Zweite Viertelstunde
Wunsch und Notwendigkeit der Rezensenten-Vermehrung

[502] Wer sich beklagt, daß es zu viele Literaturzeitungen gebe, der bedenkt vieles nicht, ob er gleich mit Recht anführt, daß auf diese Weise ein Autor, wenn er auch durch eine Gasse von Kritikern und Prügeln hindurch sei, wieder in eine neue frische einlaufe, wo das Stäupen von vornen anhebe. Ich versetze hierauf: am Ende kommen doch nur so viele Literaturzeitungen auf einen Autor, als nach Linnäus jede Pflanze Landinsekten280 trägt, nämlich fünf. Ich will gar nichts davon sagen – zumal wenn ich es irgendwo schon gesagt hätte –, daß die Menge der Zeitungen einander die Universalmonarchie und die Kabinettordres beschneiden und sie aus der Unfehlbarkeit zu Beweisführungen treiben und das Publikum aus dem blinden Glauben zur Vergleichung der Beweise heraus und endlich auf die eignen Füße hinauf nötigen. Ja funfzig allgemeine deutsche Bibliotheken auf einmal könnten wohl machen, daß man sich nach der 51ten umsähe und so lange seine Augen aufmachte, während die Zeit den hundert Augen des Argus den Star stäche. Da kein Kritiker durch eine Antikritik umzuändern steht – unter allen Instrumenten ist eine Pauke am schwersten zu stimmen und ein Rezensent –, so ists für einen Schriftsteller, dessen Sache bei mehren Zeitungen verloren ging, eine halbe Rettung, wenn noch eine Instanz übrig bleibt, bei der er gewinnen kann. Ja wiederum einem berühmten Schriftsteller, der elf Rezensenten zu Aposteln hat, ist ein kleiner Judas, der ihn verrät, ein gesunder Blutigel oder eine spanische Fliege, und beide ziehen etwas weg.

Schon an sich bleibt der Untergang einer Kritik und noch mehr eines Kritikers reiner Verlust, z.B. der von Müllners Hekate. Ich wollte, sie bellte und bisse noch. Man sieht, ich verwechsle die Göttin gern mit ihrem Hunde, weil sie wie Zerberus einen dreifachen Kopf hatte, den mathematischen, den juristisch-politischen und den ästhetischen; wovon ich den beiden ersten mehr die Kränze gönne als die Tonsur. Denn da die Köpfe die drei Gelübde[502] unter sich zum Halten ausgeteilt: so hat der ästhetische das der Armut übernommen und zu beobachten gesucht. Doch lieber red' ich, wie der Kopf selber, ohne Figur. Es ist nämlich im schönwissenschaftlichen Deutschland eine Gesetzlosigkeit eingedrungen, wie noch in keinem andern Lande und Zeitalter; Sprachregeln und Sprachsitten – Wohlklang – Perioden- und Wörterbau Reime – Bilder – Wahrscheinlichkeit, ja Möglichkeit der Charaktere wie der Fabel – ja Sinn und Verstand, alles wird mit stolzer Willkür behandelt; und für eine solche literarische Zeit des Schreibfaustrechts ist es eine Wohltat, wenn der dritte Kopf des Zerberus losgelassen oder losgehetzt wird zum Bellen und Fangen. Das treue Tier tut unter seiner Tonsur für die Technik der Dichtkunst Gutes. Ja die literarische Hekate tat wohl, der mythologischen, welche unter den vor dem bösen Gott Typhon sich verlarvenden Göttern die Gestalt einer Katze annahm, es nachzutun und sich als Katze zu zeigen mit Krallen und Funken – eine geringe, aber schöne Veränderung, da nach dem Naturphilosophen Ritter der Mensch die edelste Katze ist. Nur für den Geist der Dichter war die Katze oder der Hund kein Mann, so wie die allgemeine deutsche Bibliothek es nicht gewesen. Es gibt eine höhere kritische Physiognomik, welche hinter dem sokratischen Gesichte den Weisen und hinter dem äsopischen Buckel den Dichter findet und anerkennt.

Bekanntlich war in allen Zeitaltern Blüte der Kritik Anzeichen des erstiegnen Gipfels der Kunst, von welchem sie ihr Herabsinken anfing, so wie das Blühen der Distelköpfe, da es bloß in den längsten Tag eintritt, die Abnahme der Tage ankündigt. Aber noch stehen wenige Distelköpfe in Blüte und hangen voll Tagfalter und versprechen die Fallhöhe der Kunst. Möchte doch irgendein wohlhabender Buchhändler ein kritisches Konklave oder eine kritische Jury ins Haus nehmen und, wie wohl öfter geschehen, durch Festsetzen und Sparküche aus dem einen das Heiligsprechen281 und aus der andern das Schuldigsprechen herausnötigen![503]

280

Linn. amoenit. acad. V. II. disp. 19. § 21.

281

Denn die Papstwahl zeugt den heiligen Vater künftiger Heiligen, die sich aber nicht wieder fortpflanzen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 502-504.
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