Dritter Brief

Vom 22. April

[534] Freilich hat sich Herr Mylius auch in wöchentlichen Sittenschriften versucht. – – Sie wissen, mein Herr, wer die ersten Verfasser in dieser Art waren. Männer, denen es weder an Witz, noch an Tiefsinn, noch an Gelehrsamkeit, noch an Kenntnis der Welt fehlte. Engländer, die in der größten Ruhe und mit der besten Bequemlichkeit, auf alles aufmerksam sein konnten, was einen Einfluß auf den Geist und auf die Sitten ihrer Nation hatte. – – Wer aber sind ihre Nachahmer unter uns? Größtenteils junge Witzlinge, die ungefähr der deutschen Sprache gewachsen sind, hier und da etwas gelesen haben, und, was das betrübteste ist, ihre Blätter zu einer Art von Renten machen müssen. – – – Hr. Mylius war noch nicht lange in Leipzig, als er mit dem Jahr 1745 seinen »Freigeist« anfing, und ihn durch zwei und funfzig Wochen glücklich fortsetzte. Der Titel versprach viel, und ich glaube nicht, daß man zu unsern Zeiten leicht einen anlockendern finden könnte. Ich weiß es aus dem Munde des Verfassers, daß er sich nie hingesetzt, ein Blatt von demselben zu machen, ohne vorher einige Stücke aus dem »Zuschauer« gelesen zu haben. Diese Art sich vorzubereiten und seinen Geist zu einer edeln Nacheiferung aufzumuntern, war ohne Zweifel sehr lobenswert. Freilich kann sie nur bei denen von einiger Wirkung sein, die schon vor sich Kräfte genug hätten, nichts gemeines zu schreiben. Denn denen, welchen diese Kräfte fehlen, wird[534] sie zu weiter nichts nützen, als die äußerliche Einrichtung zu ertappen. Sie werden uns bald ein Briefchen, bald ein Gespräch, bald eine Erzählung, bald ein Gedichtchen vorlegen, und in dieser abwechselnden Armut sich ihren Mustern gleich dünken, deren wahre Schönheiten sie nicht einmal einsehen. – – Hr. Mylius sahe sie allerdings ein, und man kann nicht leugnen, daß sich nicht ein großer Teil von seinem Freigeiste sehr wohl lesen lasse. Verschiedene kleine Züge, die er seiner Person darinne gibt, sind etwas mehr als bloße Erdichtungen. Was er zum Exempel in dem dreizehnten Blatte von des Boethius Troste der Weltweisheit sagt, ist gänzlich nach den Buchstaben zu verstehen. Er hatte von diesem geliebten Buche eine Ausgabe in sehr kleinem Formate, die er eine lange Zeit, anstatt der geriebnen Wurzeln und Kräuter, welche andre aus Artigkeit in die Nase stopfen, in einer Schnupftabaksdose bei sich trug. Die Übersetzung, die er an angeführtem Orte daraus mitteilt, macht ihn zum Erfinder einer im Deutschen noch nie gebrauchten Versart, der adonischen nämlich; und es ist seine Schuld ohne Zweifel nicht, wenn er keine Nachahmer darinne gehabt hat. Was übrigens den Inhalt des »Freigeistes« anbelangt, so wird auch der eigensinnigste Splitterrichter nicht das geringste darinne finden, was der christlichen Tugend und Religion zum Schaden gereichen könnte. Gleichwohl aber ward es – – – und dieses muß ich Ihnen zu melden nicht vergessen – – seinem guten Namen einigermaßen nachteilig, ihn geschrieben zu haben. Er behielt von der Zeit an den Titel seines Buchs statt eines Beinamens, und seine Bekannten waren noch lange hernach gewohnt, die Namen Mylius und Freigeist eben so ordentlich zu verbinden, als man jetzt die Namen Edelmann und Religionsspötter verbindet. Sie können sich leicht einbilden, daß diese Verbindung bei denen, welche die wahre Ursache davon nicht wußten, oft ein sehr empfindliches Mißverständnis werde verursacht haben. Es ist aber so ungegründet, daß ich es auch nicht mit einem Worte weiter widerlegen will. Ich will Ihnen vielmehr noch etwas von seiner zweiten moralischen Wochenschrift sagen, die er bald nach seiner Ankunft in Berlin heraus gab. Sie hieß der »Wahrsager«. Er kam nicht weiter damit,[535] als bis auf das zwanzigste Stück. Die fernere Fortsetzung ward ihm höheres Orts verboten, und es wäre seiner Ehre zuträglicher gewesen, wenn man ihm gleich den Anfang untersagt hätte. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ungleich er sich darinne sieht! Die Schreibart ist nachlässig, die Moral gemein, die Scherze sind pöbelhaft und die Satyre ist beleidigend. Er schonte niemanden und hatte nichts schlechters zur Absicht, als seine Blätter zur skandalösen Chronike der Stadt zu machen. Man schrie daher überall wider ihn, bis ihm das Handwerk gelegt ward. Als ein neuer Ankömmling in Berlin hatte er sich ohne Zweifel einen allzu großen Begriff von der hiesigen Freiheit der Presse gemacht. Er hatte gesehen, daß wichtige Wahrheiten hier Scherz verstehen müssen, und glaubte also, daß ihn die Einwohner auch ertragen würden, wenn er auch schon ein wenig massiv wäre. Allein er irrte sich! Die erstern können durch die allergrößte Mißhandlung nichts verlieren; die andern aber können auch durch die allerkleinste alles verlieren, nämlich ihre Ehre. Was also die Obrigkeit dort aus Sicherheit verstattet, das muß sie hier aus Mitleiden verbieten. – – – Das erste Blatt des Wahrsagers kam Donnerstags heraus. Den Sonntag vorher wußte Hr. Mylius noch nicht, wie es heißen sollte. Er lief hundert Namen durch, und konnte keinen finden, der ihm recht gelegen gewesen wäre. Endlich half ihm der geschwinde Witz eines guten Freundes noch aus der Not. Sie können sich nicht entschließen, wie Sie Ihr Blatt nennen wollen? sagte der Herr von K** zu ihm; Nennen Sie es den Wahrsager. Die zu dumm waren, Sie als einen Freigeist zu hören, die werden gewiß nicht zu klug sein, Ihnen als einem Wahrsager zu folgen. Dieser Einfall ward gebilliget, ob er gleich ein wenig boshaft war, und in drei Stunden war das erste Stück fertig. Mit eben dieser Geschwindigkeit hat Hr. Mylius auch die übrigen ausgearbeitet, und wenn dieser Umstand schon nicht ihren geringen Wert entschuldiget, so verhindert er doch wenigstens zu glauben, daß unser Tachygraphus sie nicht besser habe machen können. – – Ich bin etc.[536]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 534-537.
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