Meiner Mutter Grab

[296] Schauer fassen mein Gebein, es rollen

Hohl und dumpf hinab die schwarzen Schollen

Auf den eben eingesenkten Sarg:

Von der Wimper glänzt des Schmerzens Fülle;

Sie begraben eine Erdenhülle,

Die der schönsten Seelen eine barg.


Meine Mutter, hier an deinem Grabe

Bin ich wieder der verwais'te Knabe,

Der ich einst vor dreyßig Jahren war,

Als wir alle traurig in vereinten

Thränen an des Vaters Grabe weinten,

Angstvoll vor der Zukunft voll Gefahr.


Wehmuth wurde da dein Loos und Kummer,

Und der Sorgen unterbrochner Schlummer

Für uns alle: doch mit starkem Muth,[297]

Stärker als die Männer unsrer Tage,

Kämpftest du empor und ohne Klage;

Und des Lebens Abend war noch gut.


Stille Ruhe hattest du erstritten,

Glaubens-Einfalt waren deine Sitten,

Sanfte Heiterkeit dein frommer Blick:

Und gemüthlich sahen wir dich eilen,

Ärmeren noch Hülfe mitzutheilen,

Menschenfreundlich mildernd ihr Geschick.


Alle meine Freunde, die sie kannten,

Mit der herzlichsten Verehrung, nannten

Freundlich sie die gute Alte nur.

Was die Weisen loben im Gedichte,

Himmlisch heben zu verklärtem Lichte,

War in ihr die heilige Natur.


Ihres kleinen Dörfchens Ulmenschatten

Am gekrümmten Schmerlenbache hatten

Mit dem vollen goldnen Apfelbaum,

Höhern Reitz für sie, als alle Gaben

Aus den Hesperiden-Gärten haben,

Waren mehr ihr als Golkonda's Traum.[298]


Wie die Sonne nach dem Sommer-Regen,

Lächelte sie frey dem Tod entgegen,

Ruhig sich des innern Werths bewußt;

Wie die Frommen, beßrer Hoffnung Erben.

Sanft hinüber zu dem Leben sterben,

Lös'te sich der letzte Hauch der Brust.


Weiser als die Weisen mancher Schule

Lebte sie, in keinem weichen Stuhle,

Thätig froh des Alters manches Jahr;

Und wie einsam beßre Seelentrauern,

Mußt ich nur bey ihrem Blick bedauern,

Daß ich nicht Epaminondas war.


Tauch' empor zu Geistern deiner Milde,

In des Urlichts leuchtende Gefilde,

Die nur ahnend unsre Seele schaut;

Und es bleibe, bis wir aus den Hallen

Unsrer Dämmerung hinüber wallen,

Unser Geist dem deinigen vertraut.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Gedichte. Wien und Prag 31810, S. 296-299.
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