) ein: »Er wird doch nicht gar tot sein?« Sie kehrte also wieder um und behorchte seine wachsenden Atemzüge. Neben ihm lagen zwei spitze Steinchen, so groß wie mein Dintenfaß; sie bückte sich zweimal neben ihm nieder (sie wollt' es nicht auf einmal oder auch mit dem Fuße tun), um sie wegzunehmen, damit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele ....

Wahrhaftig ein Alphabet oder 23 Bogen sollt' ich mit diesem Auftritt vollzumachen haben; zum Glück geht er erst recht an, wenn er erwacht, und der Leser ist heute der glücklichste Mann ....

Sie war nun schon wie ein Veteran vertrauter mit der Gefahr und war so gewiß, er würde nicht erwachen, daß sie aufhörte, es zu befürchten, und beinahe anfing, es zu wünschen. Denn es fiel ihr ein: »die Nachtluft könnt' ihm schädlich sein.« – Es fiel ihr ferner ein, wie beide Freunde so erhaben nebeneinander ruhten; und ihr blaues Auge befreiete sich von einem Tautropfen, von welchem ich nicht weiß, ging er für das außer der Erde pochende oder für das in ihr stillstehende Herz herab. Endlich machte sie ernsthafte Anstalten abzugehen, um überhaupt in der Entfernung ihn durch ein Geräusch zu wecken und um ihren Rührungen ohne Furcht seines Erwachens nachzuhängen. Sie wollte bloß noch bei ihm vorbeigehen (denn 41/2 Schritte stand sie ab), weil sie auf der andern Seite des Berges hinunter mußte (sie hätte denn umkehren wollen). Sein Lächeln verkündigte immer größere Entzückungen, und sie war freilich begierig, wie es noch auf seinem Gesichte ablaufen würde, aber sie mußte den lächelnden Träumer verlassen. Da sie also zwei zögernde Schritte sich ihm genähert hatte, um sich mehre von ihm zu entfernen: so fing auf einmal die[296] Orgel der einsamen Kirche von Ruhestatt, wo heute Ottomar begraben worden, mitten in der Nacht so ernst und klagend zu gehen an, als wenn der Tod sie spielte; und Gustavs Angesicht wurde plötzlich vom Widerschein eines innern Elysiums verklärt; und er richtete sich mit zugeschloßnen Augen auf, erhaschte schnell die Hand der erstarrenden Beata und sagte schlaftrunken zu ihr: »O nimm mich ganz, glückliche Seele, nun hab' ich dich, geliebte Beata, auch ich bin tot.«

Der Traum, der mit diesen Worten ausging, war der gewesen: Er sank in eine unabsehliche Aue nieder, die über schöne, aneinander gestellte Erden hinüberlief. Ein Regenbogen von Sonnen, die wie zu einer Perlenschnur aneinander gereihet waren, faßte die Erden ein und drehte sich um sie. Der Sonnenkreis sank untergehend dem Horizonte zu und auf dem Rande der großen runden Flur stand ein Brillanten-Gürtel von tausend roten Sonnen und tierliebende Himmel hatte tausend milde Augen aufgetan. – Haine und Alleen von Riesen-Blumen, die so hoch wie Bäume waren, durchzogen im durchsichtigen Zickzack die Aue; die hochstämmige Rose bewarf diese mit einem goldroten Schatten, die Hyazinthe mit einem blauen, und die zusammenrinnenden Schatten von allen bereiften sie mit Silberfarbe. Ein magischer Abendschimmer wallete wie ein freudiges Erröten zwischen den Schattenufern und durch die Blumenstämme über die Flur, und Gustav fühlte, das sei der Abend der Ewigkeit und die Wonne der Ewigkeit. – Beglückte Seelen tauchten sich, weit von ihm und näher den weggleitenden Sonnen, in die zusammengehenden Abendstrahlen und ein gedämpftes Jauchzen stand verhallend wie eine Abendglocke über dem himmlischen Arkadien; – nur Gustav lag verlassen im Silberschatten der Blumen und sehnte sich unendlich, aber keine jauchzende Seele kam herüber. Endlich dufteten in der Luft zwei Leiber in eine dünne Abendwolke auseinander und das fallende Gewölk entblößte zwei Geister, Beata und Amandus – dieser wollte jene in Gustavs Arme führen, aber er konnte nicht in den Silberschatten hinein – Gustav wollte ihr in die ihrigen entgegenfallen, aber er konnte nicht aus dem Silberschatten hinaus. – »Ach, du bist nur noch nicht gestorben,« rief Amandus'[297] Seele, »aber wenn die letzte Sonne hinunter ist: so wird dein Silberschatten über alles fließen und deine Erde von dir flattern und du wirst an deine Freundin sinken« – eine Sonne um die andre zerging – Beata breitete ihre Arme hernieder – die letzte Sonne versank – ein Orgelton, der Welten und ihre Särge zerzittern konnte, klang wie ein fliegender Himmel herüber und lösete durch sein weites Beben die Faser-Hülle von ihm ab und über den ausgebreiteten Silberschatten wehte ein Entzücken und hob ihn empor und er nahm – – die wahre Hand von Beata und sagte, indem er wachte und träumte und nicht sah, die Worte zu ihr: »O nimm mich ganz, glückliche Seele, nun hab' ich dich, geliebte Beata, auch ich bin tot.« Ihre Hand hielt er so fest wie der Gute die Tugend. Ihr versuchtes Loswinden zog ihn endlich aus seinem Eden und Traum; seine glücklichen Augen gingen auf und vertauschten die Himmel; vor ihnen stand erhaben der weiße, vom Monde überschwemmte Grund und die Aue des Parks und die tausend zu Sternen verkleinerten Sonnen und die geliebte Seele, die er vor dem Untergange aller Sonnen nicht erreichen konnte. – Gustav mußte denken, der Traum sei aus seinem Schlafe ins Leben übergezogen und er habe nicht geschlafen; sein Geist konnte die großen steilen Ideen vor ihm nicht bewegen und nicht vereinigen. »In welcher Welt sind wir?« fragte er Beata, aber in einem erhabnen Tone, der beinahe die Frage beantwortete. Seine Hand war mit ihrer ziehenden fest verwachsen. »Sie sind noch im Traume«, sagte sie sanft und bebend. Dieses Sie und die Stimme stieß auf einmal seinen Traum in den Hintergrund aus der Gegenwart zurück; aber der Traum hatte ihm die Gestalt, die an seiner Hand kämpfte, lieber und vertrauter gemacht und die geträumte Unterredung wirkte in ihm wie eine wahre und sein Geist war noch eine erhaben-fortbebende Saite, in die ein Engel seine Entzückung gerissen – und da jetzt drüben im öden Tempel die Orgel durch neues Ertönen die Szene über den irdischen Boden erhob, wo beide Seelen noch waren; da Beatens Stellung schwankte, ihre Lippe zitterte, ihr Auge brach: – so war ihm wieder, als würde der Traum wahr, als zögen die großen Töne ihn und sie aus der Erde weg ins Land der Umarmung hinauf,[298] sein Wesen kam an alle seine Grenzen – »Beata«, sagt' er zu der schönen, an bekämpfenden Empfindungen dahinsterbenden Gestalt, »Beata, wir sterben jetzt – und wenn wir tot sind, so sag' ich dir meine Liebe und umarme dich – der Tote neben uns ist mir im Traum erschienen und hat mir wieder deine Hand gegeben.« ... Sie suchte auf das Grab desselben aufzusinken – aber er hielt den fallenden Engel in seinen Armen auf – er ließ ihr entschlummertes Haupt unter seines fallen und unter ihrem stockenden Herzen glühten die Schläge des seinigen – es war eine erhabne Minute, als er, die Arme um eine schlummernde Seligkeit gelegt, einsam ansah die auf der Erde schlafende Nacht, einsam anhörte die allein redende Orgel, einsam wachte im Kreise des Schlafs ....

Die erhabne Minute verging, die seligste fing an: Beata erhob ihr Haupt und zeigte Gustav und dem Himmel auf dem zurückgebognen Angesicht das irre überweinte Auge, die erschöpfte Seele, die verklärten Züge und alles, was die Liebe und die Tugend und die Schönheit in einen Himmel dieser Erde drängen können. – – Da kam der überirdische durch tausend Himmel auf die Erde fallende Augenblick hier unten an, der Augenblick, wo das menschliche Herz sich zur höchsten Liebe erhebt und für zwei Seelen und zwei Welten schlägt – der Augenblick vereinigte auf ewig die Lippen, auf denen alle Erdenworte erloschen, die Herzen, die mit der schweren Wonne kämpften, die verwandten Seelen, die wie zwei hohe Flammen ineinanderschlugen ....

– Begehrt kein Landschaftstück der blühenden Welten von mir, über welche sie in jenem Augenblicke hinzogen, den kaum die Empfindung, geschweige die Sprache fasset. Ich könnte ebensogut einen Schattenriß, von der Sonne geben. – Nach jenem Augenblicke suchte Beata, deren Körper schon unter einer großen Träne wie ein Blümchen unter einem Gewittertropfen umsank, sich aufs Grab zu setzen; sie bog ihn sanft mit der einen Hand von sich, indem sie ihm die andre ließ. Hier schloß er seine weite Seele auf und sagte ihr alles, seine Geschichte und seinen Traum und seine Kämpfe. Nie war ein Mensch aufrichtiger in der Stunde seines Glücks als er; nie war die Liebe blöder nach der Minute der Umarmung als hier. Bei Beaten schwamm, wie allemal, das[299] Freudenöl dünn auf dem Tränenwasser; ein vor ihr stehendes Leiden sah sie mit trocknen festen Blicken an, aber kein erinnertes und keine vor ihr stehende Freude. Sie hatte jetzo kaum den Mut zu reden, kaum den Mut, sich zu erinnern, kaum den Mut, entzückt zu sein. Zu ihm hob sie das scheue Auge nur hinauf, wenn der Mond, der über eine durchbrochne Treppe von Wolken stieg, hinter einem weißen Wölkchen verschattet stand. Aber als eine dickere Wolke den Mond-Torso begrub: so endigten beide den schönsten Tag ihres Lebens, und unter ihrer Trennung fühlten sie, daß es für sie keine andre gebe. –

Im einsamen Zimmer konnte Beata nicht denken, nicht empfinden, nicht sich erinnern; sie erfuhr, was Freudentränen sind; sie ließ sie strömen, und als sie sie endlich stillen wollte, konnte sie nicht, und als der Schlaf kam, ihre Augen zu verschließen, lagen sie schon unter himmlischen Tropfen bedeckt. – –

Ihr unschuldigen Seelen, zu euch kann ich besser wie zu Verstorbnen sagen: schlaft sanft! Gemeiniglich gefallen uns, nämlich mir und dem Leser, die Bravour- und Force-Rollen der Romanen-Liebhaber schlecht, weil entweder die eine Person nicht würdig ist, solche Lichtwolkenbrüche der Freude zu genießen, oder die andere, sie zu veranlassen; hier aber haben wir beide gegen nichts etwas .... Wollte nur der Himmel, ihr Liebenden, euer lahmer Lebensbeschreiber könnte seine Feder zu einem Blanchards-Flügel machen und euch damit aus den Grubenzimmerungen und Grubenwettern des Hofes in irgendeine freie Pappelinsel tragen, sie sei im Süd- oder im Mittelmeer! – Da ichs nicht kann, so denk' ich mirs doch; und sooft ich nach Auenthal oder Scheerau gehe, so zeichne ich mir es aus, wie viel ich euch schenkte, wenn ihr in jenem Pappel- und Rosental, das ich in Wasser gefasset hätte, ohne den deutschen Winter, unter ewigen Blüten, ohne die Schneide-Gesichter der moralischen Febrikanten, ohne ein gefährlicheres Murmeln als das der Bäche, ohne festere Verstrickungen als die in verwachsenen Blumen und ohne den Einfluß härterer Sterne als der friedlichen am Himmel, in schuldloser Wonne und Ruhe Atem holen dürftet – nicht zwar immerfort, aber doch die paar Blumenmonate eurer ersten Liebe hindurch.[300]

Das ist aber unmenschlich schwer, und ich bin am wenigsten der Mann dazu. Ein solches Glück ist schwer zu steigern und eben darum schwer zu halten. Werde lieber hier ein Wort vom Glücke eines schreibseligen Kränklings vorzubringen erlaubt, der doch auch eines haben will und der eben der Beschreiber der vorigen Seligkeit selber ist, ich meine nämlich ein Wort von meiner kranken Persönlichkeit. Vom Kuhstall bin ich wieder herauf und von der Lungensucht glücklich genesen; nur der Schlagfluß setzet mir seitdem mit Symptomen zu und will mich erschlagen wie einen Maulwurf, gerade indem ich, wie letzter seinen Hügel, so den babylonischen Turm meines gelehrten Ruhms aufwerfe. Zum Glück geb' ich mich gerade mit Hallers großer und kleiner Physiologie ab und mit Nikolais materia medica und mit allem Medizinischen, was ich geborgt bekomme, und kann also mit meinen medizinischen Kenntnissen auf den Schlagfluß ein tüchtiges Kartätschenfeuer geben. Das Feuer mach' ich an meinen Füßen, indem ich das lange Bein in einen großen Pelzstiefel wie eine Vorhölle setze, und das zusammengegangne in ein Pelz-Schnürstiefelchen: ich habe die ältesten Mond-Doktores und Pestilenziarien auf meiner Seite, wenn ich mir einbilde, daß ich gleich einem Demokraten durch diese Stiefel – und ein breites Senfpflaster, womit ich wie mehre Gelehrte meine Füße besohle – die materia peccans aus den obern Teilen in die niedern heruntertreiben könne. Gleichwohl geh' ich weiter, wenns gefriert. Ich schabe und kerbe mir nämlich eine hohe Eismütze1 aus und denke unter der gefrornen Schlafmütze: alsdann wirds kein Wunder sein, wenn die Apoplexie und ihre Halbschwester, die Hemiplexie – durch mich angefallen von oben und unten, am einen Pol durch den heißen Fuß-Sokkus, am andern durch den Eis-Knauf oder die gefrorne Marterer-Krone – hingeht, wo sie herkam, und mich der Erde schenkt, deren einer Pol gleichfalls unten Sommer hat, wenn der andre oben Winter ..... Der Leser werfe aber einmal von guten Büchern ein philanthropinisches Auge auf uns, deren Verfasser: wir Verfasser strengen uns an und verfertigen Fibeln, Mordpredigten, periodische[301] Blätter oder Reinigungen, Ausschnitte und andern aufklärenden Henker; aber unsern Madensack zerzausen und schaben wir ja darüber entsetzlich ab – und doch meints kein Teufel ehrlich mit uns. So steh' ich und die ganze schreibende Innung aufrecht da und verschießen gern lange Strahlen über die ganze Halbkugel (denn mehr ist auf einmal von Welt- und andern Kugeln nicht zu beleuchten, und dem ganzen Amerika fehlen unsre Kiele), indes wir doch den ersten Christen gleichen, die das Licht, womit sie, in Pech und Leinwand eingeklemmt, als lebendige Pechfackeln über Neros Gärten schienen, zugleich mit ihrem Fett und Leben von sich gaben ....

»Und hier« – sagen Romanen-Manufakturisten – »erfolgte ein Auftritt, den der Leser sich denken, ich aber nicht beschreiben kann.« Das kommt mir viel zu dumm vor. Ich kann es auch nicht beschreiben, beschreib' es aber doch. Haben denn solche Autoren so wenig Rechtschaffenheit, daß sie bei einer Szene, nach der die Leser schon im voraus geblättert haben, z.B. bei einem Todesfall, auf den alle, Eltern und Kinder, lauern wie auf einen Lehnfall oder Hängtag, vom Sessel aufspringen und sagen: das macht selber? Es ist so, als wenn die Schikanedrische Truppe vor den verzerrendsten Auftritten des Lears an die Theater-Küste ginge und das Publikum ersuchte, es möchte sich Lears Gesicht nur denken, sie ihres Orts könnte es unmöglich nachmachen. – Wahrhaftig was der Leser denken kann, das kann ja der Autor – beim vollen Puls aller seiner Kräfte – sich noch leichter denken und es mithin schildern; auch wird des Lesers Phantasie, in deren Speichen einmal die vorhergehenden Auftritte eingegriffen und die sie in Bewegung gesetzt, leicht in die stärkste durch jede Beschreibung des letzten Auftritts hineinzureißen sein – außer durch die jämmerliche nicht, daß er nicht zu beschreiben sei.

Von mir hingegen sei man versichert, ich mache mich an alles. Ich redete es daher schon auf der Ostermesse mit meinem Verleger ab, er sollte sich um einige Pfund Gedankenstriche, um ein Pfund Frage- und Ausrufungszeichen mehr umtun, damit die heftigsten Szenen zu setzen wären, weil ich dabei um meinen apoplektischen Kopf mich so viel wie nichts bekümmern würde.

1

Ausgehöhltes Eis wird bekanntlich auf den Kopf gelegt, wenn Kopfschmerzen, Schwindel, Tollheit darin sind.

Quelle:
Jean Paul: Die unsichtbare Loge, in: Jean Paul: Werke. Band 1, München 1970, S. 294-302.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die unsichtbare Loge
Die Unsichtbare Loge; Eine Lebensbeschreibung (1)
Die Unsichtbare Loge (2); Eine Lebensbeschreibung
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.1, Die unsichtbare Loge
Die unsichtbare Loge.
Die Unsichtbare Loge. Text der Erstausgabe von 1793 mit den Varianten der Ausgabe von 1826

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon