Phantasieen

[240] Meinem Schwiegersohne, Herrn Kantons-Maire Duncker geweiht


Hier, wo mir die duftende Linde

Zur Laube die Zweige verschlang,

Da lausch' ich, Natur! dir am Busen,

So selig dem Abendgesang.


Wo mich, wie die Kränze der Unschuld,

Die Glöckchen des Maien umblüh'n,

Verschleiert von seidenen Blättern

Und malerisch – lieblichem Grün;


Wie tönt in den hohen Platanen

Der Nachtigall wechselnder Schlag!

Sie singet in rührendem Liede

Des Herzens Gefühle mir wach.


Der Purpur des Abends umarmet

Die Wälder mit freundlichem Stral,

Die Geister des Friedens umschweben,

Wie himmlische Wesen, das Thal.
[241]

Der üppig umgrünte Hollunder

Schwebt über der silbernen Flut,

Umleuchtet von Mondes – Verklärung

Und abendlich – purpurner Glut.


Zerstreute Gesträuche von Haseln

Und Weiden umfassen ihn wild,

Der Mond und die blitzende Sterne

Bespiegeln ihr himmlisches Bild.


Ich lausche dem Rauschen der Wellen

In stiller und seliger Ruh,

Und seh' ihrem Nahen und Fernen

Bald sinnend, bald wehmuthsvoll zu.


So schwinden die seligsten Freuden

Hinab in die Fluten der Zeit,

Wenn Trennung von liebenden Wesen

Das eiserne Schicksal gebeut! –

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 240-242.
Lizenz:
Kategorien: