17. Auf die gutthätige Amarillis

[380] Wie man den Schöpfer recht in dem Geschöpfe liebet,

Weiss Amarillis woll, wenn sie der Armuht giebet:

In dem so sittsam sie ihr ihre Hülff' anbeut,

Dass man den Geber nicht vom Nehmer unterscheidt;

Und ihre Mild' und Gütt' als Laster zu verhehlen,

Und so zu geben pflegt, als andere zu stehlen:

Gleich einem vollen Fluss,1 der fliessend Tag' und Nacht,

Das Ufer fruchtbar zwar, doch kein Geräusche macht.


Fußnoten

1 Gleich einem vollen Fluss etc. So sehr als wollerfundene Gleichnüsse eine Rede zieren; so thöricht sind dieselbe, wenn sie mit der Natur nicht übereinstimmen. Hoc enim genus, sagt Quintilianus, a quibusdam Declamatoribus maximè corruptum est. Nam et falsis utunter: magnorum fluminum navigabiles fontes sunt; et generosioris arboris statim planta cum fructu est. Wie falsch es nun aber ist, dass Bäume von guter Art so bald sie gepflanzet sind, Früchte tragen, oder dass grosse Flüsse gleich von der Quelle an Schiffbar sind: So wahr ist es, dass volle Flüsse ihr Ufer in der Stille vorbey fliessen, und folgends ein schönes Ebenbild wollthätiger und dabey sittsamer Leute sind.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 380.
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