An Palemon,

als Herr Oeser das Bild der Dichterin entworfen hatte

[227] (Den 16ten des Christmonaths 1761.)


O Freund! Der Mahler? Gefunden

Hat er im Auge mein Herz.

Er fand mit spähendem Blicke

Den Geist, und zeichnete ihn.


Die sanft empfindende Seele

Entwarf sein Pinsel, und nicht

Den Mund, die Wange, das Lächeln

Dir ohne Reize bekannt!


O dies zu schöne Gemählde

Seh ich und kenne das Bild

Von der unsterblichen Freundin

Die in mir denket, und fühlt.
[228]

Mir von den Göttern gesendet

Ward sie, und lange verkannt

Rief ihr aufstrebender Hunger

Nicht Brod, nein Freunde für sich.


Gefunden hab ich euch endlich

Ihr von der Seele gewünscht.

Wer ihre Freude will kennen,

Der komm und sehe mein Bild!


Sie sitzt in schönstem Erstaunen

Und denkt nicht Ehre, nicht Gold;

Freund! ihre Götter auf Erden

Denkt sie, und denket auch dich!


Da wo die Musen und Weisheit

Dir lächeln, stelle sie hin;

Und nenn' einst deiner Geliebten,

Die auf der Schulter dir liegt,
[229]

Nenn ihr den zaubernden Künstler

Und sprich: Das singende Weib

War arm an äusserer Reizung

Und reich an süssem Gefühl;


Mit zart geschaffenem Herzen

Ward sie einst Sapho genannt;

Ihr waren Musen gefällig,

Und sie war Freunden getreu.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 227-230.
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