Zu Goethes westöstlichem Diwan

[331] Wollt ihr kosten

Reinen Osten,

Müßt ihr gehn von hier zum selben Manne,

Der vom Westen

Auch den besten

Wein von jeher schenkt' aus voller Kanne.

Als der West war durchgekostet,

Hat er nun den Ost entmostet;

Seht, dort schwelgt er auf der Ottomane.


Abendröten

Dienten Goethen

Freudig als dem Stern des Abendlandes;

Nun erhöhten

Morgenröten

Herrlich ihn zum Herrn des Morgenlandes.

Wo die beiden glühn zusammen,

Muß der Himmel blühn in Flammen,

Ein Diwan voll lichten Rosenbrandes.


Könnt ihr merken

An den Stärken

Dieses Arms, wie lang' er hat gefochten?

Dem das Alter[331]

Nicht den Psalter

Hat entwunden, sondern neu umflochten.

Aus iran'schen Naphthabronnen

Schöpft der Greis itzt, was die Sonnen

Einst Italiens ihm, dem Jüngling, kochten.


Jugendhadern

In den Adern,

Zorn und Glut und Mild' und süßes Kosen;

Alles Lieben

Jung geblieben,

Seiner Stirne stehen schön die Rosen.

Wenn nicht etwa ew'ges Leben

Ihm verliehn ist, sei gegeben

Langes ihm von uns gewognen Losen.


Ja von jenen

Selbst, mit denen

Du den neuen Jugendbund errichtet,

Sei mit Brünsten

Unter Künsten

Aller Art, in der auch unterrichtet,

Wie Saadi in jenem Orden

Über hundert Jahr' alt worden,

Und Dschami hat nah' daran gedichtet.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 331-332.
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