40. Die Mahrte.

[46] Mündlich aus Gorsleben.


Es giebt zweierlei Mahrten, Klettermahrten und Drückmahrten. Klettermahrten sind die Mondsüchtigen: als Drückmahrten aber müssen Liebende bei Nacht zu ihren Geliebten ziehen, wenn diese treulos geworden sind; und sie müssen sich auf sie legen und sie ängstigen, um sie so für ihre Untreue zu bestrafen. So kam auch einst ein junger Bursch alle Nächte in Gestalt eines weißen Mäuschens zu seiner frühern Liebsten, die ihm die Treue gebrochen hatte. Neben dem Bett des Mädchens stand eine Lade, und die hatte sie eines Abends zuzumachen vergessen. Als nun das Mäuschen heran schlich und auf das Bett springen wollte, lief es schnell über den Deckel der Lade hin; doch es glitt aus, fiel in die Lade, und der Deckel schlug zu. Nun fand man den Burschen, der mehrere Meilen von dem Dorfe des Mädchens entfernt[46] wohnte, am folgenden Morgen todt im Bette. Man ließ dem Mädchen sagen daß ihr alter Geliebter gestorben sei, wenn sie vielleicht zu seinem Begräbniß kommen wollte, und sie beschloß das auch zu thun. Als sie aber am Begräbnißtage die Lade aufmachte, ihre Sonntagskleider heraus zu nehmen, sprang das weiße Mäuschen her aus, lief über das Feld, und bald darauf sahen die Verwandten des Burschen, die an seinem Sarge standen, wie das Mäuschen dem Todten in den Mund schlüpfte. Da schlug er die Augen auf und war gesund. Und er erzählte daß ihm geträumt habe, er falle in eine tiefe Höhle und sitze drei Tage darin eingeschlossen. Als nun das Mädchen kam und dies hörte, erzählte sie von dem weißen Mäuschen, das sich in ihrer Lade gefangen hatte, und man erkannte wohl daß der Bursch zu ihr mahren gegangen war.

Quelle:
Emil Sommer: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen 1. Halle 1846, S. 46-47.
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