An die junge Gräfinn Henriette von Baudißin

1788.


In ihr Stammbuch.


Henriette, woll'st des alten

Oheims Liebe nicht verschmähn,

Nicht in seiner Stirne Falten

Nur den mürrischen, den kalten,

Den verlebten Vierz'ger spähn!

Noch, ich dank's dem guten Gott,

Noch ist mir der Freude Quellchen

Nicht versiegt; in seinen Wellchen,

Manchem Jünglinge zu Spott,

Strahlt in meines Abends Schimmer

Jedes Blümchen, wo's nur immer

Mir am Wege keimt, so klar,

Wie's in meiner Jugend Morgen

Strahlte, da mir Mühen, Sorgen,

Und ein graues Kummerhaar

Unbekannt, wie dir, noch war.


Sei du glücklich, gutes Mädchen!

Nur mit sanftem, seidnen Drähtchen

Spinne sich dein Lebensfädchen;[58]

Sei du glücklich, liebe, süße

Kleine, glücklich, und genieße

Jede reine Seligkeit,

Die dir Einfalt, die dir Unschuld beut!

Immer lächl' im Segensblick,

Strahlend, wolkenlos und blau,

Dir der Himmel; ach, so strahlend,

Und so wolkenlos, so blau,

Wie dir deiner Mutter Blick

Lächelt, jener, den ich auch

Kenne, wenn im warmen Hauch

Schneller Rührung, fromme, milde

Wehmuth sie zum Engelbilde

Malt, und durch den hellen Thau

Schöner blickt des Auges Blau.


Mädchen, dieser Himmelsthau

Träufl' auch dir! In seinem Glanze

Schimmert selbst der Freude Pflanze

Schöner, wenn im Blüthenschooß

Diese lautre Perle bebt,

Die zur Ahnung uns belebt,

Unser schönstes Erdenloos

Sei die Sehnsucht, sie, die schmachtend,

Jenseit Mond und Sonne trachtend,

Uns zu höh'rer Wonn' erhebt.

Quelle:
Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Band 2, Hamburg 1820, S. 42-43,58-59.
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