Fünfunddreißigster oder Andreas-Sektor

[310] Tage der Liebe – Oefels Liebe – Ottomars Schloß und die Wachsfiguren


Ich tunke heute schon wieder in mein biographisches Dintenfaß, weil ich nunmehr mit meinem Gebäude bald an die Gegenwart stoße – am heiligen Weihnachtfeste hoff' ich nach zu sein –; ferner weil heute Andreastag ist und weil mein Hausherr unter dem Geschrei seiner Kinder einen Birkenbaum in die Stube und in einen alten Topf eingestellt hat, damit er zu Weihnachten die silbernen Früchte trage, die man ihm anbindet. Über so etwas vergess' ich Gerichttage und Termine.

Gustav wachte am Morgen nach der Liebeerklärung, nicht aus seinem Schlafe – denn darein konnte nach diesem Königschuß im Menschenleben nur ein menschlicher Dachs oder eine Dächsin fallen –, sondern aus seinem brausenden Freuden-Ohrenklingen auf. Entzückungen zogen im Ringeltanz um sein inneres Auge, und sein Bewußtsein langte kaum zu seinem Genießen zu; welcher Morgen! In einem solchen Brautschmuck trat die Erde nie[310] vor ihn. Es gefiel ihm alles, sogar Oefel, sogar das Oefelsche Prahlen mit Beatens Liebe. Das Schicksal hatte heute – den Verlust seiner Liebe ausgenommen – keine giftige Spitze, keinen eiternden Splitter, den er nicht gleichgültig in seine von der ganzen Seligkeit bewohnte und gespannte Brust eingelassen hätte. So ersetzt oft die höchste Wärme die höchste Kälte oder Apathie; und unter der Täucherglocke einer heftigen Idee – sei es eine fixe oder eine leidenschaftliche oder eine wissenschaftliche – stecken wir beschirmt vor dem ganzen äußern Ozean.

Beaten gings ebenso. Diese sanfte fortvibrierende Freude war ein zweites Herz, das ihre Adern füllte, ihre Nerven beseelte und ihre Wangen übermalte. Denn die Liebe steht – indes andre Leidenschaften nur wie Erdstöße, wie Blitze an uns fahren – wie ein stiller durchsichtiger Nachsommertag mit ihrem ganzen Himmel in der Seele unverrückt. Sie gibt uns einen Vorschmack von der Seligkeit des Dichters, dessen Brust ein fortblühendes, tönendes, schimmerndes Paradies umfängt und der hineinsteigen kann, indes sein äußerer Körper das Eden und sich über polnischen Kot, holländischen Sumpf und siberische Steppen trägt. –

O ihr Wollüstlinge in Residenzstädten! wo reicht euch die Gegenwart nur eine solche Minute, als hier die Vergangenheit meinem Paare ganze Tage vorsetzt; euch, deren harte Herzen vom höchsten Feuer der Liebe, wie der Demant vom Brennspiegel, nur verflüchtigt, aber nicht geschmolzen werden?

Aber wie Abendrot am Himmel so umherfließet, daß es die Wolken des Morgenrots besäumt: so war auf Beatens Wangen neben dem Rot der Freude auch das der Schamhaftigkeit – wiewohl nicht länger, als bis des Geliebten Gestalt, wie ein Engel, durch ihren Himmel flog. – Beide sehnten sich, einander zu sehen; beide fürchteten sich, von der Residentin gesehen zu werden; die Entdeckung und noch mehr die Beurteilung ihrer Empfindungen hätten sie gern gemieden. Es gibt einen gewissen stechenden Blick, der weiche Empfindungen (wie der Sonnenblick das Alpen-Tierchen Sure) zersetzt und umbringt; die schönste Liebe schlägt ihre Blumenblätter zusammen vor dem Gegenstande selber; wie sollte sie den sengenden Hofblick ausdauern?[311]

Mit Einsicht ergreift hier der Lebensbeschreiber diese Gelegenheit, die Ehen der Großen mit zwei Worten zu loben; denn er kann sie mit den unschuldigen Blumen vergleichen. Wie Florens bunte Kinder bedecken Große ihre Liebe mit nichts – wie sie gatten sie sich, ohne sich zu kennen oder zu lieben – wie Blumen sorgen sie für ihre Kinder nicht – sondern brüten ihre Nachkommen mit der Teilnahme aus, womit es ein Brütofen in Ägypten tut. Ihre Liebe ist sogar eine dem Fenster angefrorne Blume, die in der Wärme zerrinnt. Unter allen chymischen und physiologischen Vereinigungen hat also bloß eine unter Großen das Gute, daß die Personen, die miteinander aufbrausen und Ringe wechseln, eine entsetzliche Kälte verbreiten: so findet man die nämliche Merkwürdigkeit und Kälte bloß bei der Vereinigung des mineralischen Laugensalzes und der Salpetersäure, und Herr de Morveau sagt aus Einfalt, es fall' auf. – –

Da Beata sich so sehr sehnte, ihren und meinen Helden zu sehen: so – ging sie, um ihren Wunsch zu verfehlen, einige Tage nach Maußenbach zu ihrer Mutter. Ich will ihr Schirmvogt sein und für sie reden. Sie tat es, weil sie ihm niemals anders aufstoßen wollte als von ungefähr; bei der Residentin aber wärs' allemal mit Absicht gewesen. Sie tat es, weil sie sich gern selber kränkte und wie Sokrates den Becher der Freude erst weggoß, eh' sie ihn ansetzte. Sie tat es, weswegen es selten eine täte – um ihrer Mutter um den Hals zu fallen und ihr alles zu sagen. Endlich tat sie es auch, um zu Hause das Porträt Gustavs, das der Alte versteigert hatte, aufzusuchen.

Ich erfuhr alles schon am Tage ihrer Rückreise, da ich in Maußenbach als eine ganze adlige Rota anlangte, um eine arme Wirtin weniger zu bestrafen als zu befragen, weil sie – wie man in der Pariser Oper für wichtige Rollen die Spieler doppelt und dreifach in Bereitschaft hält – die erhebliche Rolle ihres Ehemannes anstatt mit einem Double sogar mit zwölf Leuten aus der Gegend vorsichtig besetzt hatte, damit fortgespielet würde, sooft er selber nicht da wäre. Und hier war es, wo ich abnehmen konnte, wie wenig mein Herr Gerichtprinzipal zum Ehebruch geneigt sei, sondern vielmehr zur Tugend; er war ordentlich froh, daß das[312] ganze Flöz von eingepfarrten Ehebrechern gerade vor seinem Ufer vorbeikam und daß er das Werkzeug wurde, womit die Gerechtigkeit diese geheime Gesellschaft heimsuchte und auswichste. Daher suchte er in der Wirtin wie in Jöchers Gelehrten-Lexikon mit Lust nach den Namen wichtiger Autoren, und sie war seinem tugendhaften Ohr ein Homer, der die verwundeten Helden sämtlich bei Namen absingt; daher schenkte er ihr aus Mitleiden, weil sie gar nichts hatte, seine Geldstrafe ganz; aber die ehebrechende Union und Truppe wurde unter die Stampfmühle und in die Kelter gebracht, oder ihr Saugwerke und Pumpenstiefel angelegt. –

Also in Maußenbach beim Auspressen des ehebrechenden Personale erzählte mir die Gerichtprinzipalin, was ihr die Tochter erzählet – um mich zu bitten, daß ich als voriger Mentor des Liebhabers das Paar auseinanderlenken sollte, weil ihr Mann die Liebe nicht litte. Ich konnte ihr nicht sagen, daß ich über der Biographie vom Paare und ihrer eignen wäre und daß die Liebe das Heftpflaster und der Tischlerleim sei, der die ganze Lebensbeschreibung und das Paar verkittete, und ohne welchen mein ganzes Buch in Stücken zerfiele, daß ich also die Jenaer Rezensenten beleidigen würde, wenn ich ihm seine Liebe nehmen wollte. – Aber so viel konnt' ich ihr wohl sagen, es sei unmöglich, denn die Liebe eines solchen Paars sei feuerfest und wasserdicht. Ich kam ihr mit meinem Gefühl ein wenig einfältig vor; denn sie dachte an ihre eigne Erfahrung. Ich fügte verschlagnerweise hinzu: »das Falkenbergische Haus hebe sich seit einigen Jahren und tue hübsche Kapitalien aus.« Sie antwortete mir bloß darauf: »zum Glück erfahr' es ihr Mann nie« (denn eine Menge Geheimnisse sagte sie allen Menschen, aber nicht ihrem Manne) – »denn der habe ihrer Beata schon eine ganz andre Partie zugedacht.« Mehr konnt' ich nicht erforschen.

– Aber eine hübsche Suppe wird da für den Helden nicht bloß, sondern auch für den Lebensbeschreiber eingebrockt; denn letzter hat am Ende doch das meiste wegen der Schilderung heftiger Auftritte auszubaden und muß oft an solchen Sturm-Sektoren ganze Wochen verhusten. Ich wills dem Leser nur aufrichtig vorausgestehen:[313] ein solcher Schwaden und Sturmwind ist schon am vorigen Freitag über das neue Schloß gesauset und am Sonnabend durch Auenthal und meine Stube gefahren, wo Gustav zerstöret zu mir kam und bei mir Nachricht einzog, ob die Rittmeisterin von Falkenberg, die mit ihrer Mitteltinten-Katze meinen ersten Sektor einnimmt und die bekanntlich Gustavs Mutter ist, ob die – sie wirklich sei .... Inzwischen wird doch mutig fortgeschritten; denn ich weiß auch, daß, wenn ich mein biographisches Eskurial und Louvre ausgebauet und endlich auf dem Dache mit der Baurede sitze, ich etwas in die Bücherschränke geliefert habe, dergleichen die Welt nicht oft habhaft wird und was freilich vorübergehende Rezensenten reizen muß, zu sagen: »Tag und Nacht, Sommer und Winter, auch an Werkeltagen sollte ein solcher Mann schreiben; wer kann aber wissen, obs keine Dame ist?«

Nun fället also auf allen nächsten Blättern das Wetterglas von einem Grad zum andern, eh' der gedrohte Sturmwind emporfährt. Wie Gustav die abwesende Beata liebte, errät jeder, der empfunden hat, wie die Liebe nie zärtlicher, nie uneigennütziger ist, als während der Abwesenheit des Gegenstandes. Täglich ging er zum Grabe des Freundes wie zum heiligen Grabe, an den Geburtort seines Glücks, mit einem seligen Beben aller Fibern; täglich tat ers um eine halbe Stunde später, weil der Mond, das einzige offne Auge bei seiner Seelen-Vermählung, täglich um eine halbe später kam. Der Mond war und wird ewig die Sonne der Liebenden sein, dieser sanfte Dekorationmaler ihrer Szenen: er schwellet ihre Empfindungen wie die Meere an und hebt auch in ihren Augen eine Flut. – Herr von Oefel warf den Blick des Beobachters auf Gustav und sagte: »Die Residentin hat aus Ihnen gemacht, was ich aus dem Fräulein von Röper.« Hier rechnete er meinem Helden die ganze Pathognomik der Liebe vor, das Trauern, Schweigen, Zerstreuetsein, das er an Beaten wahrgenommen und woraus er folgerte, ihr Herz sei nicht mehr leer – er sitze drin, merk' er. Mit Oefeln mochte eine umgehen, wie sie wollte, so schloß er doch, sie lieb' ihn sterblich. – Gab sie sich scherzend, erlaubend, zutraulich mit ihm ab, so sagte er ohnehin: »Es ist nichts gewisser, aber sie sollte mehr an sich halten«; – bediente sie sich[314] des andern Extrems, würdigte sie ihn keines Blicks, keines Befehls, höchstens ihres Spottes und versagte sie ihm sogar Kleinigkeiten, so schwor er. »unter 100 Mann woll' er den herausziehen, den eine liebe: es sei der, den sie allein nicht ansehe.« – Schlug eine die Mittelstraße der Gleichgültigkeit ein, so bemerkter: »die Weiber wüßten sich so gut zu verstellen, daß sie nur der Satan oder die Liebe erraten könnte.« Es war ihm unmöglich, so viele Weiber, die in die Rotunda seines Herzens wollten, darin unterzubringen; daher steckt' er den Überschuß sozusagen in den Herzbeutel, worin das Herz auch hängt, wie in einen Verschlag hinein – mit andern Worten, er verlegte den Schauplatz der Liebe vom Herzen aufs Papier und erfand eine dem Brief- und Papier-Adel ähnliche Brief- und Papier-Liebe. Ich habe viele solche chiromantische Temperamentblätter von ihm in Händen gehabt, wo er wie Schmetterlinge bloß auf – poetischen Blumen Liebe treibt – ganze Rotuln von solchen Madrigalen und anakreontischen Gedichten an Damen, welche (die Madrigale, nicht die Damen) sowohl die Süßigkeit als die Kälte der Geleen haben. So ist der Herr von Oefel und fast die ganze belletristische Kompagnie.

Da man nur vor Leuten, vor denen man nicht rot wird, sich selber lobt, vor gemeinen, vor Bedienten, vor Weib und Kindern; und da ers gegen Gustav im Punkte der Liebe tat: so war seine Eitelkeit einer lauteren Rache wert, als Gustav an ihm nahm; dieser malte sich bloß im stillen vor, wie glücklich er sei, daß er, indes andre sich täuschten oder sich bestrebten, das Herz seiner Geliebten zu haben, zu sich zuversichtlich sagen könne: »Sie hat dirs geschenkt.« Aber diese außergerichtliche Schenkung dem Nebenbuhler und Botschafter zu notifizieren, oder überhaupt jemanden, das verbot ihm nicht bloß seine Lage, sondern auch sein Charakter; nicht einmal mir eröffnete er sie eher, als bis er mir ganz andre Dinge zu eröffnen und zu verbergen hatte. – Ich weiß recht gut, daß diese Diskretion ein Fehler ist, dem neuere Romane nicht ungeschickt entgegenarbeiten; hat darin ein Romanheld oder Romanschreiber ein Herz bei einer Romanheldin erstanden (und das gibt sie so leicht her, als säß' es vorn wie ein Kropf daran): so zwingt der Held oder Schreiber (die meistens[315] einer sind) die Heldin, das Herz heraus- und hineinzutun wie der Stockfisch seinen Magen – ja der Held holet selber das Herz aus der verhüllenden Brust und weiset den eroberten Globus über zwanzig Personen, wie der Operateur ein geschnittenes Gewächs – handhabt den Ball wie eine Lorenzodose – führt ihn ab wie einen Stockknopf und versteckt das fremde Herz so wenig wie das eigne. Ich gesteh' es, daß die Züge solcher Göttinnen von den Schreibern aus keinen schlechtern Modellen zusammengetragen sein können, als die waren, wornach die griechischen Künstler ihre Göttinnen oder die römischen Maler ihre Madonnen zusammenschufen, und man müßte wenig Weltkenntnis haben, wenn man nicht sähe, daß die Fürstinnen, Herzoginnen etc. in unsern Romanen sicher nicht so gut getroffen wären, wenn nicht dem Autor an ihrer Stelle Stuben- und noch andere Mädchen gesessen hätten; und so, indem sich der Verfasser zum Herzog und sein Mädchen zur Fürstin machte, war der Roman fertig und seine Liebe verewigt, wie die der Spinnen, die man gleichfalls in Bernstein gepaaret und verewigt antrifft. Ich sage dies alles, nicht um meinen Gustav zu rechtfertigen, sondern nur zu entschuldigen; denn diese Romanschreiber sollten doch auch bedenken, daß die angenehme Sittenroheit, deren Mangel ich an ihm vergeblich zu bedecken suche, auch bei ihnen fehlen würde, wenn sie so wie er mehr durch Erziehung, Umgang, zu feines Ehrgefühl und Lektüre (z.B. Richardsons) wären verdorben worden.

Ich schäme mich, daß Gustav eine solche Ignoranz in der Liebe hatte, daß er in einigen der besten Romanen nachsehen wollte, ob er jetzt einen Liebebrief an Beata zu schreiben habe – ja daß ihre Abwesenheit ihn in Sorgen wegen ihrer Gesinnung und in Verlegenheit über sein Betragen setzte. Aber die Stärke der Gefühle macht so gut die Zunge arm und schwer als der Mangel derselben. Zum Glück hüpfte ihm oft die kleine Laura – nicht im Park (denn nichts macht mehr Dinten- und Kaffeekleckse auf eine schöne Haut als die schöne Natur), sondern unter vier Mauern – entgegen, und die Schülerin ersetzte die Lehrerin.

Aber eine auferstandene höhere Gestalt betrat jetzo das Land seiner Liebe. Ottomar, von dessen beidlebigem Körper – als[316] Amphibium zweier Welten – bisher so viel Redens in Vorzimmern gewesen, trat damit selber im Zimmer der Residentin auf. Sein erstes Wort zu dieser war: »sie mög' ihm verzeihen, daß er nicht eher in ihrem Vorzimmer erschienen – er wäre beerdigt worden und hätte nicht eher gekonnt. Aber er sei der erste, der nach dem Tode so bald ins Elysium« (hier sah er schmeichelhaft an den Landschaftstücken der Tapeten herum) »und zu den Göttern käme.« Das war bloß satirische Bosheit. Bekanntlich ists schon ein bewährter Paragraph in der Ästhetik aller Elegants, daß sie – und ist mein Bruder in Lyon anders? – den Schmeicheleien, die sie den Weibern sagen müssen, den Ton und die Miene der Aufrichtigkeit völlig zu benehmen haben, womit die antiken Stutzer sonst ihre Fleuretten versahen. In diese Spott-Schmeicheleien kleidete er seinen Unmut über Weiber und Höfe. Die Weiber brachten ihn auf, weil sie – wie er glaubte – in der Liebe nichts suchten als die Liebe1, indes der Mann damit noch höhere, religiöse, ehrgeizige Empfindungen zu verschmelzen wisse – weil ihre Regungen nur Eilboten und jede weibliche Hitze nur eine fliegende wäre und weil sie, wenn Christus selber vor ihnen dozierte, mitten aus den größten Rührungen auf seine Weste und seine Strümpfe gucken würden. Die Höfe erzürnten ihn durch ihre Gefühllosigkeit, durch seinen Bruder, durch den Volkdruck, dessen Anblick ihn mit unüberwindlichen Schmerzen erfüllte. Daher war seine Reisebeschreibung anderer Länder eine Satire seines eignen, und wie die französischen Schriftsteller unter den Sultanen und Bonzen des Orients einige Zeit die des Okzidents abmalten und abstraften: so war in seinen Erzählungen der Süden der Lehnträger und Pasquino des Nordens. Die sanfte Menschen-Duldung, die er sich in seinem letzten Briefe vorgesetzt, hielt er nicht länger, als bis er ihn gestippt und gesiegelt hatte – oder solang' er spazieren ging – oder während der sanften Nerven-Herabschraubung nach einem Weinrausch. Auch war ihm wenig daran[317] gelegen, von denen geachtet zu werden, die er selber nicht achtete; mitten unter großen philosophischen, republikanischen Ideen oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart unsichtbar und verächtlich, jetzt zumal, wo die künftige Welt oder die künftigen Welten die dünne verfinsterte, auf der er nach jenen hinsah, wie man durch das geschwärzte Sehrohr keinen Gegenstand erblickt als die Sonne. So brachte er z.B. fünf groteske Minuten bei der Residentin damit zu, daß er – da den eigentlichen Körper der Seele nur Gehirn und Rückenmark und Nerven ausmachen – den vernünftigsten Hofdamen und den schönsten Hofherrn die Haut abschund in Gedanken, ihnen ferner die Knochen herauszog und das wenige Fleisch und Gedärm, was sie umlag, wegdachte, bis nichts mehr auf der Ottomane saß als ein Mark-Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran. Darauf ließ er diese umgekehrten Klöppel oder aufgerichteten Schwänze gegeneinander anlaufen und agieren und Fleuretten sagen und lachte innerlich über die gescheitesten Leute von Geburt, die er selber skalpiert und abgeschuppet hatte. Das nennen viele das philosophische Pasquill.

Aus dem neuen Schloß eilt' er ins alte zu Gustav, der ihn zu fliehen schien. Aber auf welche Art er mit Gustav schon längst bekannt geworden, wie er ihm den ersten Brief geben können, warum er wie Gustav (noch jetzt) sich an einen unbekannten Ort regelmäßig verfügte, warum er von ihm geflohen wurde, und was sie miteinander im alten Schlosse für ein dreistündiges Gespräch gehalten, das sich mit der wärmsten Liebe in beiden Herzen schloß – darüber deckt sich noch ein langer Schleier, den meine Mutmaßungen nicht aufheben können; denn ich habe allerdings verschiedene, aber sie klingen so außerordentlich, daß ichs nicht wage, sie dem Publikum eher vorzulegen, als bis ich sie besser rechtfertigen kann. Jede Ader, jeder Gedanke und Herz und Auge wurden in Gustav weiter und vergrößerten sich für eine neue Welt, da er mit dem genialen Menschen sprach. O was sind die Stunden der seelenverwandtesten Lektüre, selbst die Stunden der einsamen Emporhebung, gegen eine Stunde, wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Ideale verdoppelt und deine Gedanken verkörpert? –[318]

Gustav nahm sich vor, sich aus dem Schlosse zu Ottomar zu begeben, um es zu vergessen, wer noch weiter darin fehle. Es war ein stummer ausgewölkter Abend, ein Schatte nicht des schon weit weggezognen Sommers, sondern des Nachsommers, als Gustav aufbrach, nachdem er vergeblich auf die Rückkehr und Gesellschaft des Doktors gewartet hatte. In der leeren Luft, durch die keine gefiederte Töne, keine klopfende Herzen mehr flogen, zeigte sich nichts Lebendiges als die ewige Sonne, die kein Erdenherbst bleicht und fället und die ewig offen unsern Erdball immerfort ansieht, indes unter ihr tausend Augen sich öffnen und tausend sich schließen. An einem solchen Abend springt der Verband von alten Wunden auf, die wir in uns tragen. Gustav kam still im Dorfe an; am Eingange des Gartens, der das Ottomarsche Schloß halb umlief, stand ein Knabe, der die erhabene Melodie eines erhabenen Lieds2 auf einer Drehorgel dem Gehör eines Kanarienvogels vordrehte, der sie singen lernen sollte. »Ich krieg' schon viel, wenn ers pfeifen kann«, sagte der winzige Organist. An einen Baum gelehnt stand Ottomar der weiten Abendröte und diesen Abendtönen gegenüber; die Sonne außer ihm ging, hinter einer bleifarbenen großen Wolke in ihm, unter. Gustav mußte, eh' er ihn erreichte, vor einer dichten Nische und einem alten Gärtner darin vorbei, an welchem ihn zweierlei wunderte, daß er ihm erstlich mit keinem Worte für seinen Gutenabend dankte, und zweitens, daß so ein alter vernünftiger Mann ein Kindergärtchen auf dem Schoße hatte und besah. Durch die Laube nahm er an einer Sonnenuhr eine Erhöhung wie ein Kindergrab und einen Regenbogen von Blumen wahr, der es umblühte und überlaubte; auf der Erhöhung lagen die Kleider eines Kindes so geordnet, als wär' etwas darin und hätte sie an. Ottomar empfing ihn mit einer Sanftheit, die man nur in heftigen Charakteren in so unwiderstehlichem Grade findet, und sagte mit leiser Stimme: »er feiere den Todestag aller Jahrszeiten, und heute wäre des Nachsommers seiner.« Sie kamen, indem sie ins Schloß gingen, vor dem Gärtner vorbei,[319] und er nahm den Hut nicht ab – ferner vor dem leeren Kleid auf dem Grab, und es lag noch unter den Blumen, und vor dem Klavieristen, der noch das Lied spielte: »Jüngling, den Bach der Zeit etc.« Da wir das Feierliche nur in Büchern, selten im Leben finden: so wirkt es im letzten nachher desto stärker.

Man muß noch merken, daß in Ottomar der Ausdruck der stärksten Gefühle durch eine gewisse Sanftheit, womit sein Weltumgang und sein Alter sie brach, unwiderstehlich in den stillen Strudel zog. Er öffnete – Kinder waren die Lakaien – ein Zimmer des dritten Stockwerks. Die Hauptsache waren nicht darin die Gemälde mit schwarzen Gründen und weißen Särgen, oder die Worte über den Särgen: »Darin ist mein Vater, darin meine Mutter, darin meine Frühlinge«, – auch der sehr große gemalte Sarg nicht, worüber stand: »Darin liegen sechs Jahrtausende mit allen ihren Menschen.« – Sondern das Wichtigste war das Ungemalte, wovor sich Gustav tief bückte: eine schöne Frau, die sich zu einem unserm Gustav fast ähnlichen Kinde herabneigte, weil es ihr etwas leise sagen wollte; ferner bückt' er sich vor einem alten Offizier in Uniform, der eine zerrissene Landkarte, und vor einem schönen jungen Italiener, der ein fliegendes Stammbuch hielt. Das Kind hatte einen Vergißmeinnicht-Strauß auf der Brust, die Frau und die zwei Männer hatten einen schwarzen Strauß. Aber was noch mehr ihn überraschte, war der Doktor Fenk am Fenster, mit einer Rose an der Brust. – –

Gustav eilte ihm zu; aber Ottomar hielt ihn. »Es ist alles von Wachs«, sagt' er, nicht mit einem kalten, gegen das Schicksal erbitterten Ton, sondern mit einem ergebenen. »Alles, was mir in meinem Leben Liebe und Freude gab, steht und bleibt in diesem Zimmer – wer gestorben ist, dem gab ich schwarze Blumen – bei meinem verlornen Kinde weiß ichs noch nicht, und seine Kleider liegen draußen im Garten .... O wem Gott Ruhe in den Busen schickt, daß sie das nackte Herz umwickele und seine Zuckungen besänftige, dem ist so wohl wie denen, die er betrauert – er tut sanft und fest sein Auge auf, wenn ihm das Schicksal holde Gestalten zuschickt, und wenn sie wieder gehen und gräßliche heranfahren, so schließt ers ruhig wieder zu.« – –[320]

O Ottomar! das kannst du nicht, bevor deine wogenden Kräfte am Alter sich gebrochen haben! Mach immer dein Herz drei Tage lang für die Ruhe weit; am vierten zieht es der Krampf der Freude oder des Schmerzens zusammen und drückt sie tot!

Manche Menschen können ohne Schauder keine Wachsfiguren sehen: Gustav gehörte darunter; er nahm Ottomars Hand, um sich gleichsam ans Leben zu klammern gegen so viel Spiele und Nachäffungen des Todes .... Plötzlich lärmt etwas durch das stille Schloß ... die Treppen herauf, ins Zimmer hinein ... an Ottomars Hals hinan .... Fenk wars, der ihn hier nach der Auferstehung von Toten zum ersten Male umfing und dem unter der engen Umarmung keine Entfernung von dem, zwischen welchem und ihm sich Länder und Jahre und Tod gelegt hatten, klein genug zu sein vermochte. Gustav, noch an der Hand Ottomars, wurde in den Bund der Liebe mit hineingeschlungen, und wäre der Tod selber vorbeigegangen, er hätte seine kalte Sichel nicht durch drei eng, sprachlos und warm verknüpfte Herzen gedrängt. – »Rede, Ottomar,« sagte der Doktor, »das letztemal warst du stumm.« – – Ottomars Ruhe war nun zergangen: »Auch die (die Wachsfiguren) reden ewig nimmer« (sagt' er mit zerdrückter Stimme) – »sie sind nicht einmal bei uns – wir selber sind nicht beisammen – Fleisch- und Bein-Gitter stehen zwischen den Menschen-Seelen, und doch kann der Mensch wähnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Gitter zusammenstoßen und hinter ihnen die eine Seele die andre nur denkt?«

Alle wurden still – die Abendglocke sprach über das schweigende Dorf hinüber und tönte klagend auf und nieder – Ottomar hatte wieder seine erschreckliche Vernichtung-Minute, wie er sie nennt – er trat zur wächsernen Frau und nahm das schwarze Todes-Bouquet und steckt' es über sein Herz – er besah sich und seine zwei Freunde und sagte kalt und eintönig: »Sonach leben wir drei – das ist das sogenannte Existieren, was wir jetzt tun – wie still ists hier, überall, um die ganze Erde – eine recht stumme Nacht steht um die Erde herum, und oben bei den Fixsternen wills nicht einmal Lichter werden.« – – Zum Glück trabte und waldhornierte der Fürst und seine Jagd-Genossenschaft durch das[321] Dorf und verscheuchte die Nacht aus drei Menschen: so sehr hängen wir vom Gehör ab, so sehr gibt die äußere Welt unsrer innern Lichter und Farben. – –

Ich habe von allem, was sie nachher in andern Zimmern taten, keine Merkwürdigkeit, und von allem, was sie darin sahen, nur dreie einzurücken – die, daß Ottomar fast lauter Kinder zu Bedienten, lauter ganz junges Vieh und lauter Blumen um sich hatte: denn heftige Charaktere hängen sich gern ans Sanfte. –

Das Schulmeisterlein Wutz tritt eben in meine Stube herein und sagt, er für seine Person habe noch an keinem Andreastage so viel geschrieben. Nun, so soll denn aufgehört werden.

1

Desto schöner, antwortet ihm die Note zur zweiten Auflage, daß sie sich die Empfindung der Liebe rein und dadurch allmächtig erhalten; andere Empfindungen schwimmen darin, aber aufgelöst und undurchsichtig; bei den Männern stehen jene bloß neben ihr und selbständig.

2

»Jüngling, den Bach der Zeit hinab schau' ich, in das Wellengrab des Lebens, hier versank es etc.« Der Anfang heißet eigentlich: »Traurig ein Wandrer saß am Bach, sah den fliehenden Wellen nach.« Volkslieder.

Quelle:
Jean Paul: Die unsichtbare Loge, in: Jean Paul: Werke. Band 1, München 1970, S. 310-322.
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