§ 14
Ihre Seltenheit

[474] Es gibt allerdings noch einen und den andern Roman- und Lustspieldichter, der an seinem Genie den hungrigen Hund des Porträtmalers Huber besitzt, welcher hinter seinem Rücken dem Tiere eine Scheibe Brot so vorzuhalten wußte, daß es aus ihr so viel herausfraß, bis ein Menschenprofil davon übrig blieb – das Brot war der Marmorblock, und die Zähne der Meißel und Hammer – und dabei sah sich Huber gar nicht einmal um. Solcher Hunde laufen jetzo nicht viele über die Bühne. Wen der Schreiber eigentlich charakterisiert und trifft, ist bloß er selber. Die Tor und Polizeifrage: »Ihr werter Charakter?« beantworten seine Theaterleute schon auf dem Komödienzettel; denn auf dem Theater selber machen bloß die Kleider die Leute und – was noch mehr ist – die Späße derselben, weil Kleiderwechsel ohne Mühe dem Lustspiele den anmutigsten Wortwechsel und Ringwechsel zuspielt. – In Romanen hat man zur Charakterisierung nicht einmal die Kosten der Kleidung aufzuwenden nötig, sondern die gedruckten Namen sind mehr als hinlänglich zu einem unaustilgbaren Charakter (character indelebilis) jeder Person. Nur wenige Meister treiben es bis zur Vollkommenheit, daß sie den Charakter nicht durch einen bloßen Titel oder Namen, vielmehr durch eine abstrakte Eigenschaft, die sie ihm statt seiner gaben, zu malen suchten, so daß z.B. der eine nur ein lebendiger Geiz ist ohne[474] weitere menschliche Zutat, der andere nur eine lebendige Rangsucht u.s.w., was alles bloß im Leben, aber nicht auf dem Druckpapier und Theater unmöglich ist. Im Trauerspiele würd' ichs so machen – und ich wüßte nicht, wer es anders machte –, daß ich entweder den teuflischen oder den englischen Charakter – mehre als diese beiden Charaktere sind in der Tragödie nicht wohl gedenklich – mit einzelnen glänzenden Sentenzen, die ich ihm anheftete, so bestimmt andeutete, als nur immer die Sternbilder der Jungfrau, des Löwen, des Skorpions und Wassermanus durch die Sterne sein können, welche eine solche überirdische Person von weiten zusammensetzen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 474-475.
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