117. Die gestohlene Gans.

[42] Vor langer Zeit ist in Osterwieck einer Frau eine Gans gestohlen, als Dieb derselben hatte sie eine andere Frau in Verdacht. Sie verklagte daher dieselbe und ließ sie beeiden. Beide Frauen starben bald darauf. Da hört denn einst ein »Chorännenknabe« (Currendenknabe) während der Nacht ein Läuten in der St. Nikolaikirche. Er springt in voller Angst aus dem Bette, zieht sich an und geht nach der Kirche, welche er offen und hell erleuchtet findet. Der Knabe begibt sich auf seinen Platz, sieht viele Andächtige, erkennt aber Niemand, versteht auch nicht, was sie singen. Nach Beendigung des Gesanges kommt ein Pastor hinter dem Altar weg und begibt sich davor, wird aber auch nicht von ihm erkannt. Das scheint ihm wunderlich, doch soll er nicht lange im Unklaren bleiben. Es stehen nämlich zwei Weiber auf und gehen vor den Altar. Der Knabe erkennt sie als jene beiden Frauen. Der Pastor verhört diese und es ergibt sich daraus die Unschuld der für schuldig gehaltenen Frau. Zugleich wird offenbar, daß der Dieb noch am Leben, jetzt aber schwer krank sei. Nach diesem kommt eine Frau auf den Knaben zu, die derselbe als die vor einigen Jahren verstorbene Schwester seiner Mutter[42] erkennt. Sie gibt ihm durch einen Wink zu verstehen, daß er sich aus der Kirche entfernen möge. Der Knabe thut's, die Kirchthür wird mit aller Gewalt hinter ihm zugeschlagen. Da er draußen ist, schlägts, er zählt 12. Zu Hause angekommen, fragt ihn seine Mutter, wo er gewesen sei. Morgen früh, antwortet er, will ich's euch erzählen. Am Morgen theilt er ihr alles mit. Die Mutter meldet's der Obrigkeit und die in der Kirche als Gänsedieb bezeichnete kranke Frau gesteht, durch den Pfarrherrn tief ins Gewissen gegriffen, ihr Vergehen.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Unterharzische Sagen. Aschersleben 1856, S. 42-43.
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