50. Warheit vermummt

[469] Calisto, der die Haut kaum an den Knochen hing,

Die traff' ich an, als sie vermummt im grünen ging,

Ich naht' herzu, und gleich als ob ich sie nicht kante,

Und ihr Gesicht zu sehen brante:

Die Sonne möcht' ich sehn die eine Wolck' hier deckt,

Sagt' ich, als ich die Hand nach ihrer Mascke streckt'.

Glaubt ihr, versetzte sie, dass insgemein auch meine

Den Thoren wie den Klugen scheine?

Erzürnt durch dieses Wort, Ey ist euch nicht bekant,

Sprach ich, ein schlaues Weib Semiramis genant?

Sie liess', als sie noch lebt', auf ihren Leichstein graben;

Wer einen Schatz verlangt zu haben,[469]

Der findet ihn gewiss hier unter diesem Stein.

Ein Frembdling fand sich drauf nach vielen Jahren ein;

Er lahs, und dachte Geld verachten nur die Narren,

Und fing die Grufft an aufzuscharren.

Es kostet' ihm viel Müh', und offtmahls schöpft' er Lufft,

Eh' er den Sarg entdeckt' in der verstörten Grufft;

Als aber er zuletzt den Deckel aufgebrochen,

So fand er nichts als dürre Knochen.

Ich schwieg: sie aber sprach, Freund ich versteh' euch nicht;

Nein, sagt' ich, Ey so zieht die Mascke vom Gesicht.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 469-470.
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