Bete und arbeite!

Kürzer als mit diesen beiden Worten kann die Aufgabe des Menschen nicht bezeichnet werden. Ein Kind Gottes, der ihn durch seinen Hauch belebte, und doch ein Sohn der Erde, die ihn trägt und von der er in tausenderlei Beziehungen abhängig ist, hat er seine Thätigkeit nach zwei vollständig entgegengesetzten Richtungen zu äußern.

Um den Anforderungen des gegenwärtigen Lebens gerecht zu werden, muß er den alten Fluch »Im Schweiße Deines Angesichtes sollst Du Dein Brod essen« auf sich nehmen und mit allen ihm verliehenen geistigen und körperlichen Fähigkeiten die Last desselben tragen. Thut er das, so wird er auch den Segen empfinden, in welchen sich dieser Fluch bei rechtschaffener Pflichterfüllung verwandelt.

Und erblickt er in dieser Verwandlung das liebevolle Walten einer väterlichen Hand, die ihn hält und durch das Leben leitet, so giebt er auch gern der Ueberzeugung Raum, daß sie ihn weder fallen lassen werde noch könne, wenn der Tag der irdischen Wanderschaft sich einst zu Ende neigt. Der Tod bringt ihm nicht Vernichtung sondern Verwandlung, und mit ruhelosem Forschen sucht er den Schleier zu lüften, welcher zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen hier und dort seine Falten schlägt.

Je erfolgloser dieses Forschen ist, desto mehr fühlt er seine Nichtigkeit gegenüber der Macht, welche ihn ins Dasein rief. Er kann ihr Nichts vorschreiben, Nichts befehlen; er darf nicht fordern und verlangen, sondern nur bitten und flehen und ist für jede Erfüllung seiner Wünsche das Opfer kindlichen Dankes schuldig – er betet.

Doch nicht im Worte ruht die Macht des Gebetes, sondern im Glauben, welcher, wenn er der rechte ist, dem Rufe folgt: »Kommt, laßt uns Thaten thun!« Und die schönste, die größeste, die fruchtreichste That heißt Arbeit. Sie allein macht uns geschickt, die Stufen des Daseins emporzuschreiten zur Vollendung, in der die Seligkeit liegt. Kein Kniebeugen, kein Händefalten, kein Augenverdrehen bringt uns zur Vollkommenheit; aber wenn der denkende Geist mit der kräftigen Faust sich vereint zu regem, Gott wohlgefälligem Wirken und Schaffen und der Schall der Arbeit aus allen Richtungen zusammenfluthet zu einem Strom, der brausend seine Fluth zum Himmel trägt, dann stehen wir mitten in der rechten Erfüllung unserer Aufgaben. Bete und arbeite, das heißt: bete, indem Du arbeitest; Arbeit ist das beste Gebet!

Quelle:
Bete und arbeite! (Mit hoher Wahrscheinlichkeit von Karl May verfaßt). In: Schacht und Hütte. 1. Jg. Nr. 2. S. 14. – Dresden (1875), S. 14.
(Mit hoher Wahrscheinlichkeit von Karl May verfaßt). In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 2. S. 14. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1875). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.
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