Sechste Begebenheit.

[443] In Indien (so eines der grösten Ländern in Asien ist) hat es sich im Jahr 1524. zugetragen, daß ein gewisses Weib an der Pest gestorben. Als man nun selbige begraben wolte, da hörte man in der Todten-Bahr ein klägliche Stimm: Wehe mir! wehe mir! die Todten-Gräber erschracken, und wolten schon davon lauffen. Weilen aber das Weib die Stimm wiederholte, und bathe, man solte sie doch um GOttes willen aus der Todten-Bahr heraus heben; dann es werde niemand das geringste Leid widerfahren, liessen sich die Todten-Gräber bereden; sprachen einander Muth und Hertz zu; schnitten das Leilach, in welches der Leichnam eingenähet war, auf und fanden das Weib wahrhaftig von Todten auferweckt: welche dann inständig gebetten, man möchte ihr doch einen Priester kommen lassen, deme sie beichten könnte. Nun das geschiehet. Ehe aber der Priester ihr Beicht anhörte, fragte er sie, was sich mit ihr zugetragen hätte? da sagte sie: Denselbigen Augenblick, nachdem ich verschieden, bin ich von einem Jüngling, der da glantzete wie die Sonne, für einen herrlichen Thron geführt worden, auf welchem Christus gesessen, umgeben von seiner Jungfräulichen Mutter, und anderen Heiligen; wie auch vielen Englen. Daselbst hatte sich auch sehen lassen der höllische Geist, von deme ich wegen allen meinen Sünden angeklagt worden. Weil nun weder ich noch mein Schutz-Engel etwas darwider einwenden können, bin ich genöthiget worden, in dieser äussersten Noth Hülf zu suchen, bey der seligsten Jungfrauen. Diese dann hatte sich erweichen lassen, und ihren liebsten Sohn gebetten, er wolle mir so viel Zeit vergönnen, damit ich meine Sünden beichten, und darüber Buß thun könnte: und diese Gnad hat sie mir ausgebetten, dieweil ich vor wenig Tägen einem Armen, den mein rauher Mann aus dem Haus geschaft, zur Ehr der Mutter GOttes hatte ein Allmosen geben. Auf dieses hin hat mir der Richter drey Täg vergönnet; vorher aber den höllischen Geistern befohlen, mich scharf zu geißlen. Und als dieses geschehen, ist mein Seel mit dem Leib wiederum vereiniget worden. Nach dieser Erzählung legte sie ihre Beicht mit Vergiessung häufiger Zähren ab; und nachdem sie drey Täg in stäter Ubung des Glaubens, der Hofnung, [443] und der Liebe gegen GOtt zugebracht, ward sie abermahl mit der letzten Weeg-Zehrung, und heiliger Oehlung versehen. Worauf sie mit grossem Trost ihren Geist auf ein neues aufgegeben.


Ex litt. Indiæ Orient. de anno 1524.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 443-444.
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