4. Wald und Feld

»Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz dem Menschen, daß Du Brod aus der Erde bringest und die Bäume des Herrn voll Saftes stehen, die Cedern Libanons, die er gepflanzet hat.«

David.


Wald und Feld – zwei Worte von unendlicher Bedeutung nicht nur für den Einzelnen, sondern ebenso sehr für die große Gesammtheit der menschlichen Gesellschaft. Mit ihnen treten wir ein in das Reich der organischen Wesen, der mit leichterkennbarem Leben begabten Creaturen, und sehen eine Menge der liebsten und freundlichsten Vorstellungen in uns aufsteigen.

Waldesduft und Maienluft, Hörnerklang und Vogelsang und all' jene oft gebrauchten Reime von Flur und Natur, Zelt und Feld, Schall und Nachtigall, Sonne und Wonne klingen uns um das lauschende Ohr; der ernste, religiöse Sinn sieht Christus unter Aehren wandeln, gedenkt seiner Bilder vom Senfkorne, vom Feigenbaume, vom Weinstocke und der Lilien auf dem Felde, welche besser bekleidet sind als Salomo in aller seiner Herrlichkeit, und der erwägende Verstand erblickt in den wogenden Fluren und rauschenden Wäldern eine unerschöpfliche Quelle national-wirthschaftlichen Reichthums.

Wenn früher gesagt wurde, daß selbst im scheinbar todten Steine der Puls der großen, allgemeinen Bewegung klopfe, so war dieser Puls nur der zarten Empfindung des aufmerksamen Beobachters erkenntlich, während dagegen das organische Leben den wahrnehmenden Sinneswerkzeugen vollständig ungesucht entgegentritt.

Was aber ist denn eigentlich das, was wir »Leben« nennen?

Wer vermöchte es wohl, diese Frage zu beantworten! Nur Einer hat es gethan: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben,« und dieser Eine wird von Tausenden verspottet und von Millionen vergöttert, weil die Einen ihn gar nicht und die Anderen ihn nur halb verstanden.

Die irdische Natur hat nur eine gewisse und beschränkte Anzahl von Grundstoffen oder Elementen aufzuweisen, aus welchen sich alles Bestehende zusammensetzt. Diese Zusammensetzung ist eine unendlich verschiedene und sich immerwährend verändernde, wie die Lehre vom Stoffwechsel deutlich und unwiderlegbar beweist, und geschieht durch nichts Anderes als diejenige Kraft, welche wir »Leben« nennen.

Nicht jedes andere Wesen besteht auch aus anderen Stoffen, sondern die Verschiedenheit der Zusammensetzung dieser Stoffe ist es, welche die Verschiedenheit der Formen und Gestalten und unzählige Wunder bewirkt, welchen wir gewöhnlich nicht die geringste Beachtung schenken.

Auf dem gleichen Boden und unter vollständig denselben Verhältnissen wächst die Kiefer, die Eiche, die Rebe, das Getreide, der Schierling; sie nähren sich von denselben Bodenstoffen, athmen in derselben Luft, trinken denselben Thau und wärmen sich in demselben Strahle, und doch bringt das in ihnen waltende Leben im Holze und Harze der Kiefer, in der bitteren Gerbrinde der Eiche, im süßen, berauschenden Safte der Traube, im nährenden Mehle des Roggens, in den heilsamen Eigenschaften der Kräuter und der tödtlichen Wirkung des Giftstrauches so außerordentlich verschiedenartige Erscheinungen hervor. Die Wurzel des Schierlings zeigt dieselben Bestandtheile wie diejenige des Sellerie, und der Kuhbaum, welchem die süßeste und nahrhafteste Pflanzenmilch entfließt, besitzt chemisch ganz dieselben Stoffe, aus welchen der Upasbaum seinen furchtbaren Saft bereitet, in welchen die Malayen die Spitzen ihrer Pfeile tauchen.

Die Zauberkraft, welche aus Einem und Demselben so Verschiedenes, ja Entgegengesetztes bereitet, liegt schon im Keime des Samenkornes verborgen und beginnt ihre Thätigkeit gleich mit dem ersten Augenblicke der Entwickelung desselben. Wie groß diese Kraft ist, sehen wir nicht nur an der Vergleichung des vollständig ausgewachsenen Baumes mit dem kleinen, unscheinbaren Samen, sondern auch schon an der mechanischen Gewalt, welche sie vom frühesten Stadium ihrer Wirksamkeit ausübt. Wenn man z.B. Erbsen durch Anfeuchtung zum Keimen lockt und sie mit einem Gewichte von 150 Pfund beschwert, so wird dieses Gewicht durch das Schwellen des Keimes bewegt und der Keim dringt trotz der verhältnißmäßig ungeheuren Belastung hervor.

Woher diese erstaunliche Stärke, welche einem Keime innewohnt, den der Finger eines Kindes spielend zu zerstören vermag? Liegt hier nicht ein ebenso deutlicher Fingerzeig auf das Walten eines göttlichen Wesens, wie in den staunenerweckenden Wundern des unermeßlichen Weltenraumes?

Fast möchte man behaupten, daß sich in dem Leben des Samenkornes etwas Seelenartiges offenbare, und einem unserer bekanntesten Naturforscher beipflichten, welcher sagt: »Der kleine Keim dringt wie gerufen und zur rechten Stunde hervor und senkt seine Spitze in den Erdboden, um Nahrung zu suchen. Er treibt aus dieser Spitze kleine Fasern hervor, die zur Wurzel werden. Woher weiß er, daß er Nahrung im Boden findet und wo das Erdreich sei, das er doch nicht siehet? Und doch, wenn die eine seiner Spitzen, welche zur Wurzel bestimmt ist, aufrecht über der Erde stehet, krümmt sie sich so lange abwärts, bis sie Erde gefunden hat, während die andere Spitze, die zum Stengel werden soll, sich jedesmal von der Erde wegwendet und aufwärts steigt, um Luft und Licht zu suchen. Ist hier nicht Seelenartiges? Ist hier nicht eine verborgene, wunderbare Kraft, die ebenso unerklärlich ist wie diejenige, welche in ewig gleichen Bahnen die Sternenwelten schwebend durch die Himmelsräume führt?«

Und dieses Leben, welches im Samenkorne schläft, hat,[173] einmal erwacht, oft eine Dauer, welche nach Jahrtausenden gemessen werden muß. Der Affenbrodbaum, welcher bei einem Umfange von 80 bis 100 Fuß, 50 bis 70 Fuß lange Zweige treibt, ist in Exemplaren gefunden worden, deren Alter auf über sechstausend Jahre anzugeben war. Die wenigen Cedern, welche der Libanon noch trägt, werden auf 1800 Jahre geschätzt; in Körtlinghausen (Westphalen) steht eine 1000-jährige, in Saintes (Frankreich) gar eine 2000-jährige Eiche, bei Freiburg eine 1600-jährige Linde, am Dome zu Hildesheim ein Rosenstock, welcher urkundlich über 800 Jahre alt ist, bei Courmayeur eine 1200-jährige Tanne.

Diese ungeheure Lebensdauer entspricht dem Zwecke, welcher die Pflanzen in das Dasein gerufen hat. Sie stehen mit dem allgemeinen Erdenleben in innigem Zusammenhange und bilden eine lebendige Decke, eine Ueberkleidung des nackten Erdbodens grad' so, wie der Haar- oder Federüberzug über den thierischen Körper. Sie bilden einen höchst unentbehrlichen Factor in dem großen organisch-chemischen Kreislauf der Stoffe, vermitteln den Uebergang aus niederen in höhere Lebensformen und dienen nicht nur den letzteren zur Nahrung, sondern liefern dem Handel und der Industrie die vielfältigsten Gaben.

Die Pflanzendecke der Erde nimmt einen weit größeren Theil der Oberfläche derselben ein, als man gewöhnlich meint. Sowie eine kahle Stelle des Erdbodens mit den wässerigen Dünsten der Atmosphäre in Berührung und unter die Einwirkung von Licht und Wärme kommt, entstehen zunächst Pflanzengebilde niederer Ordnung, welche im Boden nach und nach zum Tragen höherer Gattungen vorbereiten. An den schroffsten Felsenwänden, unter dem ewigen Eise des Nordpoles, in der heißen Wüste, überall begegnen wir Pflanzenformen, welche den Einwirkungen einer feindseligen Natur zu trotzen vermögen, und selbst im Meere breitet sich eine Vegetation aus, deren Riesenhaftigkeit wahrhaft bewundernswürdig ist. Wir dürfen hierbei nur an das »Sargassomeer« denken, dessen grüne Grasdecke sich westlich von den Azoren über einen Raum von 26 Breitengraden ausdehnt.

Der Pflanzenüberzug der Erde hat einen nicht unbedeutenden Einfluß auf das Klima der Erde, und es ist eine allgemeine Erfahrung, daß dieses Klima desto milder wird, je mehr sich die Vegetation entwickelt und verbreitet. Ganz besonders aber sind es die Wälder, von denen die physikalischen Erscheinungen der Oberfläche unseres Planeten abhängig sind. –

Sie saugen die Feuchtigkeit aus der Luft und übermitteln sie dem Boden, in welchem sie Wurzeln schlagen, sammeln den Regen, dessen Nässe sie hinunter in die Tiefe leiten, aus welcher sie als Quelle wieder an das Licht des Tages tritt, und geben die aufbewahrte Feuchtigkeit an die Atmosphäre ab, sobald dieselbe ihrer bedarf.

So bilden die Wälder die eigentlichen Regulatoren der atmosphärischen Niederschläge und müssen deshalb als unentbehrlich angesehen werden. Gegenden, welche man ihrer Holzungen beraubte, haben unter den schweren Folgen einer solchen wirthschaftlichen Sünde zu leiden, indem es bei ihnen keine Vermittelung zwischen den Extremen von Dürre und Nässe giebt und sie also bald mit der ersteren und bald mit der letzteren zu kämpfen haben.

Von ebenso großer Wichtigkeit ist die Athmung der Pflanzen, welche ihre meiste Nahrung aus der Luft ziehen, indem sie aus der Kohlensäure und Feuchtigkeit derselben den Kohlen- und Wasserstoff in sich aufnehmen und den Sauerstoff ausscheiden, während der thierische Organismus, also auch der Mensch, den Sauerstoff einathmet. Es besteht also zwischen Thier und Pflanze ein gegenseitiger und endloser Austausch der unentbehrlichen Athmungsmittel, ohne welchen der Mensch nicht zu leben vermöchte.

Diesen Segen bringt die lebende Pflanze; doch nicht minder groß ist ihr Nutzen nach ihrem Tode. Die abgestorbenen Theile fallen zur Erde, wo sie langsam verwesen und von Jahr zu Jahr eine neue Schicht fruchtbaren Humuslandes bilden. Kann diese Schichtbildung ungestört vor sich gehen, so entstehen mit der Zeit Ablagerungen von solcher Mächtigkeit, daß, wie in den Bottoms des nordamerikanischen Westens, der Ackerbauer ohne Dung und Mühe mehrere Jahrzehnte lang die reichsten Ernten erbaut.

Unter günstigen Verhältnissen, besonders bei reichlich vorhandener Feuchtigkeit, entsteht durch eigenthümliche Wurzelbildung und Ablagerung der verwesten Pflanzen der Torf, dann das Moor, von welchem die Braunkohle zu den Steinkohlen den Uebergang bildet. Hier stoßen wir auf fast unerschöpfliche Reichthümer, welche eine um viele Jahrtausende zurückliegende Vegetation für das erst später entstehende Geschlecht der Menschen in den Schatzkammern der Erde aufgespeichert hat.

Es fällt auf den ersten Blick in die Augen, daß der Nutzen der Pflanzen zur Gesellschaftlichkeit derselben in gleichem Verhältnisse steht und daß auch hier der weise Wille des Schöpfers Großes durch das Kleine hervorbringt. Nicht die Eiche, nicht der riesige Mammuthbaum ist es, welcher die Millionen der lebenden Menschen ernährt, sondern die Arten der Gräser, welche wir Getreidepflanzen nennen, liefern uns die Stoffe, deren wir bedürfen, um des Leibes Nahrung und Nothdurft zu stillen. Dies kann freilich nur durch die massenhafte Vereinigung der einzelnen Pflanzen zu wogenden Feldern erzielt werden, und hier hat die Cultur ihren ersten siegreichen Schritt zu thun.

Wo die Natur durch die Früchte nur eines Baumes dem Menschen den jährlichen Bedarf seiner Nahrung bietet, hat die Gesittung sich noch keine Stätte erobert, und nur da, wo die Hand des Menschen bestimmend und wählend eingreift in das Reich der Schöpfung und im Schweiße seines Angesichtes seinen Willen zur Geltung bringt, blüht die Bildung mit allen ihren wohlthätigen Folgen.

Daß der Mensch in gewisser Beziehung von dem Boden abhängig ist, auf welchem er lebt, wissen wir; in Folge dessen ist es ihm wohl auch nicht möglich, sich dem Einflusse derjenigen Producte zu entziehen, welche dieser Boden hervorbringt, und in Wirklichkeit beobachten wir je nach der Verschiedenheit der Landeserzeugnisse auch eine Verschiedenheit der Völker.

Der Eskimo trinkt seinen Thran; der Indianer kaut sein Büffelfleisch und verschlingt dazu seine eklen Kammaskuchen; der Amerikaner liebt den Mais, der Engländer den Waizen, der Deutsche den Roggen, ein Anderer das Haidekorn; der Indier lebt vom Reis, der Afrikaner von seiner Durrha (Negerhirse), und es läßt sich gar nicht läugnen, daß die Beschaffenheit des Hauptnahrungsmittels nicht ohne Wirkung auf die körperliche und geistige Constitution der angeführten Völkerschaften sein kann.[174]

Und wie mit dem Felde, so auch mit dem Walde. So heimtückisch wie die Mangrovewälder der amerikanischen Ostküste, sind auch die wie wilde Thiere in denselben herumschleichenden Menschen. Die im dortigen Sumpflande schlummernden Fieber wetteifern mit den noch heut menschenfleisch-freundlichen Urbewohnern, den weißen Eindringling in Tod und Verderben zu führen.

Finster und wortlos, wie die dunklen, lautlosen Urwälder des amerikanischen Westens, schreitet im Norden der furchtlose Trapper, im Süden der unternehmende Cascarillero oder der goldgierige Cibolero zwischen den hundertjährigen Riesenstämmen dahin und hat in Schnitt und Farbe seiner Kleidung der Natur ihr Geheimniß abgelauscht, ihre Geschöpfe durch die Aehnlichkeit ihrer Farbe mit derjenigen des Bodens in liebevollen Schutz zu nehmen.

Steigen wir empor in die Berge, wo sich die Schluchten und Abhänge mit dunklen, kühnen Tannen bekleiden, durchschreiten wir die sandigen Haidestrecken, über welche sich die unzähligen Heere des Kiefernforstes lagern, wandeln wir unter den magischen Kronen der freundlichen Laubwaldungen, rasten wir im Schatten schlanker Palmen oder wagen wir uns in die gigantische Vegetation am Tsad und den Ufern des Schari, in jedem einzelnen dieser Fälle tritt uns eine bestimmte Aehnlichkeit zwischen den pflanzlichen und den thierischen Formen entgegen, welcher sich auch der Mensch nicht zu entziehen vermag. Obgleich ein freier Sohn des Himmels, ist er doch in gar mancher Beziehung ein Sclave der Erde, welche ihre Fesseln um ihn wirft und ihn knechtet bis zu dem Augenblicke, an welchem er dem Staube das erborgte Kleid zurückerstattet.

Die Natur kennt eben keine Bevorrechtung; was in ihre Reiche gehört, muß sich ihren Gesetzen beugen und sich ihr unterthan erkennen und erklären. Diese Gesetze sind ewig dieselben und trotz einer durch Jahrmillionen fortschreitenden Entwickelung auf ewig vollständig und lückenlos. Unter ihrem Befehle bildet die Schöpfung ein engverbundenes, zusammengehöriges Ganze, zu welchem ohne Ausnahme alle Gestaltungen von der niedrigsten Materie bis zur höchsten geistigen Form gehören, um sich gegenseitig zu berühren, zu beeinflussen und dadurch der Stufenleiter der erschaffenen Wesen immer neue Sprossen anzufügen.

Diese Wechselbeziehung ist es, welche dem anscheinend Todten Seele, Leben und Bewegung verleiht und jene Verwandtschaft begründet, welche die stolze Vermessenheit des Menschen demüthigt, indem sie ihm an jedem einzelnen Körper, in jeder beliebigen Naturerscheinung, Stoffe und Vorgänge zur Anschauung bringt, aus denen auch er besteht und die sich auch an ihm selbst vollziehen.

Zwar sträubt er sich mit aller Macht und Anstrengung, mit der Reihe des unter ihm Stehenden ins Glied zu treten, aber die unerbittliche und unbestechliche Wissenschaft entreißt ihm ein Vorurtheil nach dem anderen, entkleidet die Legenden, welche seinem Selbstgefühle schmeichelten, ihres Heiligenscheines und zwingt ihn, die heilsame Arznei der Wahrheit zu trinken, um zu einer gesunden, irrthumsfreien Welt- und Lebensanschauung zu gelangen. Er lacht der Zumuthung, im Gorilla, Orang-Utang oder Chimpanse seinen Urgroßvater zu erkennen, und doch ist er aus nichts Anderem gemacht und gestaltet worden, als aus den Elementen, aus welchen auch der Stein, die Pflanze, das Thier zusammengesetzt wurde. All' seine sogenannten Vorzüge verdankt er einer in ihm vollzogenen Entfaltung der in den vorhergehenden Wesensordnungen schlummernden Kräfte und Fähigkeiten, und wie sein Leib nichts Anderes als nur eine Veredelung des thierischen Körpers ist, so läßt sich die in ihm thätige seelische und geistige Kraft in absteigender Folge und allerdings auch mit abnehmender Deutlichkeit an der ganzen Reihenfolge der erschaffenen Wesen nachweisen.

Dieser Nachweis ist bei den Thieren bis hinunter zu den niedrigsten Arten ohne Schwierigkeit zu führen. Nicht so leicht fällt er bei den Pflanzen, ja es giebt gewiß sehr Viele, welche bei dem Worte »Pflanzenseele« mit verwundertem Lächeln den Kopf schütteln würden. Und doch läßt sich ein organisches Leben nicht ohne irgend eine geistige Potenz denken, durch welche eine Existenz eben erst zu einer organischen wird. Natürlich kann hier von einer freien Verstandes- und Willensthätigkeit, wie wir sie noch bei den Thieren finden, nicht die Rede sein, sondern die Thätigkeit der Pflanzenseele wäre nur in den allerelementarsten Aeußerungen zu suchen.

Etwas Derartiges müssen wir schon dem Keime des Samenkornes zusprechen. Bedeutend deutlicher zeigt sich die Spur eines seelischen Lebens in dem sogenannten Schlafe der Pflanzen, welcher besonders bei den Leguminosen oder Hülsenfrüchten beobachtet wird. Sie scheinen, gleich den Thieren, bei einbrechender Nacht in Schlaf zu fallen, verschließen ihre Blumenkelche, legen ihre Blätter zusammen und erwachen nicht eher wieder, als bis die Strahlen der Morgensonne auf sie fallen. Aber wie unter den Thieren viele des Tages ruhen und erst in der Nacht herumschwärmen, so sind auch andere Pflanzen im Tageslichte unthätig, wachen erst mit den Sternen auf und streuen ihre Wohlgerüche in der stillen Dämmerung oder der nächtlichen Dunkelheit aus. Das Reich der Pflanzen hat, wie dasjenige der Thiere, ebensowohl seine Nacht- wie auch seine Tagesschläfer.

Es giebt gewisse Pflanzen, die so reizbar sind, daß ihnen eine sehr zarte, fast thierische Empfindung nicht abzuläugnen ist. Die schamhafte Sinnpflanze (mimoza pudica) zieht, wenn man sie berührt, schüchtern ihre Blätter zusammen, und wenn man sie schlägt oder stark erschüttert, so läßt sie die Blätter traurig herabhängen. Fast ebenso empfindlich ist eine andere Mimosenart, ein südamerikanischer Strauch von 6 bis 10[181] Fuß Höhe. Stampft man in der Nähe dieser Gewächse auf den Boden, so erfolgt eine plötzliche Bewegung der Blätter, welche mit der Wirkung des Schrecks auf die Thiere große Aehnlichkeit hat. Wenn ein Reiter durch ein solches Mimosengesträuch galoppirt und die vorher im Sonnenscheine so schön ausgebreiteten fiederblättrigen Fächer rechts und links bei jedem Hufschlage zusammenfahren und schlaff niedersinken sieht, so bekommt er den Eindruck, als befinde er sich mitten unter mit Gefühl und Empfindung begabten Wesen. Nicht minder auffallend ist die Ruhelosigkeit des schwingenden Hedysarum (hedysarum gyrans,) einer ostindischen Pflanze, welche unserer Esparsette nahe verwandt ist. So lange dieses Gewächs sich im Wachsthum befindet, sind seine Blätter in einer immerwährenden und regelmäßig auf- und niedergehenden Bewegung.

Auch die außerordentliche Liebe der Pflanzen zum Lichte ist eine der Erscheinungen des organischen Lebens. Welch ein wetteiferndes Drängen der Bäume eines dichten Waldes, Theil zu haben am Sonnenlichte. Wie trauernd und kränkelnd stehen die Unterdrückten da, während freudig die über ihnen rauschen, deren Wipfel vom Glanze der Sonne trinken. Wie breiten die in Zimmern und Gewächshäusern gehaltenen Pflanzen ihre Zweige, ihre Blätter sehnsüchtig nach den Fenstern aus, und wie drängt sich selbst der Keim aus den im Dunkel aufbewahrten Zwiebel- und Knollengewächsen hervor, um nach Licht zu suchen! Eine Kartoffel, welche im Frühlinge in einem Winkel des Kellers liegen geblieben war, trieb ihren Ausläufer erst zwanzig Fuß am Boden gegen die Thür hin, dann rankte sie an der Wand in die Höhe und trieb dann in grader Richtung auf das Lichtloch des Gewölbes zu. Wer kann bei solchen Erscheinungen, die das Vorhandensein eines Pflanzensinnes ankündigen, ein gleichgültiger oder gar gefühlloser Zuschauer bleiben?

Zwar dürften diese Erscheinungen durch physikalische und chemische Verhältnisse zu erklären sein, aber ein Räthsel bleiben sie uns doch, und wir müssen gestehen, daß die Thätigkeit der menschlichen Seele, des menschlichen Geistes ja auch nur durch gewisse physikalische Vorgänge und chemische Prozesse ermöglicht ist.

Für den sinnigen und gefühlvollen Beobachter giebt es im Reiche der Pflanzen mehr Leben, Absicht und gleichsam willkürliche Thätigkeit, als Andere vermuthen möchten. Scheint es doch fast, als ob sie der Schöpfer mit einer gewissen gegenseitigen Liebe begabt hätte! Denn wie unter den meisten Thieren, so herrscht sichtbar auch unter den Pflanzen der Trieb zur Geselligkeit. Wo sie frei für sich leben, und das ist vornehmlich in den gemäßigten Erdgürteln der Fall, da wohnen sie in ganzen Familien beisammen. Sie scheinen dann kräftiger zu gedeihen, als wenn man sie vereinzelt; ihr Wuchs ist, besonders an Bäumen, schlanker, ihre Oberfläche glänzender. Hingegen einzeln- und freistehende Pflanzen sind zusammengedrängter, struppiger, rauher und behaarter. Ist es nicht ebenso bei dem Menschen? Durch Geselligkeit wird er heiterer, in seinem Aeußern gefälliger; die Einsamkeit macht ihn in sich gekehrter, rauher, ja – wilder. Es ist keine Sage, sondern vollständige Wahrheit, daß die Marien-Kreuz-Distel ganze Völker bildet, welche unter einem Könige stehen, dessen Standpunkt sich grad in der Mitte des gewöhnlich ungefähr einen Quadratkilometer einnehmenden Terrains befindet, über welches sich das Volk verbreitet. Reißt man diesen König aus der Erde, so stirbt bis zum nächsten Herbste das ganze Volk ab. Wie will man sich dieses Geheimniß erklären?

Aber auch das Gegentheil der Liebe, der Haß und die Feindschaft, hat sich in das Reich der Pflanzen geschlichen. Wie es unter den Thieren solche giebt, die nur vom Untergange und dem Blute der anderen sich ernähren, so finden wir auch unter den Gewächsen Raubpflanzen, die im Safte und Blute der übrigen schwelgen. Sie hängen sich ihnen an, dringen mit ihren Saugröhren in sie ein und zehren ihre Kräfte auf. Wie in den Wildnissen Südamerika's die Räuber des Thierreiches am zahlreichsten vertreten sind, so wuchern in den dortigen Urwäldern auch die gewaltigsten Schmarotzerpflanzen. Armesdick umspannen die Lianen die Stämme, schleichen von Baum zu Baum in einer Länge von vielen Hundert Fuß fort, schnüren wie Seile ganze Waldungen zusammen und machen sie so undurchdringlich, daß mit der Axt oftmals hundert Bäume von ihrer Wurzel getrennt werden und dennoch in der Umschlingung stehen bleiben. Unter dieser tödtlichen Umschlingung ersticken die Bäume, verfaulen und zerfallen, während der Mörder auf neuen Raub ausgeht. Die Mistel bohrt ihre aussaugenden Wurzeln zwischen die Rinde unserer Obstbäume und entkräftet sie. Der Frauenflachs geht ebenso mordend von einer Pflanze zur anderen, ja, ganze Geschlechter und Familien stehen einander feindlich gegenüber und kämpfen so lange, bis das eine ausgerottet oder gewichen ist. Ein auffälliges Beispiel hierzu bieten die Zapfenträger und die Kätzchenträger. Deutschlands riesige Eichenwälder haben verschwinden müssen, weil sie in den nadeltragenden Forsthölzern überlegene Feinde besaßen, welche sich in sie eindrängten, ihre Lücken ausfüllten, ihre geschlossene Ordnung auseinandertrieben und mit dem jungen, schnellen Nachwuchse die alten, knorrigen und langsam wachsenden Veteranen um ihre angestammten und ehrwürdigen Rechte betrogen.

Ist es unter den 400,000 Arten der Pflanzen nicht grad' ebenso, wie unter den verschiedenen Arten der Menschenkinder? Die Beziehungen der einzelnen Naturreiche zu einander und zu dem Reiche der Nachkommen Adams sind überraschend innige. Das eine bereitet das andere vor, bildet es ab und setzt sich als Grundlage einer höheren Etage im Gebäude der irdischen Welt. Selbst wenn wir der einzelnen Pflanze ein metaphysisches Etwas, eine selbständige Seelenthätigkeit absprechen müssen, können wir doch nicht leugnen, daß der große Geist des Weltenalls die kleinste Flechte ebenso durchdringt, wie den gewaltigen Riesen des Waldes, daß er ebenso deutlich aus dem Gänseblümchen spricht, wie er aus dem Glanze des südlichen Kreuzes predigt, daß er sich im Dufte der Rose und dem Rauschen des Forstes ebenso nachhaltig offenbart, wie in dem Klange der Psalmen und dem Donnerworte vom Sinai. Es gilt eben hier wie überall das Wort Christi: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!«

Von diesem Gesichtspunkte aus hat eine jede Pflanze unbestreitbar ihre Seele, ihren Character, ihre Physiognomie und ihre Sprache. Die Tanne rauscht, die Linde säuselt, die Cypresse klappert mit ihren Zweigen; andere knarren; die Blätter lispeln und flüstern, sie scherzen und kosen; der Wald hat sein Piano und Fortissimo, sein Crescendo und Decrescendo, sein Solo und sein Tutti, überall aber nur eine Tonart: In Moll allein ertönt die Musik, die Stimme der Natur und reicht mit ihrem Einflusse so weit, daß kindliche Völker ihre Lieder allein nur in Moll singen.[182]

Dur ist die Tonart der That, des wildbewegten Lebens; die Natur dagegen ist ein großes, elegisches Gedicht. Ihr ganz hingegeben, versinkt auch der Mensch, sei es im Rauschen des Waldes, im Sausen des Windes, im Plätschern des Regens oder im Donner des Meeres in eine elegische, weiche Stimmung. Darum war der Wald zu allen Zeiten der Vater der Lyrik, und die Sprache der Natur ist auch allzeit die Sprache des einfachen, der Natur noch nahestehenden Menschen.

Die Physiognomie der Pflanzen ist eine doppelte, eine allgemeine und besondere. Die Teppichvegetation der Moose, Flechten und Gräser, die Stockvegetation des Bambus, der Bananen und Cactusarten, die Kronenvegetation der Laub- und Nadelwälder, die Schopfvegetation der Farren, Pandanen und Palmen und die Verzierungsvegetation, welche aus Orchideen, Winden, Lianen und Pfeffergewächsen ihre Ornamente zeichnet, sie alle haben ihren eigenen, deutlich ausgeprägten Character. Aber neben demselben besitzt jedes einzelne Individuum dieser Pflanzenarten seine speciellen Eigenthümlichkeiten, die nur dem liebevollen Auge des Naturfreundes erkenntlich sind, weil ihm die Rose an seiner Brust, der Halm zu seinen Füßen, der Blüthenzweig in seiner Hand, der Wipfel über der Firste seines Daches unendlich mehr bedeutet, als nur ein vielgesehener und alltäglicher Gegenstand.

Es darf uns daher nicht Wunder nehmen, daß die Phantasie des Menschen schon von Alters her die Pflanze personificirte und noch der Dichter der Gegenwart mit seinen rauschenden und duftenden Lieblingen wie mit lieben, freundlichen Wesen verkehrt, die ihn lieben, ihn kennen und Theil nehmen an den Leiden und Freuden seines Herzens.

Die Mythe der alten nordischen Völker dachte sich die Welt gestützt von der großen Esche Ygdrasil, welche ihre drei Wurzeln nach Jotunheim, Asgard und Niflheim schlug; die Bibel beginnt ihren Bericht über die ersten Menschen mit der Erzählung vom Baum des Lebens und vom Baume der Erkenntniß; die frommen Sagen aller Völker wissen von heiligen Gewächsen zu berichten, und der Aber- und Wunderglaube knüpft an gewisse Pflanzen, Theile von ihnen oder Vorgänge an ihnen seine überraschenden Berichte.

Wenn der denkende Mensch von der Stimme Gottes in der Natur spricht, so hat er ganz besonders das Reich der Pflanzen im Auge; denn hier wird jedes einzelne Blatt und selbst das kleinste Blümchen zum eindringlichen und freundlichen Prediger der Liebe, Allmacht und Allweisheit des himmlischen Vaters. »Und daselbst kam des Herrn Hand über mich und sprach zu mir: ›Mache Dich auf und gehe hinaus in das Feld; daselbst will ich mit Dir reden!‹ Und ich machte mich auf, und siehe, da stand die Herrlichkeit des Herrn vor mir,« heißt es im Propheten Hesekiel, und doch gehen Tausende an dieser Pracht und Herrlichkeit Gottes vorüber, ohne sie zu schauen und ihre Stimme zu hören.

Wie laut und machtvoll ertönt diese Stimme bei dem alljährlichen Erwachen der Natur,


»Wenn beim Klang der Kirchenglocken

Frühling durch die Fluren geht

Und der Wind die Blüthenflocken

Von den duft'gen Zweigen weht,«


um das menschliche Gemüth daran zu erinnern, daß es zwar eine Ruhe, aber nicht ein Aufhören des Lebens, einen Tod giebt! Welch hohe Beredtsamkeit liegt in der reifenden Stille einer befruchteten Flur, über welche sich der Reichthum goldener Aehren breitet:


»O süßes Grau'n, geheimes Weh'n,

Als knieten Viele ungesehn

Und beteten mit mir!«


Und selbst der raschelnde Fall des herbstlich gefärbten Laubes, das Knistern des Strauches unter der Fülle des winterlichen Schneekleides muß eine Stimme sein im hohen Liede der Natur.

Ist es nicht rührend, daß die arme, einsame Nähterin ihr hochgelegenes, kleines Mansardenstübchen mit einer bescheidenen Reseda zu schmücken strebt, um nur ein Wesen zu haben, dem es Liebe und Pflege erweisen darf? Und ist es vielleicht so ganz von ohngefähr, daß die schwellende Knospe, die duftende Blüthe so oft und gern gebraucht wird als ein Bild der »Menschenblume, der holden?« Wenn der Dichter begeistert ausruft:


»Da haben wir staunend Dich angeseh'n,

Waldröslein, so jung und so maienschön,«


oder wenn der ferne Wandersmann seiner Sehnsucht Worte giebt:


»Im Heimathsdörfchen blüht die Rose,

Die's meinem Herzen angethan,«


so stehen »Waldröslein« und »Dorfröschen« vor dem geistigen Auge des Hörers nicht als gleichgeartete, sondern als verschiedene begabte Wesen da, und es ist doch, als hätte jede Blüthe, wie die Sage berichtet, ihren eigenen Engel, der als Blumenseele aus der Krone lauscht und in der Tiefe des Kelches die lieblichen Mysterien des Duftes webt und dichtet. Wer könnte darum über die kindliche Anschauung lächeln, welche sich hütet, eine Blume zu brechen, weil dadurch ein zartes, geheimnißvolles Leben zerstört und vernichtet wird, oder wer wollte des Märchens spotten, welches die segenspendende Flur unter den Schutz einer fleißigen Fee stellt, die über Feld und Wiese wacht und jeden Raub mit Zauberbann bestraft?


»Laß steh'n die Blume,

Geh' nicht ins Korn:

Die Roggenmuhme

Geht um da vorn!«


warnt die Bäuerin der Altmark ihr Kind, wenn es nach einer azurblauen Cyane greift, und es ist nicht zu leugnen, daß[189] diesem wie überhaupt jedem Aberglauben eine an und für sich reine und beachtenswerthe Idee zu Grunde liegt. Es bringt dem Menschengeschlechte keine Gefahr, wenn die Poesie ihren belebenden Hauch über die Felder breitet und ein seelisches Leben und Walten da findet, wo der nüchterne Verstand nur Knollen, Kraut und Wurzeln sucht. Ist es doch, als wolle die dichtende Phantasie Ersatz bieten für die Selbstsucht der Menschenkinder, welche an das Wort »Feld« am liebsten den Begriff der Erndte, des nüchternen Erwerbes knüpft und dabei oft der Liebe vergißt, die den Keim belebt, die Halme lockt und die Früchte schwellt. Erinnert doch grad' dieses Wort an den größesten und häßlichsten Gegensatz der Liebe, welcher seine Opfer unter dröhnendem Rossesstampfen und brüllendem Kanonendonner auf dem »Schlachtfelde« in »des Todes blutige Rosen« bettet.

Wie über das Feld, so wirft auch über den Wald die Dichtung ihren verklärenden Schimmer, und das magische Dunkel, über welches sich die dichten Wipfel legen, ist ganz geeignet zur Herberge für das Märchen, welches, sinnend im weichen Moose liegend, seine Träume um die schlanken Stämme spinnt, daß sie sich emporranken in das flüsternde Gezweig und vom Waldesduft hinausgetragen werden in das Sonnengold, um sich beim Glanz der Sterne niederzusenken an das lauschende Ohr der Menschenkinder.

Mit fliegender Mähne und schäumenden Lenden, mit dem gewaltigen Gehörn das wirre Buschwerk zerfetzend, rast das riesige Elenn dahin, auf welchem der Woodlandsghost, der Geist der wilden Prairie, durch die Wälder des nordamerikanischen Westens saust. Vor ihm her jagen die lechzenden Geister derjenigen Rothhäute, welche vor den Bleichgesichtern flohen, und hinter ihm folgen auf feuerschnaubenden Rossen die Seelen der Weißen, welche unter den Streichen des Tomahawk fielen.

Ueber die Wälder Deutschlands braust der wilde Jäger mit seinem brüllenden, schreienden, heulenden und kläffenden Gefolge; in den dunklen Schluchten des Riesengebirges treibt Rübezahl sein Wesen; in den Alpenforsten des Waadtlandes haust ein Geist, welcher den Menschen bald als Grabbi (Geizhals), bald als Bita crotzé (Klauenthier), als Niton (Schalk), Tamai (Waldmensch), Osé (Vogel) oder Tofron (Landstreicher) erscheint. In den Wäldern Vorderasiens versteckt sich der riesige Scheidan; den Himalaya machen Tausende von Tschin's unsicher; auf Madagaskar dreht Mahao, die Zauberin, die stärksten Bäume zusammen und spinnt sie zu Flachs für ihr Hemde; auf den schottischen Bergen klagt der Geist Fingals um seine Tochter; jeder Wald hat seine Geschichte, seine Sage, seine gespenstische Bevölkerung, welche gut oder bös ist, das Licht oder das Dunkel liebt, je nach der Physiognomie, die ihm eigenthümlich ist.

Denn auch der Wald hat seinen Character, seine individuellen Eigenthümlichkeiten und läßt aus diesem Grunde sehr wohl eine Personification zu.


»Wer hat dich, du schöner Wald,

Aufgebaut so hoch da droben?

Wohl den Meister will ich loben,

So lang noch mein' Stimm' erschallt!«


gilt dem Hochwalde, dessen dunkles Getann mit seinen Wurzeln sich an die steilsten Felsenklüfte klammert und die vom Sturme zerrissenen Gipfel hoch in das Glühen der Alpen taucht. Dort hinauf dringt nur selten ein schwacher Laut des tief unten wogenden Lebens und nur der scharfe Knall der Büchse bringt unwillkommene Kunde von der Feindschaft, mit welcher die irdischen Geschöpfe sich bekämpfen. Ist's ein Wunder, daß er diesen Geschöpfen seine strengste, düsterste Miene zeigt und sie mit seinen stürzenden Felsen und Fluthen von sich abzuweisen sucht?


»Ade, Du liebes Waldesgrün, ade!

Ihr Blümlein mögt noch lange blühn, ade!

Mögt andre Wandrer noch erfreun

Und ihnen Eure Düfte weihn, ade!«


gilt einem ganz anderen Walde, dem Laubwalde, welcher seine Eichen- und Buchenstämme in den Boden des Unterlandes gründet und das lebendige und bewegliche Grün seiner Blätter nur hier und da mit einer Gruppe dunkler Nadelhölzer schattirt. Da breitet ein blumenreicher Teppich sich unter den kühlenden Laubkronen aus, der Strahl der Sonne umsäumt die zitternden und flüsternden Blätter mit purpurnen, goldenen und silbernen Rändern, und farbige Schimmer zucken und blitzen durch das Geäst. Hier hat das »Eichkätzerl«, das possirliche, seine eigentliche Heimath, metallisch glänzende Käfer summen unter der hohen Wölbung dahin, leichte Falter schlagen die zartbeschuppten Flügel, und draußen am Rande, wenn das Abendroth am Himmel verglüthe, erhebt die Nachtigall ihre bald süß klagende, bald selig jubelnde Stimme.

Da droben im Hochwalde färbt sich der See mit tiefdunklen Tönen und finstere Schatten schauen aus seiner Fluth. Es ist, als wohne der Tod auf seinem Grunde und in der Kälte seiner Wasser müsse jedes Leben, jede Bewegung ersterben. Hier unten aber umsäumt sich das Ufer mit heiterem Grün, flimmerndes Licht vibrirt über der wallenden Fläche, schimmernde Reflexe tanzen auf den spielenden Wellen und hell, treu und aufrichtig schauen die zurückgeworfenen Bilder aus der krystallenen Fluth empor. Und wenn des Vollmondes magnetische Helle den Schleier der Wolken durchbricht und geheimnißvolle Nebel um Busch und Strauch sich dehnen, dann beginnt die Fluth zu wallen; denn das Feenschloß da unten auf dem Grunde hat seine Thore geöffnet und ihm entsteigt die Herrscherin in wunderbarer, sinnverwirrender Schönheit, um das Reich der Sterblichen zu besuchen und den Tanz der Elfen zu belauschen.

Vermählt sich der Laub- mit dem Nadelwalde, so entsteht jene liebe Vereinigung von Hell und Dunkel, von Zartheit und Kraft, welche mit dem bekannten


»O Thäler weit, o Höhen,

O schöner, grüner Wald,

Du meiner Lust und Wehen

Andächt'ger Aufenthalt!«


gemeint ist und die Freundlichkeit des einen mit dem Ernste des anderen in die innigste Verbindung bringt.

Da giebt es sowohl für die Lust als auch das Weh des Menschenherzens ein lauschiges Plätzchen, an welchem man dem Walde, dem verschwiegenen, das stille Glück vertraut oder den nagenden Kummer klagt, und dazu rauschen die Wipfel und flüstern die Zweige so theilnehmend und beschwichtigend; das Herz wird ruhig, der Glaube schlägt wieder Wurzel, die Hoffnung grünt, das Vertrauen erstarkt, der entmuthigte Wille ermannt sich zu neuer That und beim Scheiden aus schattigem Grunde ertönt es mit neuem Muthe:


»Was wir still gelobt im Wald,

Wollens draußen ehrlich halten,

Ewig bleiben treu die Alten,

Bis das letzte Lied erschallt!«[190]


Quelle:
Geographische Predigten von Karl May. 4. Wald und Feld. In: Schacht und Hütte. 1. Jg. Dresden (1876). Nr. 24, S. 189-191.
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