§ 20
Sittliche Grazie der griechischen Poesie

[79] Die vierte Hauptfarbe ihrer ewigen Bildergalerie ist sittliche Grazie. Poesie löset an sich schon den rohen Krieg der Leidenschaften in ein freies Nachspielen derselben auf, so wie die olympischen Spiele die ernsten Kriege der Griechen unterbrachen und aussetzten und die Feinde durch ein sanfteres Nachspielen der Kämpfe vereinigten. Da jede moralische Handlung als solche und als eine Bürgerin im Reiche der Vernunft frei, absolut und unabhängig ist, so ist jede wahre Sittlichkeit unmittelbar poetisch, und die Poesie wird wiederum jene mittelbar. Ein Heiliger ist dem Geiste eine poetische Gestalt, so wie das Erhabne in der Körperwelt. Freilich spricht die Poesie sich nicht sittlich aus durch das Auswerfen klingender Sentenzen (so wenig als die Gothaner unter Ernst I. sich sehr durch die Dreier werden gebessert haben, auf welche er Bibel-Sprüche prägen lassen), sondern durch lebendige Darstellung, in welcher der sittliche Sinn – so wie der Weltgeist und die Freiheit sich hinter das mechanische Räderwerk der Weltmaschine verbergen – als unsichtbarer Gott mitten über eine sündige freie Welt regieren muß, die er erschafft.

Das Unsittliche ist nie als solches poetisch, sondern wird es nur durch irgendeine Zumischung; z.B. durch Kraft, durch Verstand; daher ist, wie ich später zeigen werde, nur ein rein-unsittlicher Charakter, nämlich grausame und feige Ehrlosigkeit, unpoetisch,[79] nicht aber ihr Gegensatz, der rein-sittliche Charakter höchster Liebe, Ehre und Kraft. Je größer das Dichtergenie, desto höhere Engelbilder kann dasselbe aus seinem Himmel auf unsere Erde herunterlassen; da es sie aber, so wenig als eine neue Anschauung, willkürlich zusammenbauen oder erfinden, sondern nur in sich finden kann: so besiegelt dies wieder den Bund zwischen Sittlichkeit und Poesie. Man wende nicht ein: je größer ein Milton, desto größer seine Teufel. Denn zur Schilderung der Teufelsuperlativen als umgekehrter Götter ist nicht eine bejahende innere Anschauung, sondern nur eine Verneinung alles Guten vonnöten; wer also am reichsten zu bejahen weiß, vermag am reichsten zu verneinen.

Wir wollen uns hier nicht in die sittliche Zartheit der Griechen im Leben selber einlassen – denen andere Völker mehr in sittlicher als in ästhetischer Bedeutung Barbaren hießen, und welche Philipps Privatbriefe so wie den Rat eines ungerechten Siegs-Mittels gar nicht vorgetragen haben wollten, oder welche Euripides' Lobpreisung des Reichtums und Sokrates' Ankläger verabscheuten –, sondern wir schauen ihre sittliche Dichtkunst an. Wie lassen Sonne und Mond Homers, die Ilias und Odyssee, und das Siebengestirn des himmlischen Sophokles ein zartes scharfes Licht auf jeden Auswuchs, auf jeden Frevel, so wie auf jede heilige Scheu und Sitte fallen! Wie rein umschreibt sich im Herodot die sittliche Gestalt des Menschen! Wie jungfräulich spricht Xenophon, die attische honigvolle und stachellose Biene! – Der wie alle große Komiker sittlich verkannte Aristophanes, dieser patriotische Demosthenes im Sokkus, läßt ja wie ein Moses seinen Froschregen auf den Euripides nur zur Strafe seiner schlaffen und erschlaffenden Sittlichkeit fallen – weniger bestochen als Sokrates von dessen Sittensprüchen bei vorwaltender Unsittlichkeit im ganzen – und verschont dagegen mit dem kleinsten rauhen Anhauche nicht etwan seinen gekrönten Liebling Äschylos, sondern den religiösen Sophokles, welcher selber dem Euripides, wie Shakespeare dem Dichter Ben Jonson, zu große Achtung bewiesen. Stünde nun ein solcher von Aristophanes sittlich verurteilter Euripides in den jetzigen Ländern wieder auf: was würden die[80] Länder machen? Ehrenpforten zu einem Ehrentempel für ihn; »denn«, würden sie sagen, »es darf uns wohltun, endlich einmal den Wiederhersteller reiner Sittlichkeit auf unsern besudelten Bühnen zu begrüßen.«

Ferner unterschieden sich die Griechen noch durch eine doppelte Umkehrung von uns. Wir verlegen die sinnliche Seligkeit auf die Erde, und das sittliche Ideal in die Gottheit. Die Griechen geben den Göttern das Glück, den Menschen die Tugend. Die schöne Farbe der Freude, welche in ihren Schöpfungen blüht, liegt mehr auf unsterblichen Wangen als auf sterblichen; denn wie klagen sie nicht alle über das unstete Los der Sterblichen, über die Mühen des Lebens und über den alles erreichenden Schatten des Todes und über das ewige Nachsterben im Orkus! Und nur zur offnen Göttertafel der Unsterblichen auf dem Olympus blickt der Dichter auf, um sein Gedicht zu verklären und zu erheitern. Hingegen die sittliche unsterbliche Gestalt muß der Mensch, wie Gott den Adam, aus seinem Erdenkloß mit einsamen Kräften ausbilden; denn jeder Auswuchs und Wulst an dieser Gestalt, jeder Trotz auf Kraft und Glück, jede Keckheit gegen Sitte und Gottheit wird von denselben Himmels-Göttern – gleich als wären sie Erden-Götter – unerbittlich mit dem Höllenstein einer augenblicklichen Hölle berührt und verzehrt, eben von ihnen, welche sich den Mißbrauch der Allmacht vergönnen, weil sie keine Götter und keine Nemesis zu fürchten haben, ausgenommen den dunkelsten Gott nach einem Meineide beim Styx.

Möge dieses wenige nach so vielem über die Griechen, wenn auch nicht genug, doch nicht zuviel sein! – Gleicht nicht die angegebne Tetralogie ihrer Dichtkunst ihrem Dichtergott selber; und hat wie er den Lichtstrahl – die Lyra – die Heilpflanze – und den Pfeil gegen den Drachen?[81]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 79-82.
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