§ 70
Der epische Roman

[251] Ungeachtet aller Stufen-Willkür muß doch der Roman zwischen den beiden Brennpunkten des poetischen Langkreises (Ellipse) entweder dem Epos oder dem Drama näher laufen und kommen. Die gemeine unpoetische Klasse liefert bloße Lebensbeschreibungen, welche ohne die Einheit und Notwendigkeit der Natur und ohne die romantische epische Freiheit, gleichwohl von jener die Enge entlehnend, von dieser die Willkür, einen gemeinen Welt- und Lebenslauf mit allem Wechsel von Zeiten und Orten so lange vor sich hertreiben, als Papier daliegt. Der Verfasser dieses, der erst neuerlich Fortunatus' Wünschhütlein gelesen, schämt sich fast zu bekennen, daß er darin mehr gefunden nämlich poetischen Geist – als in den berühmtesten Romanen der Stilistiker. Ja, will einmal die Kopier-Gemeinheit in den Äther greifen und durch das Erden-Gewölke: so zieht sie gerade eine Hand voll Dunst zurück; eben die Feinde des Romantischen stellen jenseits ihres Erden- und Dunstkreises gerade die unförmlichsten Gestalten und viel wildere anorgische Grotesken in die Höhe, als je das treue, nur hinter der Fahne der Natur gehende Genie gebären könnte.

Die romantisch-epische Form, oder jenen Geist, welcher in den altfranzösischen und altfränkischen Romanen gehauset, rief Goethens Meister, wie aus übereinander gefallenen Ruinen, in neue frische Lustgebäude zurück mit seinem Zauberstab. Dem epischen Charakter getreu lässet dieser auferstandne Geist einer romantischern Zeit eine leichte helle hohe Wolke vorübergehen, welche mehr die Welt als einen Helden und mehr die Vergangenheit[251] spiegelt oder trägt. Wahr und zart ist daher die Ähnlichkeit zwischen Traum und Roman161, in welche Herder das Wesen des letzten setzt; und so die zwischen Märchen und Roman, die man jetzo fodert. Das Märchen ist das freiere Epos, der Traum das freiere Märchen. Goethens Meister hat hier einige bessere Schüler gebildet, wie Novalis', Tiecks, E. Wagners, de la Motte Fouques, Arnims Romane. Freilich geben manche dieser Romane, z.B. Arnims, ungeachtet so vieler Glanzstrahlen, doch in einer Form, welche mehr ein Zerstreu- als Sammelglas derselben ist, nicht genug Wärme-Verdichtung des Interesse.

161

Adrastea III. 171. etc.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 251-252.
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