Sechzehntes Kapitel

Viel Schutt und Trümmer fallen auf Helene Wienands Gärtchen sowie in den Hof von Nummer zwölf in der Musikantengasse

[507] Mitternacht! Dunkelheit auf Erden! Ein heftiger Wind blies seit einigen Tagen, Herbstahnungen bringend, über die Stadt; aber droben am Himmelsgewölbe gingen die Sterne ruhig ihren Gang, und wie ihr Lauf bestimmt war, so waren auch die Geschicke[507] der Menschen bestimmt, eins durch das andere, alle durch den mächtigen Willen, welcher darüber »regiert« und welcher ad libitum den einen zum Atheisten, den andern zum Akosmisten macht. Zwischen Tag und Nacht laufen sich die Menschen zu Tode wie die Maus in der Rolle; o Mitternacht, wie feierlich und ernst klingt dein dröhnender Fußtritt ins Ohr – ein neuer Tag! – und noch immer will das Rad nicht zur Ruhe kommen. Lauf, lauf, arme Maus!

Mitternacht! Der Polizeischreiber Fiebiger hatte einen Tag voll drängender, häßlicher Arbeit zurückgelegt; der Jammer der Menschheit war ihm fast an die Kehle gestiegen und hatte ihm den Atem bis zum Ersticken geraubt. Nun lag er auf seinem harten Lager und wehrte sich wieder einmal gegen die Gebilde des Tages, welche ihn bis in den Schlummer verfolgten, gegen die Geister der großen Foliobände, die noch viel, viel inhaltvoller waren als die Folianten im Arbeitszimmer des Bankiers Wienand, obgleich auch in den Zahlen der letzteren für das Auge des Kenners, des Eingeweihten manch ergreifender Bericht über menschliches Glück oder Unglück niedergelegt war.

Robert Wolf lag wachend; er hatte sich halb aufgerichtet, indem er sich auf den Ellbogen stützte, und blickte durch die Risse im alten Fenstervorhang nach den Sternen, vor welchen der Wind die Wolken herjagte. Vor einem Jahre noch hatte er den Septemberwind durch die Bäume des Winzelwaldes rauschen gehört. Wie anders war alles seit den Tagen geworden! Der Jüngling blickte nach denselben Gestirnen, welche der Sternseher Heinrich Ulex in der nämlichen Stunde durch seinen Tubus beobachtete. Sie hatten beide das Recht zu wachen, der Forscher wie der Jüngling, jeder hatte Rätsel in sich und außer sich zu lösen. Die Liebe ist auch eine Wissenschaft, ein Streben, Forschen, Suchen nach dem Wahren, die Wissenschaft ist auch Liebe; beide blicken empor im Streben und Suchen und Sehnen – beide blicken nach den Sternen.

Aber der Wind ballte die Wolken immer mehr zusammen und jagte sie in immer schwärzern Massen vor die Sterne. Der Forscher schob sein Rohr zusammen und strich über die heiße Stirn;[508] der Bankier Wienand schloß das schwere Hauptbuch und schrob die Lampe nieder; auch ihm fielen die Augen zu; der Polizeischreiber murmelte ängstlich im Schlaf: »Da, da, haltet ihn – zu spät – schickt nach dem Henker.« Stern auf Stern verschwand am Firmament, erregt und schmerzlich beängstigt, beobachtete Robert, wie die Finsternis ein blitzendes Licht nach dem andern auslöschte. Die späten Schwärmer im Café de l'Europe wurden allmählich immer stiller; sie gähnten in den Kissen der türkischen Diwans, streckten die Beine immer weiter von sich und bliesen immer apathischer den Rauch der feinen Zigarren von sich. Der Kellner war im Winkel eingeschlafen.

Mitternacht! Noch stand der Sternseher am offenen Fenster und atmete das wilde, aber nicht kalte Wehen ein; er lauschte den zwölf Schlägen, die eine Uhr nach der andern bis in weite Ferne wie ein Echo aufnahm und wiederholte. Robert schob den Vorhang ganz zurück; kein Stern, nicht das winzigste Fünkchen war mehr zu erblicken am Himmel und auf Erden. Das Sausen in den Lüften wurde immer stärker, es fuhr durch die Höfe, um die Ecken, es fing sich in den Winkeln, umtanzte die Wetterfahnen, klapperte mit den Ziegeln, neckisch, mutwillig und leichtfertig, doch nicht boshaft. Nun schlief der Bankier bereits sicher und fest; er war ein starker Mann, und wenn er sein Hauptbuch geschlossen hatte, so waren die Sorgen selten so kühn, sich an sein Kopfkissen zu wagen; Herz und Hirn waren bei ihm aus gleich fester Masse, sie waren beide aus dem Kitt geformt, welcher die Gesellschaft zusammenhält.

Leon von Poppen hatte wieder einmal die magern Arme auf die Marmorplatte des Tisches im Café de l'Europe gelegt und den Kopf, der ein ganz anderes Gehirn als das des Bankiers barg, auf die Arme. Er schlief einen ähnlichen Schlaf wie der abgejagte Garçon in der Ecke.

Ein Uhr! Es kam Robert Wolf ein Gedanke an den fernen Bruder, an Eva Dornbluth aus dem Kantorhaus zu Poppenhagen. Er dachte an beide jetzt nicht mehr mit dem fieberhaften Groll früherer Tage. Wo mochten sie jetzt weilen? Wie mochte es ihnen gehen? Unendliche Räume überflog der Gedanke.[509]

Ein Uhr und ein Viertel! Schwer fing es endlich an, sich auf die Augenlider des Jünglings herabzusenken; der Schlaf wollte den Sieg über die unruhige Seele gewinnen. Der alte Ulex schloß sein Fenster; es verflossen noch fünf Minuten. Da ging plötzlich in der Ferne nicht sehr fern von dem Garten des Bankiers Wienand, neben dem hohen Schornstein und Fabrikgebäude, welche den Astronomen allnächtlich ärgerten, ein Leuchten auf, wie der Schein einer Laterne, und zitterte einige Augenblicke an einer Hauswand, ohne daß Ulex viel darauf achtete. Es verschwand, um gleich darauf von neuem und stärker emporzuzucken. Es erregte bald die ganze Aufmerksamkeit des Alten.

Nun glitt der Schein an den Fenstern einer andern Hauswand empor, nun fiel plötzlich ein feuriges Licht über die weiße Statue der Hebe neben der Holunderlaube – ein Schrei klang in der Ferne; – es zuckte ein Flämmchen über ein Dach, leckend und züngelnd. Dem Flämmchen aber nach brach die Flamme, hellodernd, blutigrot, gefräßig-gierig in der vollen Pracht ihrer furchtbaren Majestät –

Feuer! Feuer!

»Feuer! Feuer!« rief der Sternseher in den Hof von Sankt Nikolaus hinab, und in der Tiefe wiederholten Männer- und Weiberstimmen den unheilvollen Schrei. Sturmgeläut, Hörner und Trommeln ließen sich in der Ferne vernehmen; denn damals löschte man Brände noch nicht im tiefsten Schweigen wie heute. Auch auf dem Hofe von Nummer zwölf der Musikantengasse wurde es lebendig, Lichter erschienen in der Wohnung der Familie Tellering; hervor stürzten der Schreiner und sein Sohn, die blanken Äxte über der Schulter. Von seinem Lager fuhr der Polizeischreiber Fiebiger auf; Robert hatte die Kleider bereits in aller Hast übergeworfen. Der rote Schein fiel jetzt schon drohend in die Hinterfenster des Hauses des Partikuliers Mäuseler.

Wie jedes andere schlafende Haus überkam auch die Nummer zwölf der Musikantengasse der furchtbarste Schrecken bei dem plötzlichen Alarm, und es zeigte sich, daß Leute, die durchaus nicht im Rufe standen, Kopf zu haben, ihn dessenungeachtet verlieren konnten. Bei blitzschnell hereinbrechender Not[510] und Verwirrung zeigt sich am besten, was der Mensch ist und was er kann.

Julius Schminkert, der diesmal ausnahmsweise sich vor Mitternacht im Bett befunden hatte, bewies sich in seiner ganzen Größe. Er hatte durchaus nichts von Wert zu verlieren; so fuhr er denn in Hosen und Rock, kaltblütig und besonnen, und benutzte jede Gelegenheit, sich dem Gemeinwohl des Hauses zu widmen, aufs beste. Um den Schreiber und seinen albernen Jungen bekümmerte er sich nicht; er hörte ihren gestiefelten Schritt eilig hinter der Wand neben seinem Gemach und wußte, daß beide seiner nicht bedurften. Der erste, welchem er seine Energie widmete, war der halbtote Hausherr, der Rentier Mäuseler. Besinnungslos irrte der Biedermann auf seinem Vorplatze umher, in flanellenen Unterhosen und halbangezogenem Schlafrock, den Tabakskasten unter dem linken Arm, den Waschnapf in der rechten Hand. Merkwürdigerweise bezwang der darstellende Künstler seine Lust, dem Trübsalsbilde den Waschnapf aus der Hand zu nehmen und den Inhalt desselben über das ehrwürdige Haupt des ehrenwerten Bürgers zu gießen, vollständig, bemächtigte sich dafür aber ebenso vollständig alles dessen, was vom Rentier noch übrig war, und benutzte die Gelegenheit, um sich für seine lärmenden Dienstleistungen den Erlaß der rückständigen Miete eidlich versprechen zu lassen. Die Kassette mit den Wertpapieren des Hausherrn unter dem einen Arm, den Hausherrn selbst unter dem andern, die halbohnmächtige Madam Krieg am Rockschoß nachschleifend, stieg Julius zur Wohnung des Fräulein Aurora Pogge hernieder und erschien kühl lächelnd inmitten angstvollen mausehaften Umherlaufens und durchdringendsten Gekreisches und Gepiepes von Katze, Herrin und Dienerin. Alle Türen waren geöffnet, der Fußboden aller Gemächer, der Vorplatz wie die Treppe bereits bedeckt mit Plunder aller Art, welchen die unglücklichen Frauenzimmer in ihrer Ratlosigkeit aufgegriffen und umhergestreut hatten. In dem jungfräulichen Gemache Auroras setzte der Schauspieler den Rentier auf dem grünen Sofa unter dem Bilde des seligen Proviantkommissärs nieder; und trotz ihrer Verstörtheit besaß[511] Aurora noch schämige Kraft genug, den verwegenen Julius an den Haaren aus ihrem Schlafgemach zu ziehen, in welches er ungebeten seine vorwitzige, unheilige Nase steckte. Der Mime warf der erzürnten Schönen eine Kußhand zu, wies mit einer andern Handbewegung auf den ächzenden Hausherrn und schwebte aus dem Gemache. Hier hatte er nichts mehr zu tun, und beflügelten Schrittes eilte er die Treppe hinunter, getrieben von der süßen Hoffnung, sich der holden Angelika und ihrem Vater nützlich und angenehm zu machen. Wann hätte er eine günstigere Gelegenheit dazu finden können?

Auf den ersten Stufen der Treppe stieß sein Fuß an ein in blauen Samt gebundenes Buch, auf dessen Deckel zwei Tauben am Fuße eines Kreuzes sich schnäbelten. Er hob es auf, warf einen Blick hinein und stieß, scheu über die Schulter sehend, einen Ruf des Entzückens hervor. Er hatte ein Manuskript gefunden, von dessen Existenz das ganze Haus Nummer zwölf in der Musikantengasse eine dumpfe grauenvolle Ahnung hatte. Auf der ersten Seite des Büchleins stand in merkwürdiger Handschrift:


Thagebug

von

Aurora Pogge.


Blitzschnell glitt der Fund in die Brusttasche des glücklichen Finders; satanischen Jubels voll, schnalzte Julius Schminkert mit den Fingern, und noch warm von der zarten Berührung des jungfräulichen Busens Auroras war das himmelblaue Schatzkästlein einer edlen Seele.

»Göttlich, göttlich! Millionenfach gesegnete Stunde! Geschenk der Götter, feil für kein Königreich!« jauchzte innerlich der Taugenichts, bei jedem Ausruf sich am Geländer über sechs Stufen der Treppe abwärts hinwegschwingend.

Verwirrung, Not und Ratlosigkeit hatten ebensosehr von dem Parterre Besitz ergriffen wie von den übrigen Stockwerken des Hauses, das höchste ausgenommen, welches alle Seelen- und Körperkräfte ruhig beieinander behielt; und wir schieben die Bemerkung ein, daß an dem letztern Faktum durchaus nichts zu[512] verwundern ist, da die klarsten Köpfe ungemein häufig dem Dache sehr nahe wohnen. Das Gehirn hält sich ja auch in dem höchsten Teile des menschlichen Körpers auf.

Niemals sah man einen zitternderen Kleiderkünstler, niemals versteinertere Lehrlinge, niemals angstvoller umherhüpfende Bekleidungsgehülfen. Die schöne Angelika, ziemlich mangelhaft bekleidet, warf sich an die Brust Schminkerts und umklammerte ihn krampfhaft mit dem Ruf: »Rette mich, rette uns, o rette mich!«

»Aus Blut und Tod, aus Trümmern und Flammen!« deklamierte Julius, zärtlich das zarte Wesen an seinem Herzen festhaltend, ohne daß der ratlose Papa sich's verbat. »Es ist die Fabrik chemischer Waren in Brand geraten; wir werden höchstwahrscheinlich so gleich allesamt in die Luft fliegen. Halten Sie sich nur recht fest an mir, Engel der Seligkeit; wenn wir einmal in die Lüfte sollen, so geschieht's am angenehmsten paarweise; – o Angelika, Herrlichste Ihres Geschlechts, ich benutze wiederum die tragische Gelegenheit, den Brand von Semmelroth und Kompanie, um Ihnen den Brand meines Herzens zu offenbaren.«

»O hören Sie nur, sehen Sie nur – die Flammen! O wie gräßlich!«

»Was fürchtest du, Geliebte? Laß den Erdkreis zusammenbrechen; – wie sagt der Altmeister Goethe?


Unsterbliche heben verlorene Kinder

Mit feurigen Armen zur Gottheit empor!«


»Wasser, Wasser, Wasser!« schrie der Schneider. »Herr Schminkert, ich bitte Sie um Gottes willen, was sollen wir anfangen? Raten Sie, helfen Sie –«

»Da geht die hohe Polizei, nun sind wir gerettet!« rief Julius, als eben Fiebiger im blauen Rock mit rotem Kragen, begleitet von Robert, über die Hausflur eilte und in die menschenvolle Gasse stürzte. Wir lassen den entzückten darstellenden Künstler, die schöne Angelika und den atemlosen tailleur de Paris, um dem Schreiber und seinem Zögling zu folgen. Mit kräftigen Rippenstößen drängten sich die beiden durch die Menge, und Robert Wolf zeigte sich als ein kräftiger Bahnbrecher bis zu[513] einer Soldatenlinie, welche die Brandstätte gegen das andrängende Volk absperrte. Hier trat der rote Kragen des Polizeimannes in sein Recht, vor ihm öffnete sich bereitwillig die Reihe der Krieger, und der Schreiber fand sich bald mit Robert vor dem brennenden Wienandschen Hause.

Mit verheerender Wut hatte das Feuer um sich gegriffen und bot allen Anstrengungen der Menschen Trotz. Der Wind wühlte in den Flammen wie in einem feurigen Ährenfelde, die Hintergebäude des ganzen Stadtteiles standen in Flammen, und auch aus den Fenstern der Vorderhäuser leckten schon die roten gefräßigen Zungen. In dem Garten des Bankiers brach eine hohe Wand nieder, zerschlug die weiße Statue der Hebe, zerknickte die Holunderlaube und bedeckte mit glühenden Trümmern und Funkengewirbel die Blumenbeete, den zierlichen Tisch, die grüne Bank. Erbarmungslos griff das Feuer über das Lieblingsplätzchen Helenes weg, erbarmungslos, wie das Unglück in ihr junges Leben griff. Eine Bandfabrik wurde von den Flammen erfaßt; die Glut trieb die Bänderrollen hoch in die Lüfte und wickelte sie am dunkelroten Nachthimmel in den prächtigsten Schlangenwindungen auseinander. Aus allen Fenstern der obern Stockwerke des Wienandschen Hauses schlug das wilde triumphierende Element und spottete der Anstrengungen der Spritzen, der Pionierkompanien, der beiden Tellering, Vater und Sohn. Aus dem Café de l'Europe waren die Nachtschwärmer in die Straße gestürzt, und Leon von Poppen starrte wie blödsinnig, mit offenem Munde, in das schreckliche Lichtmeer, in welchem das Haus des Bankiers Wienand – vielleicht auch sein ganzer Reichtum – untergehen sollte.

»Das gute, alte Haus! Armer Wienand!« rief der Polizeischreiber, die Hände erhebend.

In tödlichster Angst flogen die Blicke Robert Wolfs umher. Sie, sie – wo war sie? Hatte man sie vergessen in den Flammen? War sie gerettet?

Der Jüngling stieß einen Schrei aus und sprang fort von der Seite des Schreibers. Quer über die Gasse schritt Ludwig Tellering, eine zarte leblose Gestalt in den Armen tragend. Funken,[514] Kohlen, glühende Balkentrümmer fielen immer dichter herab, nach einer andern Seite hin wurde der alte Fiebiger gedrängt; dem vor Ermattung strauchelnden Ludwig nahm Robert Wolf die leichte liebliche Last ab; vereint trugen beide die ohnmächtige Helene in das Café de l'Europe und legten sie sanft auf einem der Diwans nieder, auf welchen sich vorhin Leon von Poppen mit seinen Genossen gestreckt hatte. Die Wirtin und ihre Tochter nahmen sich der Armen bereitwilligst an, soviel es ihnen die Hast und Aufregung erlaubte, mit welcher auch sie ihr wertvollstes Eigentum in Sicherheit zu bringen hatten. Als treuer Wächter stand Robert neben dem jungen Mädchen, welches er bis jetzt nur aus so weiter Entfernung durch die Ferngläser des Sternsehers Ulex betrachtet und beobachtet hatte. Allerlei Volk drängte sich in und aus dem Gemach; eine kräftige geballte Faust streckte Robert einmal dem Freiherrn von Poppen entgegen, und er wich erst von seinem Wachtposten, als Juliane von Poppen sich durch das Getümmel drängte und ihr armes Herzenskind ans Herz schloß. Scheu zog sich Robert nun in einen Winkel zurück und starrte von dorther auf die alte Dame und das bleiche entsetzte Kind, bis das tapfere Freifräulein halb durch Bitten, halb durch Gewalt das Gemach räumte und so auch ihn wieder in die Gasse hinaustrieb.

Eine lange Häuserreihe stand nunmehr im lichten Brande. Im hohen Erdgeschoß seines brennenden Hauses war der Bankier noch immer mit seinen Leuten und der Rettungsmannschaft in gefahrvollster Arbeit beschäftigt. Manch wichtiges Dokument, manch wertvolles Schriftstück ging verloren; immer drohender ward die Gefahr; einer der Helfenden nach dem andern verließ das Gebäude, in welchem man fast erstickte, wo die Haare in der Hitze sich kräuselten und wo die Kleider einen Brandgeruch von sich gaben. Zuletzt fand sich der Bankier nur noch mit einem kühnen Mann allein. Mit heldenmütiger Aufopferung half der alte Meister Tellering beim Aufbrechen der Schränke, bis er von einer niederstürzenden Decke getroffen und gefährlich verwundet wurde. Da trug der Bankier den Greis auf seinen breiten Schultern aus dem Gebäude und gab es verzweifelnd[515] auf, noch mehr zu retten. Hinter den beiden stürzte das Haus in sich zusammen, und in der Gasse sank Ludwig Tellering mit wildem Angst- und Schmerzensruf neben seinem Vater nieder. Der bewußtlose Meister wurde auf einer Bahre in seine dunkle Hofwohnung zurückgetragen, begleitet und unterstützt von manchen versengten, rauchgeschwärzten Handwerksgenossen. Dicht ihm zu Häupten schritten der Polizeischreiber Fiebiger und der Sohn. An der ersten Straßenecke traf der traurige Zug auf den Wagen, zu welchem das Freifräulein von Poppen soeben Helene Wienand führte. Juliane beugte sich über den Verwundeten und winkte dem Sanitätsrat Pfingsten, an dessen Arm Helene hing. Auch der Arzt ging mit der Bahre, um sogleich Hülfe zu leisten. Der Bankier war nicht von der Brandstätte wegzubringen; er saß auf einem Stein- und Trümmerhaufen und blickte stier in das Glutmeer, dessen feurige Wogen über dem großen Buche zusammenschlugen, auf welches er in der letzten Zeit so oft so triumphierend seine Hand gelegt hatte. Aus dem Geprassel der Flammen klang es ihm wie höhnisches Lachen ins Ohr; seine Lippen zitterten, seine Zähne schlugen an einander; ein Augenblick hatte den Mann um viele Jahre älter gemacht. Die markige Gestalt war zusammengesunken; zu plötzlich war für diese berechnende Stirn das Unglück gekommen; der Bankier Wienand auf dem Trümmerhaufen lächelte wie kindisch, er fing an, an den Fingern zu zählen, und summte eintönig das Einmaleins vor sich hin. Freunde und Bekannte drängten sich teilnehmend, tröstend um ihn her; aber vergeblich waren alle Anstrengungen, den Unglücklichen vom Platze zu bringen. Auf alle Bitten und Vorstellungen schüttelte er verwirrt lächelnd den Kopf und wies auf die Flammen. Herr Leon von Poppen sah aus einiger Entfernung fast ebenso verwirrt auf ihn, schüttelte ebenfalls den Kopf und schlich mit matt niederhängenden Armen und höchst unkomfortablen Gedanken der mütterlichen Wohnung zu.

Robert Wolf sah Helene Wienand mit dem Freifräulein in den Wagen steigen, welcher sie nach der Wohnung der alten Dame führen sollte. Über ihm war der Himmel noch immer mit[516] blutigem Schein übergossen, obgleich man jetzt allmählich des Feuers Herr ward. Um ihn her wirbelte die aufgeregte Bevölkerung der großen Stadt. Der Jüngling war wieder einmal wie bezaubert, wie berauscht. Er hatte ein ähnliches Gefühl wie an jenem Abend, wo er verwundet auf dem Straßenpflaster lag – ebenso schmerzhaft, ebenso selig. Minutenlang blickte er dem davonrollenden Wagen nach; als er schon längst verschwunden war, stand er immer noch in solcher Verzückung da. Dann eilte er hinter dem traurigen Zuge her, welchem das Gerücht unheilverkündend voranlief, um die bis dahin so glückliche Hofwohnung von Nummer zwölf der Musikantengasse mit namenlosem Entsetzen und hellem Jammer zu erfüllen.

Von seinem Giebel aus hatte der greise Sternseher bewegt und doch ruhig in das wogende Flammenmeer, welches immer gewaltiger und dräuender gegen seine Höhe heranraste, herabgeschaut; er wich weder der Hitze noch dem Qualm; all das hohe Mauerwerk, über welches er sich so oft geärgert hatte, sah er zusammenstürzen, und nach jedem donnernden Gekrach schlug die Feuersäule um so wilder himmelan.

»Steinwälzen sie auf Stein«, sagte der Alte, »den Pelion auf den Ossa. Bis an die Sterne glauben sie ihre Burgen, ihr Glück auftürmen zu können. Was für Elend und Sorgen, für Blut und Schweiß sie mit vermauern! Wie sie sich quälen und ängsten! Sie bauen im Wachen, sie bauen im Traum – tausendarmiges Gigantengeschlecht! Immer höher, immer höher. Gut wissen sie Richtmaß und Zirkel zu gebrauchen, darin liegt ihre Sicherheit, darauf sind sie stolz – arme Toren! Den Flügelschlag der unsichtbaren Verderber fürchten sie nicht, den Flügelschlag, der im Vorbeistreifen die Paläste der Könige, die Häuser der Vornehmen, die höchsten Türme und höchsten Schornsteine niederwirft. O meine Sterne, mit ihrem Mauerwerk werden sie euch nicht erreichen; die Geister, welche zwischen Himmel und Erde wandeln, dulden es nicht!«

Bis zum grauenden Morgen stand der Greis an seinem Fenster; eine weite schwarze, rauchende Brandstätte fand der neue Tag. Viele Seufzer und Wehrufe irrten um den düstern Fleck[517] im großen Häusermeer. Viel müde Köpfe, viel elende Herzen, viel stumpfsinniges Ächzen und Brüten, viel laute wilde Flüche gab es um diesen schwarzen Fleck. Was wird aufwachsen aus dem Schutt und den Trümmern, aus dem Kummer und der Verzweiflung aller derer, welche verloren haben und welche jetzt noch so fest überzeugt sind, niemals wieder gewinnen zu können?!

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 507-518.
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