Fünfzehntes Kapitel

Der Lauf der Welt

[829] Während die Frauen nun Bett und Leiche in den erforderlichen Stand brachten, folgte ich der Einladung der Nachbarin, in ihr Haus hinüberzugehen und dort auszuruhen. Der Nachbar suchte vorsichtig, eh er im Gespräche weiterging, meine Glücksumstände und Erlebnisse zu erfahren. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich zur Zeit seiner Anwesenheit in jener Stadt übel daran gewesen, ließ ihn dann aber die bessere Wendung der Dinge wissen, erzählte ihm alles, den Liebeshandel ausgenommen, und gleichsam als eine Art Rechtfertigung zeigte ich ihm unter Tränen die Geldwerte, die ich bei mir führte. Ich schob Geld und Papiere weg und stützte den Kopf wieder weinend auf den Tisch des fremden Mannes.

Betroffen und schweigend saß er da, und erst als ich mich etwas beruhigt, zeigte er eine gewisse Entrüstung über den unglücklichen Verlauf der Dinge und konnte sich nicht enthalten, mich damit bekannt zu machen. Nachdem die Mutter schon längere Zeit auf meine Heimkehr oder wenigstens auf Nachrichten geharrt und schon etwas gekränkelt hatte, erhielt[829] sie eines Tages die Aufforderung, vor der Polizeibehörde zu erscheinen. Es war, wie wir jetzt annehmen mußten, die Nachforschung des deutschen Gerichtes nach meiner Person wegen des Legates des Joseph Schmalhöfer. Sei nun die plumpe Versäumnis, die Ursache dieser Nachforschung anzuzeigen, schon von jener Gerichtsstelle aus begangen worden oder nicht, genug, als meine Mutter, nach meinem Aufenthalte befragt, denselben nicht nennen konnte, erschrocken dastand und zitternd fragte, um was es sich handle, wurde ihr geantwortet, man wisse es nicht, es sei einfach eine Vorladung für mich, vor dem Gerichte zu erscheinen; ich werde wahrscheinlich vor Schulden oder etwas Ähnlichem geflohen sein. Diese Auslegung sprach sich auch weiter herum, und die arme Frau wurde durch allerlei Anspielungen in der Meinung bestärkt, daß ich verschuldet und im Mangel in der Welt herumirre.

Nicht lange darauf, als sie die Zinsen für das auf das Haus entlehnte Kapital, die sie kümmerlich zusammengehalten, abtrug, wurde ihr das letztere gekündigt, und nun mußte sie mitten in ihren kummervollen Sorgen um ein neues Anleihen ausgehen. Es gelang ihr aber nicht, das Geld zu finden, denn es bestand eben die Absicht, sie vom Hause zu bringen, und es steckten Gewinnlustige hinter der Sache, unter denen der inzwischen etwas emporgekommene, immer noch im Hause wohnende Spenglermeister mitwirkte, in der Hoffnung, selber den Sitz zu erwerben. Auch hier war endlich der Bau einer Schienenstraße in Aussicht getreten, der Bahnhof mußte unfern unserer Gasse zu liegen kommen, und es begann der Wert der Grundstücke beinahe täglich zu steigen, ohne daß die Mutter in ihrer Abgeschiedenheit von diesen Dingen wußte.

Die doppelte und dreifache Sorge hat unzweifelhaft ihr Leben verkürzt; denn der Zahlungstermin rückte mit jeder Woche näher.

»Hätte ich eine Ahnung von der Sachlage gehabt«, sagte nun der Nachbar, »so hätte ich leicht raten können; allein die Verschwiegenheit Ihrer Mutter erleichterte das Bestreben der[830] Spekulanten, den Handel geheimzuhalten, und erst seit ein paar Tagen hörte ich zufällig davon, seit die Herren der Beute sicher zu sein glauben. Jetzt, wo Sie da sind, genügt weniger als der zehnte Teil dessen, was da vor Ihnen liegt, die Schuld abzutragen und das Haus wieder frei zu machen, das ja sonst unbedeutend belastet ist, soviel ich weiß, und Ihnen jetzt schon einen schönen Gewinn abwerfen würde, wenn Sie es verkaufen wollten. Denn obgleich das Haus alt und unansehnlich aussieht, so ist es dennoch fest gebaut und enthält viel unbenützten Raum, der mit Leichtigkeit wohnbar zu machen ist. Und nun hat es so kommen müssen!«

Der Gedanke, daß unglücklicher Zufall und die Arglist Gewinnsüchtiger die Hand im Spiele gehabt, erleichterte keineswegs die Last, welche jählings auf mein Gewissen fiel mit einem Gewichte, gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien; oder auch umgekehrt ich möchte sagen, daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging, wie der höchste Kältegrad einem Brennen gleicht. Es war fast, wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge.

Die Aufforderung der freundlichen Nachbarsleute, das Nachtlager bei ihnen zu nehmen, lehnte ich ab, weil es mir unmöglich schien, die Mutter allein zu lassen. Ich ging mit der anbrechenden Abenddämmerung in unser Haus zurück. Jetzt stand auch der schwärzliche Spenglermeister unter seiner Stubentüre; ich grüßte ihn, und er und mich mit forschendem Blick ein, bei ihm anzukehren, was ich ausschlug, indem ich nur um ein Licht bat. Mit einem solchen versehen, stieg ich wieder unter das Dach hinauf, trat in das Kämmerchen und zündete das alte Messinglämpchen an, bei dessen Schein ich sie die Jahrzehnte hindurch in den langen Winterabenden hatte sitzen sehen. Das Lämpchen war vernachlässigt und nicht mehr blank, jedoch mit Öl gefüllt. Da lag sie nun in ihrem Frieden, und ich, der ich so gedankenlos gezögert, zu ihr zu kommen, fand jetzt nur noch einigen Trost an ihrer stillen Gegenwart, an deren Aufhören[831] ich nicht denken durfte. Ich machte mir mit meiner unglücklichen Schachtel zu schaffen, öffnete dieselbe und zog den feinen Wollenstoff hervor, den ich zu einem Kleide bestimmt hatte. Im Begriff, das Stück auseinanderzufalten und es als leichte schützende Decke über das Bett und die Leiche zu legen, um es ihr nur irgendwie noch nahe zu bringen, fiel mir doch die Nutzlosigkeit einer so gezierten Handlung in so ernster Stunde auf die Seele; ich wickelte das Zeug zusammen und verbarg es wieder in der Schachtel. Obschon ich von der mehrtägigen Fußreise ermüdet war, brachte ich nun die Nacht aufrecht auf dem Strohsesselchen am Fenster zu und schlief dennoch zeitweise, wobei allerdings das Erwachen jedesmal zwiefach schmerzlich war, wenn ich mich aufs neue der Gegenwart der stillen Mutter versicherte.

Am andern Tag kam der Bote eines Begräbnisvereines, den der Vater noch hatte gründen helfen, und traf alle Anordnungen; ich brauchte keinen Schritt zu tun. Auch die Kosten waren schon lange gedeckt durch die pünktlichen Beiträge der Mutter; es wurde nachträglich sogar noch eine kleine Rückzahlung angeboten. So war sie auch in dieser Hinsicht ohne jegliche Beschwernis für andere aus der Welt gegangen.

Als ich die betreffenden Papiere in ihrem Nachlasse suchte, mußte ich überhaupt Schrank und Schreibtisch öffnen und fand manche Heimlichkeiten, die ich noch nie gesehen. In einem mit Zinn verzierten hölzernen Kästchen lagen vergilbte Putzsachen ihrer Jugendzeit, wie künstliche Blumen, ein Paar weiße Atlasschuhe, Bänder zusammengepreßt und kaum oder nie gebraucht. Dabei einige alte vergoldete Almanache, wahrscheinlich längst verjährte Geschenke, und, was mich am meisten überraschte, ein Buch mit einer kleinen Sammlung abgeschriebener Gedichte oder Lieder, die ihr als Mädchen mochten gefallen haben. Zwischen den Blättern lag ein zusammengefaltetes loses Blatt, ebenfalls von ihrer damaligen erblichenen Handschrift, worauf zu lesen war:


[832] Verlornes Recht, verlornes Glück


Recht im Glücke, goldnes Los,

Land und Leute machst du groß!

Glück im Rechte, fröhlich Blut,

Wer dich hat, der treibt es gut!


Recht im Unglück, herrlich Schaun,

Wie das Meer im Wettergraun!

Göttlich grollt's am Klippenrand,

Perlen wirft es auf den Sand!


Einen Seemann, grau von Jahren,

Sah ich auf den Wassern fahren,

War wie ein Medusenschild

Der erstarrten Unruh Bild.


Und er sang »Vieltausendmal

Glitt ich in das Wellental,

Fuhr ich auf zur Wogenhöh,

Ruht ich auf der stillen See!


Und die Woge war mein Knecht,

Denn mein Kleinod war das Recht;

Gestern noch mit ihm ich schlief –

Ach, nun liegt's da unten tief!


In der dunklen Tiefe fern

Schimmert ein gefallner Stern;

Und schon ist's wie tausend Jahr,

Daß das Recht einst meines war.


Wenn die See nun wieder tobt,

Niemand mehr den Meister lobt

Hab ich Glück, verdien ich's nicht,

Glück wie Unglück mich zerbricht!«
[833]

Welch ein Gefallen war es gewesen, das ein so junges Mädchen einstmals dies seltsame Gedicht hatte abschreiben und aufbewahren lassen?

Ich fand noch andere schriftliche Überbleibsel, und zwar aus den letzten Jahren, wo nicht aus letzter Zeit. In einem Mäppchen, das einen geringen Vorrat von Briefpapier enthielt, lag ein Blatt, das offenbar zu einem Briefe als Fortsetzung gehörte, indem die Schrift ganz oben in der linken Ecke anfing. Das Fragment aber lautete:

»Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt, daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte, so tritt die Frage an mich heran, ob nicht mich, seine Mutter, die Verschuldung trifft, insofern ich es in meiner Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe. Hätte ich nicht suchen sollen, daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sichern Erwerbsberufe zugewendet wurde, statt ihn, der die Welt nicht kannte, unberechtigten Liebhabereien zu überlassen, die nur geldfressend und ziellos sind? Wenn ich sehe, wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen, oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen, und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint, so fällt der traurige, altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer, und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht, daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte. Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte, hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren. Damit habe ich mich über meinen Stand erhoben und, indem ich mir einbildete, ein Genie in die Welt gesetzt zu haben, die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt, daß es sich vielleicht niemals erholen wird. Wo soll ich nun die Hilfe suchen?«

Hier brach die Schrift ab; denn vom nächsten Worte stand nur noch der Anfangsbuchstabe. An wen der Brief gerichtet[834] war, ob er mit oder ohne obiges Bruchstück oder gar nicht abgegangen, wußte ich nicht, und eine Antwort fand sich unter den aufbewahrten Briefschaften nicht vor. Wahrscheinlich hatte sie die Sache doch unterdrückt. Dagegen verschmolz sich nun die in dem Gedichte von dem verlornen Glücke aufgeworfene wunderliche Rechtsfrage mit derjenigen des Brieffragmentes und fiel mir zu Lasten als dem einzigen haftbaren Inhaber der Schuld.

So war nun der Spiegel, welcher das Volksleben widerspiegeln sollte, zerschlagen und der Einzelmann, der an der Volksmehrheit so hoffnungsreich mitwachsen wollte, rechtlos geworden. Denn da ich die unmittelbare Lebensquelle, die mich mit dem Volke verband, vernichtet hatte, so besaß ich kein Recht, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Türe.

Nachdem das Grab der Ärmsten sich geschlossen, bewohnte ich einige Zeit das Stübchen, worin sie gestorben. Dann verkaufte ich mit dem Rate des Nachbars das Haus und gewann in der Tat mehrere Tausende an dem Handel, so daß ich nun mit dem, was ich hergebracht, und dem Gewinn zusammen ein kleines Vermögen besaß, aus welchem ich bescheiden und zurückgezogen leben konnte. Das zufällige Wesen aber, das dem winzigen Reichtum anhaftete, ließ mich seiner nicht froh werden, noch weniger ein müßiges Leben darauf bauen; und da überdies der Mensch nicht nur von dem leiblichen, sondern auch von einem moralischen Selbsterhaltungstriebe beseelt ist, so nahm ich doch einige Studien vor, wie der Graf sie mir angeraten, nicht um mich hervorzutun, sondern lediglich, soviel nötig war, mich für die Verwaltung eines anspruchslosen und stillen Amtes vorzubereiten und die Ordnung, in welche es eingebaut war, einigermaßen zu übersehen. Im übrigen las ich teils schwerere, teils schönere Sachen allgemeiner Natur, um meinen befangenen und bedrängten Gedanken einige Freiheit und Zerstreuung zu verschaffen. Denn während das Reuleid wegen der Mutter allmählich zu einem düstern, aber gleichmäßig ruhigen Hintergrunde[835] von Freudlosigkeit wurde, begann sich das Bild der Dorothea wieder lebendiger zu regen, ohne Licht in das Dunkel zu bringen.

Ich trug den Spruch von der Hoffnung, auf das grüne Papier gedruckt, noch immer in meinem Brief- und Schreibtäschchen auf der Brust und las ihn zuweilen mit ungläubigem Seufzen und Kopfschütteln. Den Glücksfall vorausgesetzt, den die schlichten Worte zu verkünden schienen, war ich doch in der Lage, ihn fürchten zu müssen, und fast in der Stimmung eines Prahlers, der in der Ferne eine glänzende Schöne an sich gezogen hat, welcher er die schlechte Hütte nicht zeigen darf, darin er wohnt. Sogar zum bloßen freundlichen Verkehr in die Weite schien ich mir jetzt nicht fähig, da ich die Wahrheit meines Zustandes zu gestehen mich scheute und doch auch nicht lügen mochte. Die Zeit zu scherzhaften Flunkereien und Phantasiespielen, auch im harmlosen Sinne des Wortes, war für einmal vorbei.

Es vergingen wohl zehn Monate, bis ich über mich vermochte, an den Grafen zu schreiben, ohne unwahr zu sein oder allzu elend zu erscheinen.

Er vergalt mir die Saumseligkeit nicht mit gleicher Münze; vielmehr erhielt ich bald einen längern Brief von ihm, in welchem er meine Lage, soweit er sie begriff, mit guten Worten besprach und als den Lauf der Welt darstellte, wie er durch Paläste und Hütten gehe, Gerechte und Ungerechte heimsuche und seiner Natur gemäß unablässig sich verändere.

»Was unser Dortchen betrifft«, fuhr er fort, »so erfährt sie, und wir andere mit ihr, in gehäuftem Maße auch ihr Teil. Seit Du weg bist, hat sich das Abenteuer begeben, daß sie – meine blutsverwandte Nichte und nichts anderes geworden ist! Ich kann Dir den Hergang nicht des weitern auseinandersetzen, nur mit ein paar Strichen andeuten Von der bald nach dem Tode meines in den südamerikanischen Händeln umgekommenen Bruders ebenfalls verstorbenen Witwe ist durch Letzten Willen verordnet worden, es solle das Kind durch zuverlässige Leute[836] seinen deutschen Verwandten zugesandt werden. Diese Leute sind aber untreu gewesen. Um gewisse Vermögensteile, die man unvorsichtigerweise ihnen zugleich mitgegeben hat (übrigens unbedeutende Summen), behalten zu können, haben sie mir das Kind auf dem Wege der Aussetzung in die Hände gespielt. Sie haben sich richtig bei jenen Auswanderern nach Südrußland befunden oder sich ihnen vielmehr auf dem Wege in der Donaugegend angeschlossen und die Sache sehr schlau angestellt. Da aus Amerika nie mehr eine Nachfrage anlangte, sowenig als früher ein Bericht von der Absendung des Kindes und dem Tode der Mutter, so hat alles so geschehen können. Erst neuerlich, weil das alt gewordene Sünderpaar vom Gewissen, wahrscheinlich auch von dem Gelüste nach einer Gnadenbelohnung geplagt wurde, haben sich die Leutchen mit allen in solchen Wiederfindungsgeschichten üblichen wohlaufgehobenen Beweisen gemeldet, und wir haben also eine Gräfin mehr im deutschen Vaterlande! Wie lange es dauert, bis sie zum Gegenstande eines oder mehrerer Romane gemacht wird, steht dahin; ich habe sie auch auf einige Volksschauspiele und Melodramen vorbereitet. Allein sie hört nicht darauf, da sie bereits die Ausarbeitung des zweiten Teiles des Romanes begonnen hat. Vor vier Wochen hat sich Gräfin Dorothea W...berg (eigentlich heißt sie von Haus aus Isabel) mit einem jungen Freiherrn Theodor von W...berg verlobt. Das ist nämlich ein hübscher und wackerer Gesell aus einer Linie der so benamsten Leute, welche die unsrige seit Jahrhunderten nichts mehr angeht. Man wird ihm den Grafentitel verschaffen, und ich werde gestatten, daß das Majorat auf ihn übergeht. Denn ich habe ebensowenig Grund, das Fortbestehen des Namens zu hindern, als dasselbe zu wünschen. Wie die Dinge stehen, ist es mir absolut gleichgültig, wenn ich etwa von dem Vergnügen absehe, das ich dem Kinde mache, indem ich seinem Bräutigam gefällig bin.

Nun kommt aber noch eine Betrachtung, die uns beide angeht, lieber Freund Heinrich! Ich habe gut gesehen, daß Du[837] Dich in Dortchen verliebt hast! Ich habe getan, als sähe ich es nicht, weil ich mich in dergleichen nicht mische, wo die Leute sich selbst helfen können und wissen, was sie zu tun haben. Besonders die langhaarige Nation ist so unberechenbar, daß es nicht lohnend ist, sich ohne Not mit gutem Rate bloßzustellen. Auch Du bist dem Kinde nicht gleichgültig gewesen und auch jetzt noch gut angeschrieben, und es stellt sich die Sache ungefähr so: Hättest Du, was Du als ein maßhaltender Mensch nicht getan hast, während Deines Hierseins die Zeit und Deinen Vorteil wahrgenommen oder hättest Du bald nach der Ankunft in Deinem Vaterlande von Dir hören lassen, so wäre, glaub ich, Dorothea bis zur Stunde die Deinige geblieben. Nachdem Du aber eine so rätselhafte Zeit hast verstreichen lassen, ist sie über diese Kluft weggesprungen, als der entschlossene Freier erschien, der sie zugleich in so glücklicher Weise wieder in die weltliche Ordnung einreibt. Aber auch von diesem Begreiflichen abgesehen, müssen wir die Unbeständigkeit des Kindes, soweit eine solche vorhanden ist, nicht hart beurteilen. Die guten Weiblein sind so auf sich selbst angewiesen und müssen im Grunde die Suppe, die sie sich einbrocken, oft so ganz allein ausessen mit allerlei Leiden und Schmerzen, daß sich hieraus die Plötzlichkeit wohl erklären läßt, mit der ihre Instinkte zuweilen umschlagen. Ihre Blütenzeit geht so rasch vorbei, daß sie, solang kein entscheidendes Wort gefallen ist, auf ein Warten, das sich einstellen zu wollen scheint, nicht gut zu sprechen sind und sich jeden Entschluß im stillen vorbehalten. Wenn sie Hoffnung gegeben haben und nicht rechtzeitig dabei behaftet werden, so gehen sie zur Tagesordnung über; denn sie wollen ihre Kinder als junge Weiber und nicht als halbe Matronen haben und erziehen. Gerade die Schönsten und Gesundesten eilen ihrem Berufe energisch entgegen und verschmähen dann häufig die Heirat, wenn sie den besten Augenblick verfehlt haben.

Meine eigene Ehe galt für eine Art Unicum, und die Leute sagten, es müsse so sein, weil zwei Unica sich geheiratet haben.[838] Soweit das sich auf meine Person bezog, war es natürlich der Spott über meine Abtrünnigkeit von den Vorurteilen; auf die Frau aber war das Wort in seinem besten Sinne gut angewendet; und dennoch hatte es an einem Haar gehangen, daß sie nicht ein anderer heimgeführt.

Das ist eben auch ein Stück Weltlauf!«

Es bedurfte dieser traulichen Vertröstung des ältern Freundes nicht, die Geister der Leidenschaft in mir zu bannen. Die bloße Tatsache, daß Dorothea verlobt war und Isabel Gräfin zu W...berg hieß, vergegenwärtigte mir den Zustand, in welchen ich sie gebracht hätte, selbst wenn sie das Findelkind geblieben, ich weniger zurückhaltend gewesen und eine Verbindung zwischen uns erfolgt wäre. Es kam mir vor, wie wenn man einen großen Sommervogel in einen kleinen Grillenkäficht hätte setzen wollen. Die geheime Sorge, einer solchen Beschämung durch die schönste Glückserfüllung ausgesetzt zu werden, fiel mir wie ein Stein vom Herzen, und in diesem blieb nur die stille Sehnsucht nach der Verlorenen einträchtig neben der Trauer um die Mutter wohnen. Freilich kam mir dieser Weltlauf etwas teuer zu stehen; denn der Umweg über das Grafenschloß hatte mich nicht nur die Mutter, sondern auch den Glauben an ihr Wiedersehen und an den lieben Gott selbst gekostet, alles Dinge indessen, deren Wert nicht aus der Welt fällt und immer wieder zum Vorschein kommt.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 829-839.
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