Man soll Niemanden verspotten, oder der edle Jud.

[188] Einige Kinder verspotteten einst einen sehr armselig gekleideten Juden, und äfften seine Sprache nach. Nach einiger Zeit geriethen die Eltern dieser kleinen Unbesonnenheit in große Armuth und Dürftigkeit, so daß sie nicht mehr wußten, wovon sie sich ernähren und kleiden sollten. Da wandten sie sich an viele Personen, welche aber ihnen doch nichts gaben und unter mancherlei Vorwändten die verlangte Hulfe abschlugen. Darüber verging den Eltern, wie den Kindern, aller Muth und alle Fröhlichkeit. So saßen nun die kleinen Spötter einst sehr niedergeschlagen und traurig vor der Thüre des Hauses, welches sie bewohnten, als zufällig derselbe Jude, den sie nur wenig Monate vorher so spöttisch und übermüthig behandelt hatten, vorüber ging. Er erinnerte sich gar wohl ihrer, aber wie verändert fand er sie wieder! Er fragte in seiner jüdischen Mundart, ob sie heute nichts lächerliches an ihm fänden? Da fing Joseph, der am ärgsten ihn verhöhnt, an zu weinen, und sprach: »Ach, lieber Freund! wir waren wohl recht einfältig, ja wohl böse, daß wir über ihn so[189] spotteten, aber jetzt sind wir auch gar hart dafür bestraft.« – Mitleidig forschte der Jude, dem schon die blassen eingefallenen Gesichter aufgefallen waren, nach ihrer Betrübniß, und erfuhr von den weinenden Kindern, wie arm jetzt die Eltern geworden, und wie sie Alle oft hungrig zu Bette gehen, und im Schnee und Regen mit bloßen Füssen umherlaufen müßten, weil sie weder Schuhe und Strümpfe kaufen könnten, und daß Niemand ihnen helfen wolle. Der Jude wollte den Vater sprechen und ging zu ihm ins Haus. Der arme Mann erstaunte über den unbekannten Besuch. Die Kinder klagten sich selbst an, und verlegen bat der Vater, nachdem er ihnen die begangene Unart verwiesen, ihnen zu verzeihen; allein der edle Jud sprach: »Das habe ich lange schon vergessen, und würde euch, unter diesen Umständen, nun gar nicht daran erinnern mögen. Ich sah aber die Noth, in welcher ihr euch gegenwärtig befindet, und bin gekommen, euch eine kleine Hülfe anzubieten, wenn ihr mir offenherzig eure Lage und Umstände entdeckt, daß ich wissen kann, wie euch am besten zu helfen ist.« Der tief gerührte und freudig überraschte Vater, entdeckte sich nun freimüthig dem großmüthigen Manne, der ihn unterstützte und es dahin brachte, daß die gesunkene Familie wieder empor kam. Wie[190] liebten ihn nun Alle, und wie bitter bereuten es die Kinder, diesen ihren edlen Wohlthäter so beleidigt zu haben. Er aber fuhr unermüdet fort sich ihrer anzunehmen, und wenn er kam, empfing ihn das Freudengeschrei der Kinder, welche ihm entgegenflogen, und ihn, wenn er sie verließ, weit begleiteten, und bald wieder zu kommen baten.

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Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, S. 188-191.
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