Blumen deutscher Kirchenlieder

»Lebe, wie Du, wenn Du stirbst,

Wünschen wirst, gelebt zu haben!«


Keine andere Mahnung, und tauchte sie aus dem wärmsten Herzblute, aus der heißesten Thränenfluth empor, vermag den Ernst und die Dringlichkeit derjenigen zu erreichen, welche wir heute aus der Fülle unseres reichen Kirchenliederschatzes schöpfen, und doch wie Mancher, wie gar so Mancher hat diese Worte als Schulpensum eingelernt und in der Kirche oder bei der letzten Fahrt eines Dahingeschiedenen mitgesungen, ohne ihr die Seele zu öffnen und Wirkung für das Leben zu gestatten!

Kein Wort auf der Zunge des Menschen wiegt so schwer, wie das kleine Wörtchen »Tod,« kein Augenblick des längsten, reichsten und bewegtesten Lebens kommt an Bedeutung dem Momente gleich, welcher dem müden Pulse gebietet auszuruhen für immer; aber wie zur Zeit Christi, des Weisesten der Lehrer, giebt es auch heute Jungfrauen, deren Leuchten das Oel mangelt, wenn die Stunde der Mitternacht hereinbricht, und stets wird sich der Ausspruch bewahrheiten:


»Der, den der Tod nicht weiser macht,

Hat nie mit Ernst an ihn gedacht!«


Stemme Deinen von Jugendkraft strotzenden Körper gegen das Geschick, wirf die geballte Faust empor zum Himmel, spotte des Glaubens, der sich an die Hoffnung des Ewigen klammert, verlache die Demuth, welche die irdische Schwäche bekennt, schmücke Deine Bahn mit den schönsten Blumen und Deine Stirn mit den besten Erfolgen, sei ruhig, sei sogar glücklich nach Deiner Ansicht und in Deiner Weise[38] – balde, gar balde, und wäre es nach irdischem Zeitmaße noch so spät, wird Dir ein Tag erscheinen, an welchem Dein sterbender Körper sich unter der letzten Zuckung krümmt, Deine zitternde Hand vergebens nach Halt um sich greift, der spottende Mund sich zum verzweifelten Hilferuf öffnet, die lachenden Mienen sich schmerzvoll verzerren und Alles, Alles, was Du warst und hattest, zusammenbricht vor dem letzten Hauche Deines fliehenden Athems.

In dieser Stunde fühlst Du Nichts, Nichts, als nur das Eine, daß Du mit dem, was Du dachtest, was Du redetest und was Du vollbrachtest, auf der Wage liegest, daß der Halt unter Dir schwindet und Du hoch emporgeschnellst unter dem Gewichte der Pflichten, die Du versäumt. Woran willst Du Dich dann klammern, da Du nicht zurückkehren, nicht von Neuem beginnen und Nichts sühnen und wieder gut machen kannst? Zu spät ist's dann; aber heute, jetzt ist's noch Zeit, und der beste, der sicherste, der einzige Halt, den Du finden kannst, er bietet sich Dir in der oben erklungenen Mahnung:


»Lebe, wie Du, wenn Du stirbst,

Wünschen wirst, gelebt zu haben!«[39]


Quelle:
Blumen deutscher Kirchenlieder. (Mit hoher Wahrscheinlichkeit von Karl May verfaßt). In: Schacht und Hütte. 1. Jg. Nr. 5. S. 38–39. – Dresden (1875), S. 38-40.
»Lebe, wie Du, wenn Du stirbst, / Wünschen wirst, gelebt zu haben!« (Mit hoher Wahrscheinlichkeit von Karl May verfaßt). In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. Nr. 5. S. 38–39. – Dresden: H.G. Münchmeyer (1875). Reprint in: Karl May (Hrsg.): Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. Mit einer Einführung von Klaus Hoffmann. Hildesheim, New York: Olms Presse 1979.
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