In Tangbüttel

[151] Kai von Vorbrüggen hatte den Feldzug bei seinem Regiment mitgemacht. Im Oktober war er verwundet worden und im Dezember wieder mit noch nicht ganz geheilter Wunde zum Regiment zurückgekehrt. Man sagte ihm nach, er wäre seinen Ärzten entlaufen. Die Folgen zeigten sich im Februar. Im März mußte er abermals zurück, um sich nun gänzlich herstellen zu lassen.

Die Generalin fuhr mit ihrem Sohn nach Ostende, wo auch Enewold ihn besuchte. Im Mai konnte er dran denken, wieder beim Regiment einzutreten. Als am zehnten Mai der endgültige Friede geschlossen worden war, nahm er seinem Versprechen gemäß den Abschied.

Er wollte nun gleich nach Tangbüttel kommen, doch die Ärzte ließen es nicht zu, wenn er auch schon seit Wochen die Krücken weggeworfen hatte. Er sollte noch bis Ende Juni die starke und stärkende Nordseeluft in Ostende gebrauchen. So mußte er stillhalten. Eines Tages, im Juni, kam eine Drahtnachricht aus Tangbüttel von Herrn Jepsen, dem Verwalter: Brief folgt gleich. Die Generalin und Kai begriffen nicht, was es zu bedeuten habe. Schon am Abend lasen sie in den Zeitungen verschiedener Länder unter den Depeschen,[151] daß Enewold auf seinem Gute Tangbüttel von Zigeunern ermordet worden sei. Das gab für sie eine schlaflose Nacht. Am andern Morgen kamen zwei eingeschriebene Briefe aus Hamburg. Der eine war von Herrn Jepsen, der andere von Doktor Schilting, dem Rechtsanwalt. Was die Generalin und Kai daraus erfuhren, waren schreckliche Tatsachen: Enewold hatte vor einigen Tagen zu wissen bekommen, daß sich trotz seiner strengen Verbote und Maßregeln wieder eine große Zigeunerbande auf seiner Haide zwischen Pukaff und dem Hause Koken Hohn (Gekochter Hahn) gelagert habe. Er ließ, es war schon dunkel, sofort satteln und jagte, nur von einem Reitknecht begleitet, in schnellster Gangart auf die Haide. Von weitem schon sah er die Lagerfeuer brennen und hörte Fiedeln und Schellentrommeln und die Mundharmonika. Er war außer sich. Sein Pferd spornte er zu äußerster Eile. Mit einem Mal hielt er, verzerrt vor Wut, unter ihnen und schlug blindlings mit seiner Reitpeische auf die Leute ein. Er traf einen jungen Zigeuner quer durchs Gesicht. Sofort hatten sie ihn und den Reitknecht, der seinem Grafen zu Hilfe geeilt war, unter empörtem Geschrei umzingelt und von den Pferden gerissen. Der, den er eben durchs Gesicht geschlagen hatte, stieß ihm in höchstem Zorn sein langes Messer in die Brust. Enewold war auf der Stelle tot. Es wurde eine wüste Szene: Alles floh so schnell wie möglich, ohne sich erst Zeit zu lassen, die Feuer zu löschen. Der Graf lag in seinem Blut allein zwischen den flackernden Flammen. Seinen Reitknecht hatten sie dermaßen fest geschnürt, daß er sich nicht rühren[152] konnte. Doch rief er unaufhörlich um Hilfe. Die Pferde grasten ruhig auf dem spärlichen Boden.

Mit den beiden eingeschriebenen Briefen war zugleich Doktor Schilting eingetroffen. Er brachte die ersten ausführlichen Nachrichten. Kai, der wußte, daß sein Regiment am achten Juli in Frankfurt a. Main, den neuen Standort, einziehen werde, wollte diesen Einzug noch mitmachen und dann nach Tangbüttel fahren. Frau von Vorbrüggen reiste einige Tage vor ihm nach Holstein, um ihn zu empfangen. Zwei Tage nach dem Einzug in Frankfurt, nachdem er seinem Regiment mit schwerstem Herzen Lebewohl gesagt hatte, eilte er nach Tangbüttel. Hier empfing nicht nur seine Mutter den »neuen regierenden Herrn«, sondern alles aus den nächsten Dörfern, aus der ganzen Umgegend war da, um ihn mit aller Förmlichkeit und Lustigkeit, mit Fahnen und Girlanden, Gesang und Ansprachen zu begrüßen, ihn, der eben den großen Einzug in Frankfurt mitgemacht hatte. So ist das Leben.

Schilting kam schon am nächsten Tage zum ersten Vortrag, und Kai sah sich der schwersten Last gegenüber: der Verwaltung eines ungeheuern Vermögens.

Der alte Schilting war von Kai gewonnen worden, sich nur ihm zur Verfügung zu stellen und alles andere aufzugeben. Er hatte sich dazu entschlossen gegen einen jährlichen Gehalt von vierzigtausend Talern = achtzigtausend Courantmark (später einhundertundzwanzigtausend Reichsmark). Mit dem Titel Generaldirektor.

An einem der folgenden Tage ließ sich Kai von seinem Generaldirektor in Hamburg einen planmäßigen[153] Vortrag halten über sein Vermögen. Das erste, was ihm Schilting riet, war: er möge seine Besitzungen in Rußland und Spanien, für welchen Preis immer, veräußern; das kleine Gut La Dorette an der Durance in der Provence aus persönlichen Gründen behalten. Seine Baronie Lillehammer und Mariagerhuus in Jütland dürfe überhaupt nicht verkauft werden. Er wies ihm an der Hand mitgebrachter Abschlüsse, unter Belegung durch Abmachungen, Pachtverträge, Hypothekenbriefe und hundert andere Papiere umständlich, doch klar seine Einkünfte nach. Zum Schluß erwähnte er, welches Geldgenie Enewold gewesen sei. Er habe Zins auf Zinsen aufgestapelt, außerordentlich klug gerechnet und berechnet. Wohltätigkeit im großen Sinne habe er nicht gekannt. Schließlich sei er für seine Person so bedürfnislos geblieben, daß er selbst dadurch sein Vermögen vermehrt habe. Das Größte, ja er hätte bald gesagt das Erhabenste sei bei Enewold gewesen, daß er es meisterlich verstanden habe, niemand außer den Beteiligten wissen oder merken zu lassen, wie ungewöhnlich reich er sei. Seine Bescheidenheit wäre wohl die größte Tugend bei ihm gewesen.

Er bat Kai, ihm morgen das Personal und die beiden Herren der Privatbriefgeschäftsstelle vorstellen zu dürfen. Diese beiden Herren hießen: Georg Schwensen und Albert Linke. Beide waren schon über sechzig Jahre alt und recht grauhaarig. Auf ihren Besuchskarten stand: Georg Schwensen, Candidatus referendi ministerii und Albert Linke, Oberlehrer a.D. Diesen beiden lag seit Jahren, gegen[154] einen Gehalt von je drei Tausend Courantmark (den Kai ums Doppelte erhöhte), als einzige Aufgabe ob: die Privatpost (die Bettelbriefe) täglich ohne Ausnahme zu öffnen und zu sichten. Im Durchschnitt betrug ihre Anzahl Tag für Tag vierhundert. Der Candidatus referendi ministerii und der Oberlehrer a.D. waren zwei feinfühlende, wohlwollende Menschen, die gänzlich parteilos ihr schweres, wichtiges Amt ausübten. Der alte Schwensen war ein gläubiger Christ, ohne sich im geringsten damit zu brüsten oder es öffentlich zu zeigen. Der alte Linke war ein überzeugter Gottesleugner, der sich die Zeitschrift Freie Glocken hielt; auch er belästigte niemand mit seiner Überzeugung. In seiner Geldtasche trug er ein Wort Tyndalls beständig mit sich herum: »Wenn ich Männer aufsuchen wollte, die im Halten von eingegangenen Versprechungen peinlich genau sind, deren Worte schwerer wiegen als Eide und denen irgend ein Charakterzug wie moralische Verschmitztheit fremd ist; wenn ich einen liebevollen Vater, einen treuen Gatten, einen rechtschaffenen Nachbarn und einen gerechten Bürger mir zur Seite haben wollte, ich würde ihn unter der kleinen Schar der Atheisten finden. Ich habe einige der ausgesprochensten unter ihnen nicht nur im Leben, auch in der Todesstunde gekannt; ich habe gesehen, wie sie mit offnen Augen das Ende erwarteten, ohne Furcht und ohne Hoffnung, und doch so bewußt aller Menschenpflichten und so sorgfältig in ihren Ausführungen, wie wenn eine unendliche Zukunft von ihren Handlungen abhinge.«[155]

Wie Enewold zu den vortrefflichen Menschen gekommen war, ist nicht bekannt geworden, und es ist auch gleichgültig. Er kannte ihre religiösen Ansichten, und es ehrt ihn, daß er sie bis an seinen Tod hochhielt und ihnen vertraute.

Jedesmal, ehe sie morgens an ihren Arbeitstisch gingen, las der alte Schwensen ein Kapitel aus der Bibel, und der alte Linke las sein Wort von Tyndall. Das war gleichsam eine Vorbereitung für den verantwortlichen Tag, der ihnen bevorstand. Kamen sie an, so fanden sie schon den Stapel Briefe für den heutigen Tag auf einem Mitteltisch. Dort lagerten sie, frisch von der Post gebracht, in zwei gleichen Teilen. Jeder nahm nun seinen Packen für sich an seinen Tisch. Zwei junge Gehilfen standen mit Papiermessern in der Hand neben ihnen und öffneten unter ihrer Aufsicht die Zuschriften. Dann entfernten sich die beiden jungen Leute, und die Arbeit begann.

Da die beiden Männer ihre Obliegenheiten schon seit Jahren gewohnt waren, hatten sie auch seit Jahren eine Fertigkeit im Erkennen, welche Briefe sofort weggelegt werden konnten, das heißt: die überhaupt nicht mehr in Betracht kamen. Das war Tag für Tag eine große Menge. Darauf folgte die zweite und dritte Sichtung. Was dann noch da war, waren immer nur ganz wenige Zuschriften, wenn es nicht vorkam, daß kein Brief zur weitern Erwägung übrig blieb. Die, die einer Berücksichtigung gewürdigt worden waren, wurden zurückgelegt. Enewold gab diesen Auserkorenen stets einen Dukaten, nie mehr.[156] Daß dies Geld voller Rücksicht an die richtige Stelle kam, war auch Sache der beiden Herren, und sie verstanden das vollkommen. Nie, das war Enewolds ausdrücklicher Wunsch, ja Befehl, durfte dabei nach der Religion, politischen Partei, nach der moralischen Würdigkeit gefragt werden. Jeden Abend, ob im Winter oder Sommer, wurden alle am Tage erledigten Briefe in einem großen Ofen verbrannt. Auch das hatte Enewold seinen beiden Bevollmächtigten zur strengen Pflicht gemacht.

Während Schwensen und Linke des Morgens über den angekommenen und geöffneten Schreiben saßen, war es ganz still im Zimmer. Schreiben für Schreiben fiel in einen neben jedem stehenden Papierkorb. Nur zuweilen lachte einer laut auf und teilte dem andern irgend eine seltsame Bitte und ähnliches mit. Auch berieten sie wohl zusammen, wenn sie sich über einen Inhalt nicht klar geworden waren. Alle Leiden und Ängste der Welt schienen sich in diesen Briefen zu treffen; auch Wut und Verzweiflung fand oft den Ton. Da zeigten sich Briefe wie: »Sie Mastschwein, Sie, wir werden Sie von ihrem überflüssigen Gelde befreien.« Und manche andere solcher Art.

Ja wahrlich, es war ein verantwortliches Amt, das die beiden verwalteten; denn alle, die geschrieben hatten, hofften auf Antwort. Jedem auf seine Bitten zu antworten, gehörte natürlich zu den Dingen der Unmöglichkeit.

Daß es trotz Enewolds Bescheidenheit und Zurückgezogenheit bekannt geworden war, wie unendlich reich er sein müsse, war selbstverständlich.[157]

Kai verabschiedete sich von seinem Generaldirektor, über dessen Eingangstür die Worte standen: Gräflich Vorbrüggensche Verwaltung. Er fuhr mit seinen russischen Füchsen, die er bei Beginn des Krieges an Enewold geschickt hatte, über den Ochsenzoll, am Kruge Pukaff vorbei, auf der Segeberger Landstraße nach Tangbüttel in schnellem, gleichmäßigem Trabe. Seine beiden russischen Pferde fielen in Hamburg bald auf. Er spannte sie deshalb nur vor den Wagen, wenn er nicht nach Hamburg hinein mußte. Auf dem ganzen Weg nach Tangbüttel saß er, in die linke Ecke gedrückt, in sich versunken, wie einer, der eben zahlungsunfähig geworden ist. Der Vortrag Schiltings hatte ihn fast schwindlig gemacht. Etwas drang nach und nach bei ihm durch: daß er helfen wolle, wo er nur könne.

Kaum in seinem Arbeitszimmer angelangt, machte er sich schon ein kleines Verzeichnis, wem er morgen, von Hamburg aus, Geld senden wollte. Dies Verzeichnis enthielt die Summe von achtzigtausend preußischen Talern. Vor allem bedachte er seinen alten Freund Klaus Klünder, der sich geldlich immer noch mühselig genug durchs Leben schlug, mit vierzigtausend Talern. Die andern vierzigtausend Taler sollten gleich morgen abgehen an zwei Kameraden von ihm, von denen er wußte, daß sie stark verschuldet waren.

Als er am andern Morgen Doktor Schilting die Liste vorlegte und die Absendung des Geldes befahl, fiel dieser in des Wortes Bedeutung beinah in Ohnmacht. Schilting konnte Kais Weisung erst garnicht fassen. Er glaubte, einen Irrsinnigen vor[158] sich zu haben. Als alle seine Vernunftgründe, sein Vorhalten, seine Einwände, seine klugen Gegenreden nichts mehr halfen, machte er eine stumme Verbeugung. Die achtzigtausend Taler gingen wahr und wahrhaftig an die ab, denen sie zugedacht waren.

Die nächsten vier Wochen hindurch hörte Kai, wie es gleich am ersten Tage verabredet worden war, die Vorträge Schiltings an. Der ihn dabei in alle denkbaren Einzelheiten des Betriebes einführte.

In einer der ersten Wochen wollte Kai einmal selbst die für den Tag angekommene Menge der Bettelbriefe durchsehen. Er ließ deshalb die beiden Herren mit diesen Briefen aus Hamburg abholen. In ihrer Anwesenheit fing er an, zu lesen und zu lesen und zu lesen. Bei jedem Briefe machte er eine Bemerkung: jede Bitte sollte gewährt werden, zum höchsten Erstaunen des Kandidaten referendi ministerii und des Oberlehrers a.D. Als schließlich, nach vielen Stunden, die Sitzung vorbei war, wurde die Summe aller der ausgesprochenen Wünsche gezogen: Es waren siebenundzwanzigtausend und einhundertundneun Taler. Nur für diesen einen Tag. Kai befahl für den nächsten Tag die Auszahlung. Schilting glaubte nun wirklich an eine Übergeschnapptheit Kais. Er ordnete die Auszahlung des Geldes an und bat Kai zugleich, ihm am Nachmittag in Tangbüttel seine Aufwartung machen zu dürfen. Er kam. Die beiden Herren hatten eine lange Unterredung in Kais Arbeitszimmer. Als Schilting abgefahren war, ging Kai noch einmal die Unterredung mit seinem[159] Generaldirektor für sich durch. Schilting hatte um seinen Abschied gebeten, den Kai ihm leidenschaftlich verweigerte. Sein Generaldirektor hatte ihm in eindringlichster Weise seine (Kais) Lage und sein Vermögen noch einmal klar und kurz auseinandergesetzt. Kai war darauf aufgesprungen und hatte ihm in seiner offnen Art versprochen, daß er von nun an sichere Einsicht genommen habe und daß er sich, was die Ansichten über sein Vermögen anbelange, gänzlich ändern werde und müsse. Sie waren in Frieden auseinandergegangen. Auf der Heimfahrt hatte Schilting das bestimmte Gefühl, daß Kai kein geborener Kaufmann sei, wie das Enewold gewesen. Doch hoffte er, aus ihm einen tüchtigen Verwalter seines Vermögens zu machen.

Die Folge davon, daß Kai den Wünschen der Bettelbriefe nur für den einen Tag nachgegeben hatte, war fast schicksalsschwer zu nennen: In den nächsten Wochen gingen täglich mehr als doppelt so viele Briefe ein. Natürlich.

Als Kai nach dem ersten Vortrag Schiltings ins Schloß zurückgekehrt war, hatte er am Abend ein langes Gespräch mit seiner Mutter. Beide waren immer noch wie benommen, daß nun sie, oder besser Kai, im Besitz eines so unerhörten Vermögens waren. Ja, sie waren beide plötzlich in ein lautes Gelächter ausgebrochen, wie man es wohl von denen zuweilen hört, über die plötzlich ein Glück oder ein hartes Unglück niedergegangen ist. Beide besprachen immer wieder, wie es doch unbegreiflich gewesen sei, daß ihnen Enewold so wenig Einblick gewährt habe.[160]

Ihre Exzellenz war die einfache, bescheidene Dame geblieben, wie sie es zeit ihres Lebens gewesen war. Nichts hatte sich im Gang ihres Gehabens geändert. Nur in einem gedachte sie große Summen auszugeben: für ihre religiösen und kirchlichen Bedürfnisse. So war es gekommen, daß eines Tages vor dem Schlosse große, vollbepackte Wagen standen, von denen Kai nichts wußte. Diese Wagen entluden, zur allgemeinen Verwunderung des ganzes Hofes, zuerst feindurchsichtige Drahtgitter, dann kamen allerlei lang und groß angelegte Sprüche aus dem Wagen heraus, wie: Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen, Glaube nur, Heil ist nur in Christo, In Christo wirst Du siegen, Vertraue Deinem Gott, Christus ist Dein Freund, Der Herr ist unsere Zuversicht, Sei stille dem Herrn, Selig sind des Himmels Erben – und noch viele mehr. Diese Worte sollten in den Drahtgittern befestigt und die Gitter auf den Dächern des Schlosses und der Umgegend aufgestellt werden.

Kai war sprachlos. Zum ersten Mal gab es eine heftige Szene zwischen Mutter und Sohn. Kai blieb Sieger. Ihre Exzellenz zog sich grollend für einige Zeit in ihre Zimmer zurück. Die Wagen wurden wieder zurückgesandt.


* * *


Enewold hatte still und für sich gelebt, einzig wohl nur mit seiner Vermögensverwaltung beschäftigt. Außer seinem Zeitungsreiter, den er sich erlaubt und den auch Kai beibehalten hatte, hielt er auf sein Mittagessen[161] sozusagen im großen Stil. Hinter jedem Stuhl stand stets ein Lakai. Neben ihm saß Fräulein Malchen und hinter ihm stand sein alter Haushofmeister Jürgensen. Das war seine einzige Ausgabe.

Kai behielt auch das feierliche tägliche Mittagsessen, zuerst um sechs Uhr abends, bei. Doch schaffte er bald die ganze Dienerschaft ab. Nur ein Kammerdiener für ihn war da. Bei Gesellschaften traten Gärtner, Kutscher, frühere Offiziersburschen, und was es von brauchbaren jungen Leuten auf dem Hofe gab, ein. Herr Jürgensen, der allmählig recht, recht gealtert hatte, stand nicht mehr hinter Kais Stuhl. Er bewohnte im Schlosse zwei nette Zimmer und bekam mit vieler Herzlichkeit und Liebe und mit vielem stetem Dank für alle seine Treue das Gnadenbrot. Tante Malchen war Tag für Tag mit der Generalin und Kai zu Tisch anwesend.


* * *


Kai hatte Enewolds Arbeits- und Schlafzimmer übernommen. Nur gab es eine Umstellung. Enewolds Arbeitszimmer, das nach der Vorderseite des Herrenhauses lag, war sein Schlafzimmer geworden, und Enewolds Schlafzimmer mit der Aussicht nach dem Garten sein Arbeitszimmer. Im ganzen Schloß hatte er sich sonst keine Neuerungen erlaubt: nur ließ er statt der breiten Tür zwischen seinen beiden Zimmern eine Tapetentür herstellen.

Auch im Park ließ er vorläufig alles beim Alten. Bloß den darin liegenden Garten seines Pächters hob[162] er auf; außerdem befreite er einige besonders hervorstechende Bäume von Unterholz und Gebüsch, daß sie ihre kraftvollen nackten Stämme zeigten in ihrer stolzen Schönheit. Auf einem freien grünen Platz pflanzte er zwei kaukasische Flügelnuß-Bäume, wie er sie vorm Holstentor in Lübeck gesehen hatte.

Dicht beim Tore war an einem Baum ein häßliches hölzernes Schild angebracht. Darauf stand: Hausieren, betteln und musizieren ist verboten. Er ließ es abnehmen und verbrennen. Zu seinem spätern Verdruß. Denn die Orgeldreher und das fahrende Volk hatten das sehr bald gemerkt, und konnten jetzt kaum mehr vom Hofe vertrieben werden. Sie erkannten schnell die große Gutmütigkeit Kais und nutzten sie aus.

Tagelang brauchte Kai dazu, ja, wochenlang, um Enewolds schriftlichen Nachlaß ein- und durchzusehen. Was fand er nicht alles vor. Alle Papiere, Aufzeichnungen, Briefe, die er in Enewolds Schreibtisch, in Kasten, Schränken und Kommoden, auf dem Boden entdeckt hatte, nahm er in die Bibliothek, um sie hier in Ruhe durchzulesen. Die Bibliothek rührte noch von Enewolds Vater her. Sie war in den letzten Jahren des achtzehnten und den ersten dreißig, vierzig Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zusammengesetzt. Für den Bücherliebhaber mußte sie das größte Entzücken sein: Nicht nur fand sich in ihr manche erste Ausgabe unserer großen Dichter, sondern alle Bücher waren in jenen künstlerischen Bänden eingebunden, die wir fünfzig, siebzig Jahre und darüber gänzlich verloren und gegen Geschmacklosigkeit eingetauscht haben. Erst jetzt[163] scheint man sich wieder auf den künstlerischen Einband langsam zu besinnen.

Enewolds Charakter war Kai niemals klar geworden. Kai hatte ihn für einen ruhigen, sehr klugen, zuweilen etwas boshaft lächelnden Menschen gehalten. Nur das konnte er sich deutlich vorstellen, daß Enewold stets und ständig an seine Krankheit denken mußte, und daß ihm das einen gewissen Stempel, wenn man sich so ausdrücken darf, aufpreßte für sein tägliches Leben. Niemals hatte er mit ihm über Kunst und Literatur gesprochen. Alle seine Gespräche mit ihm waren, wie das so auch üblich ist bei den meisten andern gebildeten Familien, nur ausgefüllt mit Politik, Landwirtschaft, Geld und mit den tausend andern abgedroschenen Sachen, über die man spricht.

Jetzt fand er zu seinem Erstaunen unter den Papieren Enewolds eine Menge Aufzeichnungen, die er sich nicht nur aus Büchern gemacht haben mußte, sondern die er auch aus sich selbst geschrieben haben mochte. Enewold mußte denn doch seinen Goethe gelesen haben, Kai fand vieles von unserm größten Dichter auf kleinen Zetteln:


Alles weg, was deinen Lauf stört,

Nur kein düstres Streben;

Eh er siegt und eh er aufhört,

Muß der Dichter leben.


Vom heutigen Tag, von heutiger Nacht

Verlange nichts,

Als was die gestrigen gebracht.
[164]

Wohl kann die Brust den Schmerz verschlossen halten,

Doch stummes Glück erträgt die Seele nicht.


Was verkürzt mir die Zeit?

Tätigkeit.

Was macht sie unerträglich lang?

Müßiggang.

Was bringt in Schulden?

Harren und Dulden.

Was macht Gewinnen?

Nicht lange besinnen.

Was bringt zu Ehren?

Sich wehren.


Wer in der Weltgeschichte lebt,

Dem Augenblick sollt er sich richten?

Wer in die Zeiten schaut und strebt,

Nur der ists wert, zu sprechen und zu dichten.


Noch andre Aufzeichnungen von Enewolds Hand fielen Kai auf:

Die Vorahnungen sind die Augen der Seele.

Napoleon.


Das Publikum beklatscht ein Feuerwerk, aber keinen Sonnenaufgang.

Hebbel.


Kai fand auch Zettel von Enewolds Hand, unter denen kein Name stand. Vielleicht waren sie von ihm selbst:


Leben ist eine einzige schwere Beleidigung.
[165]

Das ganze Leben ist Angriff und Abwehr und umgekehrt.


Der Übergang vom Knaben zum Jüngling ist leichter als der vom Manne zum Greis.


Ein altes Preußenwort: Herrendienst geht vor Gottesdienst.


Wir Menschen sind überall auf Erden die gleiche Bestie. Da aber, wo wir grade wohnen, leben immer noch schlimmere Bestien; so meint jeder von uns.


Jede Wohltätigkeitsveranstaltung ist eine Orgie der Eitelkeit.


Einem Verstorbenen wird nachgerühmt: Er hatte keine Feinde: Was muß das für ein Waschlappen gewesen sein.


Einsamkeit – Unabhängigkeit.


Zwei schöne Augen sah ich gestern,

Da war die Liebe drin und auch das Leid.

Die Liebe und das Leid sind Schwestern,

Es trennt sie keine Ewigkeit.


Noch allerlei Sprüche und Worte lagen zwischen Enewolds Papieren, mit denen Kai nichts anzufangen wußte, die ihn aber zum Nachdenken anregten. Enewolds Wesen wurde ihm immer rätselhafter.

Wenn einer ihn, Kai, jetzt im Lehnstuhl gesehen hätte: Es wäre ihm vielleicht durch den Sinn gezogen: Der geht einsam durchs Leben.


* * *
[166]

Vor kurzem hatte sich Kai seine Möbel und Bilder aus Mainz kommen lassen. Als er die Bilder seiner Offiziere und Soldaten, die alle über seinem Bett hängen sollten, in die Hand nahm, überkam ihn eine unendliche Sehnsucht. Hinter eins dieser Bilder schrieb er wie im Traum:


Bisweilen ist es mir, als ob ich höre

Krieg, Trommelwirbel und den Schrei der Hörner.

Und schwach klingt her aus ungemessenen Fernen

Ein siegestrunknes Hurra zu den Sternen.


Er lehnte sich in den Stuhl zurück und weinte laut und schmerzlich.

Bei der Mühle in den Knicks des hochliegenden Feldes hatte er sich ein Zelt hineinbauen lassen. Von hier aus sah man in die Weite, bis nach Nahe und Wakendorf hin, übers große Moor weg. Am Himmelsrand entwickelte sich oft für ihn eine Schlacht; ganz deutlich war alles für ihn wahrnehmbar. Zuweilen glaubte er sogar Geschützdonner zu hören.


* * *


Für den September hatte er soviel Offiziere seiner beiden Kriegsregimenter eingeladen, als da kommen wollten und konnten. Das waren lustige Tage bis in die Nächte hinein. Enewolds Weinkeller, der voll war von vielem guten und vorzüglichen, mußte herhalten. Die Generalin wurde ein wenig gestört; doch als alte Offiziersdame und Mutter eines Offiziers ließ sie fröhlich und gutmütig und verständnisvoll den Besuch austoben.[167]

Kai selbst war mäßig im Trinken. Er gab nichts drauf. Zuweilen, wenn er in Stimmung war, wenn er mit lieben Menschen zusammensaß, wenn er Marschmusik hörte, konnte ihn ein Fingerhut voll betrunken machen. War er nicht in Stimmung, so trank er überhaupt nicht; und wenn doch, so konnten ihm noch so viele Flaschen nichts anhaben.

Einen Tag vor der allgemeinen Abreise kam noch ein Rheinweinmittag dran. Er spendete zu einem guten Essen vier Sorten, die freilich auch später nicht mehr auf den Tisch kommen konnten. Denn die Flaschen wurden an diesem Tage alle leer getrunken. Die Aufeinanderfolge war:

1. Zeltinger Schloßberg.

2. Nürnberger Hof (Honiggeruch), Freiherr von Knoop, Wiesbaden. Ehemals Herzoglich Nassauische Domäne.

3. Steinberger Kabinett. Langenbach und Söhne.

4. Liebfrauenmilch. Kirchenstück. Ausbruch prima. Eigenes Gewächs. Langenbach und Söhne. Worms.

Der Herr Generaldirektor hatte an diesem Frühstück mit großem Verständnis teilgenommen. Er bedauerte nur, daß diese seltnen Weine so schnell vertropfen mußten. Bei Kai hatte er jetzt zu seiner Freude gemerkt, daß er auf vernünftige Gründe hörte; ja, er hoffte, aus ihm noch einen tüchtigen Kenner und Verwalter seines Vermögens zu machen. Nur das bekümmerte ihn: War Kai einmal auf etwas versessen, auf etwas, das er durchaus rasch in seinen Besitz haben[168] mußte, so hielt ihn nichts zurück, bis ers in seinen Händen hielt.

Die Kameraden waren in ihre Garnisonen abgereist. Stumm und abgelegen lag das wundervolle, große, prächtige alte Gut und Schloß Tangbüttel in seiner melancholischen Landschaft. Kai hatte sich aus seinem Thienenschen Hause in Kiel noch einige Empiremöbel kommen lassen und wohnte nun völlig zu seiner Zufriedenheit. Seiner Mutter, die er kindlich und mit höchster Ehrerbietung liebte, war er der treueste Sohn. Die kleine unangenehme Angelegenheit mit den Gittergerüsten über den Dächern, die Frau von Vorbrüggen in die Wege geleitet wissen wollte, war erledigt und vergessen. Ihre Exzellenz fuhr jeden Sonntag zu einem lieben Prediger in die Kirche nach Bergstedt, zu der Tangbüttel eingepfarrt war. Sie tat wohl, wo sie konnte, half und riet und beriet und war bald der gute Engel in der ganzen Gegend. Kai stellte ihr dafür alle Mittel mit größter Freigebigkeit zu Gebote.


* * *


An einem weichen Oktobertag, der Frühlings- und Sommerlüfte noch einmal in sich vereinigte, kam Kai von Hamburg zurückgefahren, gelangweilt von einem ausgedehnten Bericht seines Generaldirektors. Er ließ bei Pukaff halten, wo er etwas mit dem Wirt in Kreis- und Kriegervereinsangelegenheiten besprechen wollte. Von der Tenne hinten klang Walzermusik. Schurrende Schuhe ließen sich hören. Kai, der unendlich gern tanzte, ging an die Tür und sah hinein.[169] Er konnte nicht widerstehen. Die gebotene Trauerzeit, vielleicht auch die versammelte Gesellschaft selbst, hätten ihm Halt gebieten müssen. Er kehrte sich nicht daran. Außerdem waren es anständige, ehrenwerte, lustige Leute der Umgegend, die ihn kannten und die er kannte, die heute ein Ernte- oder irgend ein anderes Fest in ihrer harmlosen Weise feierten. Der Gutsherr tanzte mit den ländlichen Schönen. Besonders war es der Walzer, sein Lieblingstanz, den er immer wieder von den Musikanten forderte. Er tanzte und tanzte, als wolle er ein lang vermißtes und versäumtes Vergnügen gründlich nachholen. Von seinen schwarzen Augen sprach man schon, seitdem er als Knabe und Erbe (das wußte man) in Tangbüttel bekannt war. In seine nachtschwarzen Augen hatten sich, wie überall, die Mädels verliebt. Und was für ein aufgeräumter, leutseliger Kerl er war. Im Kreise erzählte er seinen Bauern und Handwerkern und denen, die um ihn herum saßen, Schnurren, wenns auch mit seiner plattdeutschen Sprache, die er nicht von der ersten Kindheit an gesprochen hatte, etwas haperte. Alles brachte er zum Lachen. Er lachte selbst ausgelassen, wenn ein andrer in diesem Kreis irgend eine Klatschgeschichte vortrug, die just in der Umgegend herumgetragen wurde. Selbstverständlich bezahlte er stets die Runden, und ließ auch den Wirt ordentlich anrechnen. Das alles machte ihn beliebt. Keiner verlor die Ehrerbietung gegen ihn, wie er es auch selbst meisterhaft verstand, den richtigen Augenblick des Aufhörens abzupassen: sich zurückzuziehen, wenn sein Gefühl es ihm sagte. Das ist eine der angenehmsten[170] Eigenschaften, die ein Mensch haben kann. Vielleicht war es eine der größten Eigenschaften Goethes.

Kai tanzte und tanzte. Seiner vernarbten Wunde tat es nichts. An Enewold dachte er heute nicht in seiner Tanzwut. Was von ihm geredet wurde, war ihm von jeher einerlei gewesen. Er tanzte und tanzte. Besonders viel mit einem hübschen, echt holsteinschen Bauernmädchen, in das er sich verliebte. Sie hatte ihn zuerst immer beobachtet und ein neidisches Gefühl gehabt, wenn er andere Mädchen herumschwang. Doch sie wußte es, zuletzt mußte er zu ihr kommen. Und er war gekommen.

Eine weiche Sommerherbstnacht war auf den weichen Sommerherbsttag gefolgt. Kai hatte seinen Wagen weggeschickt. Er ging mit dem Mädchen, das er mit dem rechten Arm an sich gezogen hatte, langsam den Feldweg nach Duvenstedt zu. Der Vollmond gab sein Licht der stillen Nacht, die so still war, daß man zuweilen, trotz der großen Entfernung von Hamburg-Altona, die überlauten Sirenen der spanischen Schiffe hören konnte, die in den Hafen liefen.

Die beiden gingen langsam vorwärts. Der vielfache Millionär und die arme Kätnerstochter. Sie waren beide jung und stark und sehnsüchtig nach der Liebe. Auf unsrer unartigen Erde, die uns so wenig Gutes gönnt, gibt es nichts, das uns so erfreuen kann und soll, als das bissl Liebe um Mitternacht.

Erst um sechs Uhr morgens kam Kai in seinem Herrenhaus wieder an. Es fiel keinem auf, weil er, ein Frühaufsteher, oft schon in den ersten[171] Stunden des Tages in Wald und Feld gesehen worden war.


* * *


Einige Tage darauf fand Kai im Nachlaß Enewolds, den er noch immer nicht ganz aufgeräumt hatte, einen kleinen Blechkasten. Ein Hängeschlößchen hing daran. Der Schlüssel lag vorm Kasten. Allerlei Vergilbtes und Vergessenes häufte sich darin. Für Enewold war es wohl nicht Vergilbtes und Vergessenes gewesen. Er mochte oft genug den Inhalt in seinen Händen gehalten haben.

Zuerst nahm Kai eine Anzahl Briefe heraus, die, glatt aufeinander, von einem blauen Faden gehalten wurden. Auf ihnen lag ein vertrocknetes Resedabündelchen, mit einem rotseidenen Fädchen gebunden. Dies Resedasträußchen duftete nicht mehr. Kein Schreiben hatte ein Datum, eine Ortsangabe. Alle waren unterzeichnet mit dem einzigen Namen Silvestra. Nur in einem von ihnen stand die Angabe eines großen Gutes zwischen Kiel und Nortorf. Mit den Besitzern dieses Schlosses hat einmal auch Goethe einige Briefe gewechselt.

Kai las und las. Er konnte aus dem Inhalt zuerst nicht klug werden. Nur das war scharf herauszulesen, daß es Liebesbriefe waren, geschrieben von einer Frau oder von einem Mädchen, die bleibend dort gewohnt hatte. Die Schrift war zierlich, gleichmäßig. Rührende Klagen und eine tiefe Sehnsucht und zugleich gänzliche Entsagung klangen aus ihnen heraus. Kai stellte bei sich fest, daß sich Enewold und sie geliebt[172] haben mußten, daß Enewold ihr von seiner Krankheit offen erzählt und ihr bedeutet habe, daß deshalb an eine Vereinigung nie zu denken sei.

Dann entdeckte Kai noch verschiedenerlei in diesem Kästchen: Einen Pedigree, wahrscheinlich von einem Lieblingspferd Enewolds. Es stand unter dem Stammbaum: Königliches Hauptgestüt Registratur Trakehnen. Unter den Vorfahren des Hengstes fanden sich manche berühmte Namen, wie Papillon, goldbraun, Englisch Vollblut, und Portland, kirschbraun, Englisch Vollblut; aus den ersten englischen Rennen.

Ferner einen Erlaß des dänischen Königs Friedrich des Fünften: Urkundlich unter unserm Königl. aufgedrucktem Regierungs-Sekret. Geben in Unsrer Stadt und Feste Glückstadt, den 24. Dez. Anno 1751.

Wir Friedrich der Fünfte von Gottesgnaden König zu Dänemarck usw. Entbieten denen Hoch- und Wohlgebohrnen, Wohlgebohrnen, Hoch- und Wohl-Edlen, Edlen, Wohlgelahrten und Ehrsamen, Unseren Amt-Leuten, Land-Drost, Land-Sassen, Land-Vogt, Bürgermeistern und Rath in den Städten, und sämmtlichen Unseren Bedienten, wie auch Unsern lieben und getreuen Unterthanen Unsres Hertzogthums Hollstein Unsere Gnade, und wird euch bereits bekannt seyn, wasmassen es dem allwaltenden Gott gefallen, die Weyland Durchlauchtigste, Großmächtigste Fürstin, Frau Louise, Königinn zu Dännemarck, Norwegen usw. Unsere im Leben gewesene Hertzvielgeliebteste Gemahlin, den 19. Hujus durch einen seeligen Tod aus diesem irdischen abzufordern und in sein ewiges Freuden-Reich zu versetzen.[173]

Wann Wir nun, zu Bezeugung der Uns und Unserm Königl. Erb-Hause dadurch zugestoßenen tieffen Trauer, nachgesetzte Verordnung ergehen zu lassen, für nöthig befunden; Als mandiren und befehlen Wir euch hiemit Allergnädigst wollende, daß ihr die unverzügliche zulängliche Verfügung machet, damit in allen Kirchen Unsers Herzogthums Hollstein, Herrschaft Pinnenberg, Graffschaft Rantzau und Stadt Altona, die Glocken zweymal des Tages, nemlich des Vormittags von 10 bis 11 Uhr, und des Nachmittags von 5 bis 6 Uhr geläutet, übrigens aber alle Musique inn- und außerhalb der Kirchen eingestellet, und solches bis zu Unserer weiteren Verfügung beobachtet werde; wie Wir dann auch zugleich hiemit anbefehlen, daß alle zum Zeichen ihres pflichtschuldigsten Beyleides sich selber, sammt ihren Leuten und Dienern, Ein Jahr lang mit schwartzen Trauer-Kleidern kleiden. Wornach ihr euch sammt und sonders zu achten, und Wir verbleiben euch mit Königlichen Gnaden wohl beygethan.

Ferner lag ein verblaßtes Briefchen da: Receive, my dear Adeline, this little mômento of a affectionable esteem from an old friend, whose prayers and intercessions will ever be (unleserlich) of Grace to bless and protect You and Your belowed little Sister Elvira.


A. Thomas.


Dalston, 8th. August 1819.


Weiter: Einige Zettel und Aufzeichnungen von Enewolds Hand:[174]

Das sicherste Zeichen, mit großen Eigenschaften geboren zu sein, ist, keinen Neid zu kennen.


Larauchefoucauld.

Arabische Spruchweisheit:


Ohne Verabredung öffne keine Tür.

Kannst du seine Hand nicht abhacken, küsse sie und führe sie an deine Stirn.

Gemeine Menschen werden bekannt, wenn sie edle Menschen bespeien.

Wenn du etwas nicht verstehst, nenne es nicht gleich dumm; es könnte deiner Tante Schwestersohn Schuld am Nichtverstehen tragen.

Willst du Ruh und Frieden finden? Dann bewahre das Schweigen. Wer vom Verlangen zu reden beherrscht ist, der liefert alles, was er besitzt, der Plünderung aus. Viele Worte, und hätten sie den Wert der Perlen Edens, sind der Seele Tod.

Auf einem blauen Papier hatte Enewold geschrieben: In Tiefental las ich folgenden Hausspruch: Fortunae Comes Invidia (Der Begleiter des Glücks ist der Neid).

Dann fand Kai von Enewolds Hand: Das Menuett für Viola d' amore von Milandre (Mitte des 18. Jahrhunderts) könnte ich immer wieder hören. Ebenso den Gesang zum Cembalo: Sagt, wo sind die Veilchen hin. Von Peter Schulz (1747-1800).

Von Enewold war ferner abgeschrieben:

Bergerettes (18. Jahrhundert):


Jeunes Fillettes.


Jeune fillette, profitez du temps,

La violette se cueille au printemps,[175]

La la la rirette, Larilonlanta.

Cette Fleurette passe un peu de temps,

Toute amourette passe également.

Jeune fillette, profitez du temps,

La violette se cueille au printemps,

La la la rirette, Larilonlanta.

Dans le bel âge prenez un ami,

S' il est volage, rendez le lui.

Jeune fillette, profitez du temps,

La violette se cueille au printemps,

La la la rirette, Larilonlanta.


Hierunter hatte Enewold geschrieben: Dies reizende Schäferliedchen sang mir Felicitas; sie mußte es mir immer wieder singen.

Endlich zeigten sich unten auf dem Boden des Blechkästchens zwei kleine Bücher: Stammbücher. Sie enthielten allerlei aus der Rokokozeit und aus den Jahren der Empfindsamkeit. Auch von Schiller standen einige Verse darin.

In diesen Büchelchen gab es ein Bildchen: Eine antike Vase auf einer Säule. In der Mitte der Säule ein Kranz, in dem 1803 stand. Dann eine umgestürzte gebrochene Säule mit einem Tränentuch darauf. Darunter hieß es: Ein leiser Zephyr trug des Grabes Frieden zu seinem Aschenkrug. Gott aber zeichnete die Leiden dieses Müden in sein Vergeltungsbuch.

Nehmten, den 17ten März 1763.

Friederike.


Viele getrocknete Blumen waren eingeklebt. Oft gab es kleine Unterschriften zu ihnen. Unter eine war geschrieben:[176] Eine Sternblume vom Brocken, die mein Andreas selber gepflückt hat und mir in einem Brief geschickt.

Mehlbeck, den 11. July 1801.

Wulffhilde.


Unter einem getrockneten Vergißmeinnicht: Dieses Vergißmeinnicht bekam ich von Mutter, wie Sie zum Abendmahl war.

Hygom, den 3. März 1802.

Kiel, den 30. Oktober 1803:

Ging die Sonne, die ich anbete, sehr freundlich unter. Ich dankte Gott, der diese Sonne schuf für mich zur anbetenden Gottheit. O Gott erhalte mir meinen innigst geliebten Mann und die Liebe meiner Kinder und ich bin unaussprechlich glücklich.

Beide Stammbücher waren angefüllt mit vielen kleinen durchbrochenen Papiernetzen, deren Boden aufgeklebt war und die man an einem Schleifchen in die Höhe ziehen konnte: Man sah getrocknete Blumen oder winzige Haarbüschel. Bei diesen standen Vornamen. Eins dieser Netzchen hatte schwarzen Untergrund und ein schwarzes Schleifchen, an dem es emporgezogen wurde. Im Netz war ein verschwindend kleiner Teil ganz hellblonder Härchen. Darunter hatte eine Frauenhand geschrieben:


Losgewunden von dem Staubgewande,

Schwingt der Geist unsterblich sich empor,

Liebe findet in der Heimat Lande

Wieder einst, was Liebe hier verlor.

O mein Kind, Leb wohl.


Lillehammer, d. 24.ten July 1813.

Deine Mutter Öllegaard.
[177]

Viele klagende Verse enthielten die beiden Bücher:


Wohl mancher spricht, ich liebe, die mich lieben,

Verrat an Lieb und Freundschaft üb ich nicht.

Ists ein Verdienst, der Liebe Pflicht zu üben,

Wo Liebe leichte, liebe Pflicht?


Der Dankbarkeit vergaß ich nie im Leben,

O weh dem, dem des Danks Gefühl gebricht!

Dem Geber, und mit Zins zurückgegeben,

Ist eine leichte, liebe Pflicht.


Doch will der Feindschaft Gift zum Keim gedeihen,

In deinem Herzen Groll und Rachsucht spricht,

Bekämpfe diesen Feind und ruf: Verzeihen,

Du übst die schwerste – schönste Pflicht.


Vergiß mein nicht, wenn lockre, kühle Erde

Dies Herz einst deckt, das zärtlich für dich schlug,

Denk, daß es dort vollkommner lieben werde,

Als da voll Schwachheit ichs, voll Fehle trug.

Dann soll mein ferner Geist oft segnend dich umschweben

Und deinem Geiste Trost und süße Ahndung geben.

Denk, daß ichs sei, wenns sanft in deiner Seele spricht:

Vergiß mein nicht, vergiß mein nicht.


Leid aus Glück und Glück aus Leid

Gab die gute graue Zeit;

Graue Zeit wird wieder jung,

Zukunft bringt Erinnerung.
[178]

Das arme Herz hienieden,

Von manchem Gram bewegt,

Erlangt den wahren Frieden

Nur wenn es nicht mehr schlägt.


Ich habe abgerechnet mit dem Schicksal, ich habe das Teil Glückseligkeit, das mir in diesem Leben beschieden war, empfangen. Und in Nacht gehüllt, fließt nun mein Dasein dahin bis zum letztem Athemzuge.

Mariagerhuus, Februar 1799.

F.


Kai packte alles wieder sorgsam ins Blechkistchen und nahm es mit hinunter zu seiner Mutter, der er es zeigte. Sie kamen wieder in ein langes Gespräch über Enewold. Es mußte doch in seinem Innern ein Eckchen gewesen sein, in das er allerlei Stilles hineingestellt, das er gelegentlich in einsamen Stunden auf seinem Zimmer herausgeholt hatte, um sich in seiner Art, für sich allein, daran zu erfreuen.

Niemals hatte Kai irgendwelche Berechnungen, Entwürfe oder ähnliches von Enewold im Schlosse gefunden; er hatte augenscheinlich den Kaufmann ganz zurückgedrängt in Tangbüttel.


* * *


Am einunddreißigsten Oktober, an einem klaren, sonnigen Herbsttag, saß Kai in seinem Zelt im Knick und schaute in die Ferne. Diese Aussicht nach dem[179] Osten und Norden, in die ein wenig wellige Gegend nach Wachendorf und Nahe hin, machte ihn immer trübe. Er liebte sie wie keine andere Gegend der Erde. Heute sah er wieder eine große Schlacht vor sich. Ja, er hörte sie. So tief versenkte er sich in seine Feldzugserinnerungen. Es war ihm, als läge ein treuer Jugendfreund, den er im österreichischen Kriege verloren hatte, tot vor ihm unter Syringen, die sich an dieser Stelle des Knicks zwischen den andern Gesträuchen Platz gemacht hatten, wenn sie auch für dies Jahr längst abgeblüht waren. Er starrte wie abwesend auf den Fleck. Es kam ihm vor, als wenn er in Wirklichkeit dort seinen gefallenen Freund liegen sähe. Was blüht ihr wieder, heitere Syringen, wollt ihr mir Grüße eines Toten bringen? Er war mein Freund, er wars in Lust und Leiden, um dessen Stirn die Frühlingslocken hingen. Uns schwanden manche Stunden, jugendtolle: Das Morgenrot noch hörte Becherklingen. Das nahm ein Ende, als die Schlachtenadler die Flügel breiteten auf Sturmesschwingen, und der Granaten unheilvolle Wolken in Lüften spielten gleich den Schmetterlingen, als unsere Fahnen, rot in Abendgluten, Sieg kündend flatterten nach heißem Ringen. Auf allen Höhen, in den Tälern schliefen, die gar zu brüderlich den Tod empfingen, und unter ihnen fand in einem Garten, von fern herüber tönte Siegessingen, den Freund ich, abendkühl, wie schlafbezwungen, beschattet still von blühenden Syringen.


* * *
[180]

Kurz drauf bekam Kai einen Brief aus Hamburg aus dem Gasthof Kaiser von Brasilien. Er kannte diesen Gasthof nicht. Entdeckte ihn in der Nähe des Hafens. Das Schreiben war schwülstig und übertrieben demütig gehalten. Kai glaubte, daß es aus Versehen nicht in die Briefschaften hineingeraten sei, die die Herren Schwensen und Linke täglich zu bearbeiten hatten. Aus dieser Inschrift, die mit den Namen Asiaticus (Ragist Dimitri) und Silesius (Janusch Korpatsch) unterzeichnet war, klang eine durchdringende Bitte heraus, Kai möge in diesen Gasthof zu ihnen kommen, es gelte ihre ewige Seligkeit. Habe er Furcht, allein zu gehen, so möge er soviel Begleitung mitnehmen, wie er wolle. Obgleich das Schreiben ganz augenscheinlich von einem öffentlichen Volksbriefsteller abgefaßt war, klang doch ein Ton heraus, der das schwergeängstigte Herz der beiden Bittenden erkennen ließ. Zuerst wollte Kai es in den Papierkorb werfen, aber die Neugier trieb ihn, sich am andern Tag allein auf den Weg zu machen zum Kaiser von Brasilien. Zu Fuß. Er fand einen räucherigen Gasthof in einer der Straßen, die nach dem Scharmarkt führen. Furchtlos trat er über die Schwelle. Er wurde sofort, ohne jede bis zur Erde reichende tiefe Verbeugung, die der Hamburger Gottseidank nicht kennt, vom Wirt empfangen und eine wacklige enge Treppe hinauf und in ein kleines Zimmer, das nach der Straße seine Fenster hatte, hineingeführt. Hier fielen ihm beim Eintreten zwei Männer zu Füßen und umklammerten seine Kniee. Etwas ungewohnteres kennt man nicht in[181] Hamburg und im ganzen Norden. Er sah, ein wenig erregt, auf sie hinab, sah vorläufig nur zwei Menschen, die in dicke, grobgewürfelte Röcke, nach englischem Schnitt und Muster, gekleidet waren. Sie erhoben sich langsam; zwei dunkelbraune Gesichter, mit schwarzen Bärten und schwarzen Augen, wurden er kennbar. Der eine von ihnen sprach, in schlesischer Mundart, leidenschaftlich auf Kai ein, der erst gar nicht verstehen konnte, was er eigentlich wollte. Mit einem Mal wurde es ihm klar: sie waren von jener Truppe, von der einer Enewold erstochen hatte. Nun hörte er zu: Wie eine wildgewordene Sonne (so sagte der Sprechende wörtlich) sei Enewold in ihr Lager eingebrochen und habe blindlings, ganz gleich wen er traf, in sie mit seiner Reitpeitsche hineingeschlagen. Da habe ihn einer, den er mitten durchs Gesicht getroffen, mit seinem langen Messer ins Herz gestoßen, daß der Graf sofort tot vom Pferde gesunken sei. Alles sei dann auf der Stelle geflohen, ohne sich erst Zeit zu lassen, die Feuerstellen auszulöschen. Der Totschläger sei entkommen, man habe nie wieder etwas von ihm gehört, so eifrig auch die Behörden die Verfolgung aufgenommen hätten. Niemals wäre seitdem ihr Trupp wieder in die Gegend von Tangbüttel gekommen. Jetzt stünden sie vorm Grafen Kai und bäten ihn, er möge ihnen verzeihen; sie könnten ihr Gewissen sonst nicht entlasten. Abermals fielen sie Kai vor die Füße.

Kai sah erstaunt auf sie hinunter. Der Humor meldete sich bei ihm, als er diese wilden Heiden- und Haidemenschen ganz christlich sprechen hörte von ihrem[182] belasteten Gewissen. Er bat sie, aufzustehen, und sagte ihnen freundlich, daß er ihnen nichts nach tragen wolle. Da sprangen die beiden braunen Gesellen auf und küßten ihm die Hände und gelobten ihm, in jeder Gefahr ihm zu helfen. Er möge sie nur rufen lassen, sie kämen, wo immer sie auch grade ihre Wagen ruhen ließen.

Nachdenklich und belustigt zugleich, entfernte sich Kai. Es kam ihm vor, als wenn er eben ein Kapitel in einem Hintertreppenroman gelesen hätte. Er dachte darüber nach, ob er richtig gehandelt, und das Ergebnis war, daß er es getan habe. Er hatte eine Überraschung erlebt, und bei Überraschungen ist Geistesgegenwart vonnöten.


* * *


Kai hatte sich das nächste halbe Jahr eingeteilt: Besuch der Grafschaft Stormarn, worin Tangbüttel liegt. Fahrt nach Kiel. Für das Ende des Novembers hatten sich Henning und Klaus auf achttägigen Besuch angesagt. Im Februar sollte die Reise losgehen nach La Dorette an der Durance in der Provence, über Rom, Neapel, Palermo nach Marseille. Von hier aus in die Provence hinein. Er wollte, der erregten Stimmung der Franzosen wegen, kurz nach dem großen Kriege La Dorette unerkannt aufsuchen. Seine Meisterschaft in der französischen Sprache sollte ihm dabei dienlich sein. Seine Liegenschaften in Spanien (Erzgruben) und die weitausgedehnten Güter in Livland und Weißrußland konnten nur verkauft werden, wenn[183] das Auswärtige Amt in Berlin seine Hilfe bot, natürlich nicht, was die Verkaufssumme anging, sondern mit seiner diplomatischen Kunst. Das konnte sich womöglich ein Jahrzehnt in die Länge ziehen. Nach Rußland und Spanien zwang es ihn deshalb jetzt nicht. Aus Frankreich wollte er über Österreich, vielleicht mit einem Abstecher nach Siebenbürgen und nach den böhmischen Schlachtfeldern, nach Tangbüttel zurückkehren. Gleich darauf seine jütländische Baronie Mariagerhuus und Lillehammer, die er nicht veräußern durfte, aufsuchen.

Zu Anfang des Novembers reiste er ab in die Grafschaft Stormarn, die er vor allen Dingen kennen lernen wollte, weil Tangbüttel in ihr liegt.

Die Grafschaft Stormarn hat, wie das große Rußland, zwei Hauptstädte: Hamburg und Lübeck. Der Landstreifen zwischen ihnen, dessen Grenzen sich im Laufe der Jahrhunderte zuweilen ein wenig verschoben haben, heißt der Gau Stormarn. Auch heißt er der Wedel-Gau, weil von hier aus das berühmte Geschlecht in die Welt gegangen ist. Vielleicht ist dies uralte Haus aus einer ganzen Kaste entstanden: aus der heidnischen Priesterkaste im damaligen Stormarn.

Die Geschichte dieses Gaues ist bedeutungsvoll: hier wurde endlich im Norden Europas der asiatischen Völkerflut ein letzter Damm gesetzt.

Ein altes Wort von Fahrenhorst bei Tangbüttel heißt: »Dorp Fahrenhorst sünd ruge Lüd in Busch un Brook.« Vielleicht steht dies Wort in Verbindung mit der ganzen Grafschaft, die ihren Namen, nach Adam von Bremen, daher habe, weil dies Volk häufig[184] vom Sturm des Aufruhrs bewegt werde. Die Entstehung des Namens nach dem Flüßchen Stör, das kaum jemals in Berührung gekommen ist mit dieser Landschaft, hat keinen Sinn. Die beste Erklärung gibt uns Dr. Friedrich Bangert in Oldesloe, der ausgezeichnete, unerbittliche Gelehrte: »Auf dem verlassenen Boden ließen sich in aller Stille Wenden (Slaven) nieder, deren Volksgenossen, von Osten kommend, nach dem Abzuge anderer deutscher Völker schon das ganze Hinterland der südlichen Ostseeküste bis tief in das alte Germanien hinein besetzt hatten. Seitdem war der Grenzwald an der Ostseite der Sachsen nicht mehr Scheide zwischen verwandten deutschen Völkern, sondern die Grenze des deutschen Landes selbst gegen fremdes, anders geratenes Volkstum«. Und er sagt ferner: »Stormarn, das lautgesetzlich auch jetzt noch Stormern mit unbetontem e, wie Bayern und Engern, gesprochen werden müßte, heißt nach dem Gauvolk der Stormer oder Stürmer, und dieses wieder heißt höchstwahrscheinlich nicht so wegen eines etwaigen stürmischen Charakters, sondern nach seiner Herkunft aus dem Gau Stürmen oder Sturmland an der untern Aller. Wenn dem so wäre, hätte Karl der Große überelbische Sachsen gerade aus der Gegend hier eingeführt, in der er nach den fränkischen Chroniken im Jahre 782 den Mut zu fernerem Widerstande durch ein furchtbares Strafgericht zu knicken suchte.«

Karl der Große. Das Genie. Ein Blutmensch. Von Spanien und Italien bis nach Stormarn und weiter hinein bis nach Holstein (Itzehoe) dehnte er seine Herrschaft aus.[185]

Genau nach tausend Jahren spannt ein andres Genie seine Flügel aus von Rom und Spanien bis nach Hamburg: Napoleon.

Karl läßt einen Grenzwall, den Limes Saxoniae, zwischen den Sachsen und Slaven, die er zeitweise auch als Verbündete gebraucht hat, errichten, mit Burgen und befestigten Kornspeichern. Nun bricht in Stormarn ein jahrhundertelanger Kampf aus zwischen den beiden Völkern. Ist das ein ewiges Gemetzel, Rauben und Brennen! Siebenmal wird Hamburg und seine Umgebung von den Slaven verwüstet. Und es ist ein Zeichen der Kraft und Gesundheit dieser gewaltigen Stadt, daß sie sich immer wieder aus den Trümmern erhoben hat.

Die Slaven schleppen ihre Götzen, die sie bis nach Plön und Kiel aufstellen, ins Land. Immer wieder dringt das Christentum unter mutigen, ja tollkühnen Bischöfen und Priestern vor, die fast alle unter gräßlichen Martern enden. Immerhin mochte dies Sichwehren der Wenden, die ein gutmütiges Volk von Haus aus waren, dadurch entstanden sein, daß man ihnen ihr Volkstum nehmen wollte. Immer wieder, einmal fast zwei Jahrhunderte lang, ging das Christentum an die Slaven verloren. Bis endlich die Sachsen siegten. Aber noch heute gibt es viele slavische Dorf- und Fluß- und Flurnamen, die, trotz der Verplattdeutschung, zu erkennen sind. In der Bevölkerung zeigen zuweilen noch die braunen Augen und die mongolischen Backenknochen die asiatische Abkunft an.

Oldesloe, vielleicht von Odins Lohe: Unterbusch,[186] Hain, abzuleiten, wo ein heiliger Hain Odins gewesen sein mag, tritt in der Geschichte dieses Gaues hervor. Oldesloe ist jetzt die Hauptstadt. Berühmt früher durch seine Salzquellen. Da erscheint hier, 1151, Heinrich der Löwe, wütend, neidisch, eifersüchtig über den Wettbetrieb mit seiner Stadt Lüneburg. Er brüllt, er schüttelt die Mähne und verscharrt mit seinen plumpen Tatzen die Salzquellen Oldesloes dermaßen, daß die Hauptquelle noch heute nicht wiedergefunden ist.

In der Nähe von Oldesloe liegt Tremsbüttel. Dies war früher einmal der Amtssitz des Dichters Grafen Christian Stolberg. Bei ihm hielten sich oft Klopstock, Voß, Bürger, Claudius, ja auch Hölderlin auf. Ihren Lieblingsplatz hatten sie unter einer mächtigen Linde, die noch heute steht.

In unmittelbarer Nähe der Grafschaft, an der Nordwestecke des Kreises Stormarn, im Kreise Segeberg, entspringt die Alster, um sich dann durch Stormarn nach Hamburg zu wenden und hier (wenige wissen: wo) in die Elbe zu münden. Jeder in Hamburg Geborene müßte verpflichtet sein, wenigstens einmal in seinem Leben hinzugehen, um dort mit übereinander geschlagenen Armen seine tiefe Verbeugung zu machen vor der heiligen Quelle, der die erlauchte Republik ihren schönsten Schmuck zu danken hat.


* * *


Als Kai von seiner Kreuz- und Querfahrt in Stormarn zurückgekehrt war, fuhr er sofort nach Kiel, um sich dort einige Tage in seinem Thienenschen[187] Hause aufzuhalten. Eigentlich war es die Sehnsucht, die ihn dahin trieb, die Sehnsucht nach der kleinen Wilhelmine Wendelin, die jetzt nicht mehr die kleine Wilhelmine genannt werden konnte. Kai gehörte zu den Menschen, die plötzlich von einer unnennbaren Sehnsucht überfallen werden, die nach einigen Tagen ebenso plötzlich wieder verschwindet. So wars auch diesmal mit seiner Sehnsucht nach seiner Liebe. Aber er konnte in Kiel und Dorfgarten nur erfahren, daß sie mit ihren Eltern weggezogen war; keiner wußte wohin. Da ging er die alten Wege, stand auf den Plätzen, wo sie sich getroffen, und lehnte noch einmal vergangenheitversunken am Hecktor des Wäldchens hinter Dorfgarten, wo die Unbewußtheiten und Seligkeiten der ersten Liebe ihre zarten Schleier über die Zweige gehängt hatten, daß sie geschützt war vor der Erkenntnis. Er fuhr wieder nach Tangbüttel zurück.

Nun galt es die Vorbereitungen zum Empfang von Henning und Klaus. Er ging im Schloß treppauf, treppab. Namentlich besichtigte er die Zimmer, wo seine Freunde wohnen sollten. In Hennings Räume ließ er aus andern einige Gemälde bringen, von denen er wußte, daß Henning sie liebte. Henning war Kenner. Kai und Enewold hatten beide so wenig Ahnung von den großen Werken der Malerei, wie der Walfisch von Goethe. Kai wußte, daß sehr wertvolle Bilder an den Wänden in Tangbüttel hingen. Unter andern ein Roger van der Weyden, ein Jan van Eyck, sogar ein Franz Hals und ein (nicht ganz sicherer) Rembrandt. Auch eine (unbekannte) Lady des Meisters Gainsborough[188] gab es. Diese fünf wurden nach Hennings Zimmern gebracht. Kai freute sich im Voraus auf die Überraschung.

Er überlegte, wie er ihnen den Aufenthalt in Tangbüttel so angenehm wie möglich machen könnte. Hamburg und Lübeck sollten besucht werden. Dann zwei Tage in die nähere Umgebung von Tangbüttel. Vielleicht, wenn die Erlaubnis der Königlichen Regierung dazu gegeben würde, sollte eins der Königsgräber (Hünengräber) auf den Tangbütteler Haiden ausgegraben werden. Der Duvenstedter Brook, ein Ursumpf und Urmoor, der einzige dieser Größe und Wildheit in Schleswig-Holstein, sollte besichtigt werden. Für den sich Klaus Klünder am meisten interessieren würde. Besonders aber freute sich Kai auf ein Aussprechen im Schlosse selbst; darauf hatte er lange gewartet. Henning stand noch immer beim achten Garde-Dragoner-Regiment, Königin Lilala von Äthiopien. Er war bald nach dem Kriege zur Kriegsakademie kommandiert worden. Klaus, der in Heidelberg und Berlin zuerst Chemie und Medizin studiert, dann sich ganz der Naturwissenschaft ergeben hatte, war schon Dozent in Breslau. Kai gab ihm verschwenderisch die Mittel zu allem, was er brauchte.

Der Herr Generaldirektor hielt sonst den Daumen auf dem Beutel, soviel er konnte. Die Ansprüche an Kai und an sein Vermögen überstiegen bald alle Grenzen. Sie kamen um was und von wem immer. Alle diese Bitten und Betteleien hatte Kai schließlich ganz seinem Generaldirektor überlassen. Der wußte damit umzugehen![189] Schnell hieß es in- und außerhalb der Provinz: wie schäbig Kai mit seinen Geldbewilligungen sei. Als das der alte Schilting hörte, freute er sich über die Maßen. Kai war das natürlich nicht angenehm. Mit der Zeit aber sah er die Notwendigkeit von Schiltings Verfahren ein und lachte auch. Wenn einer sehr reich ist, kommt die ganze Welt, um zu betteln. Das größte Vermögen ist im Umsehen zu Wasser geworden, wenn nicht der unersättlichen Begehrlichkeit rechtzeitig ein Damm vorgezogen wird.

Mit seiner Mutter stand sich Kai nach wie vor gut. Seine Ehrfurcht vor ihr ließ es nicht zu, daß ihr Geldbitten nicht sofort gewährt wurden. Die Kirche hat bekanntlich einen guten Magen: Ihre Exzellenz wurde von allen Seiten gebeten: für äußere und innere Mission, für Lendenschürzen der Galla-Galla-Neger, für ein Kirchlein hier, für ein Kirchlein dort, für Mädchenhorte, Sonntagskrippen, Bibelstunden, Jünglingsvereine, für den Verein zur Abschaffung der Bordelle, für Kinderheime, Posaunenchöre, Heime zur Heilung von der Trunksucht, Heidenmissionen, und wie alle diese vielen Anstalten und Stiftungen heißen mögen, die in manchen Fällen sicher gute Zwecke und Ziele haben, die aber schließlich ein unerhörtes Geld dem kosten, der eine freigebige Hand dafür zeigt.

Nur einmal kam es noch zu einem zweiten Zusammenstoß zwischen Kai und seiner Mutter: Die Generalin hatte ihren Sohn gebeten, den Park von Tangbüttel für ein Missionsfest herzugeben. Hier verweigerte der Guts- und Schloßherr fast schroff seine[190] Erlaubnis. Frau von Vorbrüggen zog sich zum zweitenmal einige Tage grollend zurück in ihre Gemächer.

Jeden Morgen hielt Frau von Vorbrüggen eine Andacht um acht Uhr. Die gesamte Dienerschaft mußte dabei zugegen sein, die meistens dumme Gesichter machte und sich langweilte. Die Generalin las mit leiser Stimme einen Psalm oder eine kleine Predigt vor. Kai erschien niemals.

Der Tag war gekommen, wo die Freunde eintreffen sollten. Kai, sich diesmal nicht an die mit Recht berühmte Bescheidenheit der Hamburger kehrend, ließ die russischen Pferde vorspannen und holte sie, die zusammen angekommen waren, vom Berliner Bahnhof ab. Das gab ein fröhliches Wiedersehn! Die erste Nacht blieben sie lange in Kais Arbeitszimmer auf, und erzählten sich von ihren Jahren auf der Gelehrtenschule in Kiel und, wie es natürlich war, vom letzten Kriege. Henning hatte den kühnen Dragonerangriff bei Mars la Tour mitgeritten. Klaus hatte den Feldzug als Reserveoffizier in einem schleswig-holsteinischen Infanterie-Regiment durchgekämpft. Beide waren unverwundet geblieben.

In den nächsten Tagen sprachen sie über ihre Zukunft. Klaus ruhig und klar. Henning ruhig und klug; ihn leitete der Engel des Ehrgeizes, nicht der Teufel des Ehrgeizes.

Um Tangbüttel herum zeigte Kai ihnen, was es zu sehen gab. Sie waren zu Pferde, und konnten deshalb recht weite Strecken abstreifen und entfernte[191] Punkte erreichen. Auch nach Pukaff brachte er sie. Hier saßen sie ab und tranken bei der jungen Wirtin guten Grogk. Die schlanke Frau hatte den Rum dazu, den ihr Kai für seine Besuche geschickt hatte, aus einem andern Zimmer geholt. Allerlei Menschen von der Landstraße und aus den Dörfern kamen herein. Kai unterhielt sich mit allen und sagte: »Na, nu mutt ick man een utgeven.« Die Schenke füllte sich. Was sonst vorbeigegangen wäre, sah die drei edeln Pferde und dachte sich gleich: Aha, uns Graf is dor. Uns Graf aber empfahl sich mit seinen beiden Gästen.

Nun kamen Lübeck und Hamburg dran. In Hamburg waren die drei frischen jungen Männer, natürlich Henning immer in Zivil, in den verschiedensten »Sehenswürdigkeiten«. Alle drei hüteten sich zu trinken, und so ging alles seinen guten Lauf. Der Hafen bildete selbstverständlich den Hauptanziehungspunkt.

Einmal ritt Kai mit ihnen nach der Alsterquelle. Sie liegt nicht weit von Tangbüttel entfernt: in einer weiten Haide- und Moorgegend, die dem Dorfe Henstedt gehört. Nur eine kleine Landstelle steht etwa zweihundert Schritte von ihr entfernt. Dies Bauerngewese ist von Eichen, Erlen, Birken und Tannen umgeben und heißt die Einsamkeit der Einsamkeiten. Hier ließe sichs wohnen zuweilen: Kein Mensch dürfte herkommen, selbst nicht der Herr Briefträger, unser Begleiter bis zum Grabe. In der Nähe der Quelle wurden Bärlapp und Sumpfeinblatt gefunden; beide Pflanzen kommen nicht oft vor. Sumpfeinblatt (Studentenröschen) ist eine unserer letzten Blumen im Herbst.[192]

Die Quelle liegt anscheinend in einem Moorloch und fließt in einem leicht zu überspringenden Graben ab. Alles war mit Entengrün überdeckt. Nicht übel wär es, wenn der bekannte Alsterpavillon in Hamburg, wo immer so viele tüchtige, liebenswürdige Menschen sitzen, einmal auf einige Tage hierher verlegt werden könnte, und dann dieselben tüchtigen, liebenswürdigen Menschen statt des Jungfernstieglebens die Einsamkeit der Haide sehn und empfinden würden.

Die drei wertvollen Pferde sanken plötzlich, dicht vor der Quelle, bis ans Knie in den aufgeweichten Untergrund. Die Angst der Tiere trat ihnen in die Augen. Bald waren sie wieder auf trocknem Boden. Beim Einsinken hatten sie ganz spitze Hufe gemacht (wenn man so sagen darf). So sehen wir eine Tänzerin vor uns, wenn sie auf den Zehen tanzt. Der Himmel verzeihe gnädigst diesen fürchterlichen Vergleich.

Das löbliche Rindvieh patscht mit plumpen Tritten, mit öden Augen, grad hinein in den Morast, ohne Angst und Unruhe zu verraten. Auch ein Unterschied.

An einem der nächsten Tage wurde ein Hünengrab geöffnet. Das bietet viel anregendes und aufregendes: Werden wir große Funde machen? Wird es schon mal, vielleicht vor Jahrhunderten, durchwühlt sein? Ist der Inhalt gestohlen?

Der erste Spatenstich! Und gleich beim zweiten kam eine Axt aus Flint heraus, aus der Steinzeit (keilförmig). Viertausend, fünftausend, ja zehntausend Jahre vor Christi Geburt. Der Stiel ist natürlich[193] längst vermodert. Vorn ist zu beiden Seiten die Axt geschliffen. Spiegelglatt.

Also ein Grab aus der Steinzeit. Sonderbarerweise stießen sie aber auf ein Grab aus der jüngern Bronzezeit. Es zeigten sich Feldsteine, sozusagen in halben Ringen, in- und durcheinander. Mit Ausschweifungen der Linie wie aus der letzten Rokokozeit. Als wenn sich Knaben aus kleineren Feldsteinen Festungsmauern gebaut hätten. Dazwischen lagen verbrannte Knochenreste und Urnenscherben.

Wahrscheinlich hatten diese Urbewohner die Asche eines ihrer Häuptlinge hierher getragen und ihm zu Ehren diese wirren Steinwälle künstlich aneinandergebaut und aufgestellt. Dessen Asche sie hierhergebracht, mochte sie einmal in böser Zeit verteidigt haben in einer Stemburg. Nun hatten sie ihm aus Dankbarkeit eine solche Burg im Kleinen errichtet und seine Knochenreste hineingelegt. Außer einem dicken Bronzering, wahrscheinlich um den Arm getragen, wurde nichts mehr gefunden. Grabschändung? Alles wurde wieder ehrfurchtsvoll, gleichsam wegen der Störung um Entschuldigung bittend, zugeworfen. Nur das Steinbeil und der Bronzering wurden mitgenommen. Wie hatten sich Steinaxt und Bronzering so nah hier zusammengefunden? Ein Unterschied von Jahrtausenden! Nur ein blutrotes Abendrot war sichtbar. In seiner kräftigen Farbe stand eine Fichte als einziger von ihm ganz durchdrungener Gegenstand am Himmelsrand auf der leeren Haide. Vielleicht hatten in einer solchen Stunde die Kampfkameraden die Überbleibsel ihres Häuptlings in die[194] kleine ihm zu Ehren aufgeführte künstliche Burg versenkt. Fünfhundert Jahre vor Christi Geburt. Seltsame lange Musikwerkzeuge, die Luren, wie man sie ähnlich auf alten Gemälden den jüngsten Tag verkündenden Engeln gegeben hat, hatten ihre vorweltlichen Töne dazu geblasen.

Alte Zeit und neue Zeit: gibts einen Unterschied? Alles fließt, und alles bleibt doch immer dasselbe.


* * *


Als die drei Freunde am letzten Abend auf Kais Arbeitszimmer zusammensaßen, versprachen Henning und Klaus, jedes Jahr, wenn sichs irgend ermöglichen ließe, Kai zusammen auf vierzehn Tage in Tangbüttel zu besuchen. Henning meinte, daß Kai wohl große Umbauten vorhabe. Kai erklärte, daß er, wenigstens äußerlich, den alten vornehmen Kasten ganz so stehen lassen wolle, wie er da stünde. Nur eine größere Haupttür wolle er einsetzen lassen. Doch müsse er sich das auch noch recht überlegen.

Am andern Morgen fuhren sie mit den russischen Füchsen, die Hennings Neid erregten, wie er lachend sagte, nach dem Berliner Bahnhof, tranken dort den Steigbügeltrunk und verabschiedeten sich.

Den nächsten Tag gingen die beiden Russen nach Berlin zu Henning. Kai hatte sich die Freude gemacht, sie ihm zu schenken.


* * *


Um die Weihnachtszeit wurde es lebhaft in Tangbüttel. Die Generalin hatte sich tausend Sachen und[195] Sächelchen aus Hamburg schicken lassen, um damit so viele Menschen wie möglich am Heiligen Abend zu erfreuen. Die große Arbeit, die sie sich damit aufgebürdet hatte, wurde ihr nicht erleichtert durch den zahlreichen Besuch von geistlichen Herren, mit denen sie allmählich immer mehr in Verbindung trat und treten mußte. Schließlich bat sie um einen jungen Kandidaten aus der innern Mission in Berlin, dem aber Kai, zum Verdruß Ihrer Exzellenz, die Aufnahme im Schloß versagte. Er mußte in einem der Wirtshäuser des Dorfes absteigen. Sie hatte es ganz gut getroffen mit diesem Kandidaten. Es war ein harmloser, genügsamer Mensch, der eifrig die Aufträge von Frau von Vorbrüggen besorgte und sich sonst sehr bescheiden zeigte. Nur als er damit anfing, einen Posaunenchor zu bilden, verbat sich Kai so entschieden wie höflich dies und ähnliches.

Den ganzen vierundzwanzigsten Dezember gab es ein Ein- und Auslaufen im Schloß. Kinder und Erwachsene, oft aus der weitern Umgebung, wurden beschenkt. Stunde um Stunde kamen neue Menschen. Den ganzen Tag sangen immer andre Stimmen: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Endlich ging die Unruhe zu Ende.

Kai hatte diesen ewigen Singsang nicht mehr aushalten können. Er steckte sich ein paar hundert Taler in Silber, die er sich zu Geschenken aus Hamburg hatte schicken lassen, in die leeren Rock- und Hosentaschen und fuhr auf die Landstraße. Hier hielt er und stieg aus. Der Wagen mußte in weiter Entfernung langsam folgen. Jedem ihm entgegenkommenden Bettler und Landstreicher[196] gab er von seinen Talern. Je versoffener und erbärmlicher solch ein Lump aussah, je mehr erhielt er von Kai: damit sie tüchtig einen trinken könnten heut abend, wie er ihnen sagte. Alles glotzte ihn natürlich, wie blödsinnig vor Verwunderung, an und sah ihm nach. Es waren nicht wenige, die er in dieser Weise mit seinen Talern beglückt hatte. Als er kein Geld mehr bei sich fühlte, winkte er seinen Wagen heran und fuhr seelenvergnügt nach Hause.

Am späten Abend saßen seine Mutter und er noch ein Stündchen beisammen, nachdem er der gesamten Dienerschaft reichlich beschert hatte. Als die Generalin noch einmal O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit singen wollte, empfahl er sich schleunig auf sein Zimmer.

Die Sylvesternacht war da. Frau von Vorbrüggen und Kai saßen an diesem Abend länger als gewöhnlich auf. Sie ließen das Jahr vorüberziehen, das ihnen eine so große Überraschung gebracht hatte. Die Generalin meinte, was wohl sämtliche andre Millionäre der Erde sagen und wie sie lachen würden, wenn sie in dieser Minute sie und Kai in ihrer Zurückgezogenheit sähen. Sie sprachen und besprachen dies und jenes. Gegen Mitternacht erhob sich Kai und bat, sich beurlauben zu dürfen. Er küßte die hingehaltnen Hände der Generalin, und dann küßte der Sohn die Mutter innigst auf Stirn und Lippen.

In seinem Arbeitszimmer saß er noch lange, wie in tiefen Gedanken, am Fenster; er, der es gewohnt war, um neun Uhr zu Bett zu gehn und um halb[197] fünf Uhr aufzustehn. Erinnerungen zogen an ihm vorüber, und er dachte mit großer Sehnsucht seiner Leutnantszeit. Es überkamen ihn schwere Gedanken, Gedanken, denen er nie oder doch nur sehr selten bisher Eingang erlaubt hatte: Die Härte des Lebens, über die er doch wahrlich nicht zu klagen brauchte, und ein heftiger Widerwille gegen seine Mitmenschen, zu dem er doch nicht den geringsten Grund hatte, wollten ihn in dieser Stunde fast erdrücken. Er breitete wie in unendlichem Verlangen seine Arme auseinander und stellte sich aus unverhangene Fenster. Draußen lag eine leichte Schneedecke, die gefroren war. Die Sterne funkelten mächtig und gebieterisch. Vor allem schien es ihm, als wenn er den Aldebaran nie so klar gesehen hätte. Seine Augen wurden gespenstisch. Er ging, völlig wie abwesend, zögernd Schritt vor Schritt setzend, durch die Tür und, in demselben ruhigen Zeitmaß, die Treppe hinunter ins Freie. Er ging unbedeckten Hauptes, in seinem Zimmeranzug, in die kalte Nacht. Im Schloß war es totenstill. Nur aus einem entfernten Raum, wo sich die Dienerschaft noch in der letzten Stunde des Jahres freuen und belustigen mochte, klang verworrenes Lachen und gedämpfter Lärm her.

Kai ging, immer mit weitgeöffneten Armen, den Nacken zurückgebogen, über die weiße Fläche des Parkes dicht hinterm Schloß auf den Aldebaran zu. Das Blut schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein. Nur Sternenlicht sah auf ihn nieder. Er schritt wie ein Nachtwandler weiter und weiter. Endlich kniete er,[198] immer noch auf der großen Fläche im Park, nieder. Seine Augen sahen unausgesetzt in den geheimnisvollen Stern, seine Arme blieben ausgebreitet. Plötzlich erwachte er. Tiefe Einsamkeit um ihn her. Er stand rasch auf und schüttelte sich und erschrak. Eilends ging er ins Schloß zurück. Niemand hatte ihn hinaus- und niemand hereingehn sehn.

Gleich legte er sich zur Ruhe, zog seine Decken um sich und schlief ohne aufzuwachen bis zum andern Morgen, wie jedes andre gesunde Menschenkind.

Quelle:
Detlev von Liliencron: Leben und Lüge, in: Sämtliche Werke, Band 15, Berlin [o. J.], S. 151-199.
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