Neuntes Capitel
Was für gefährliche Leute die Philosophen sind

[224] Unter diesen einsamen Betrachtungen war es heller Tag geworden; Don Sylvio begab sich, um seinen Gedanken desto besser nachhängen zu können in den Garten, und wir wissen nicht, wohin sie ihn endlich geführt hätten, wenn Don Gabriel, der die Morgenstunden gewöhnlicher Weise mit einem Buch im Garten zubrachte, ihn nicht in den Gängen des Labyrinths angetroffen hätte.

Von ungefähr war das Buch, das Don Gabriel in der Hand hatte, ein physicalisches, und dieses führte sie nach und nach in ein Gespräch über die Natur, worin Don Sylvio seine cabbalistischen Begriffe und Grundsätze mit so vieler Scharfsinnigkeit und mit einer so lebhaften Beredsamkeit behauptete, daß Don Gabriel die Schönheit seines Geistes und die durchgängige Falschheit seiner Ideen gleich viel zu bewundern Ursache hatte.

Man mußte so sehr Philosoph sein, als es Don Gabriel war, um den Mut, über eine so tiefeingewurzelte Schwärmerei endlich Meister zu werden, nicht auf einmal zu verlieren. Allein durch die Gefälligkeit, die er gegen die Vorurteile unsers Helden hatte, hoffte er mit gutem Grunde ihn, ohne seine Grundsätze gerade zu bestreiten, unvermerkt so weit zu bringen, daß er selbst an der Wahrheit derselben zweifeln müßte.

Unsre Leser und Leserinnen (denn ungeachtet des strengen Verbots des Herrn Rousseau werden wir ganz gewiß dergleichen haben) unter denen schwerlich ein einziges nötig hat von Zoroastrischen, Plotinischen, Cabbalistischen, Paracelsischen und Rosenkreuzerischen Irrtümern geheilt zu werden, würden uns vermutlich für die Mitteilung einer so tiefsinnigen metaphysischen Unterredung wenig Dank wissen, zumal da es von Morgens sechs Uhr bis um die Zeit, da die Gesellschaft sich in einem kleinen Garten-Saal zum Frühstück versammlete, fortgesetzt wurde. Wir begnügen uns also ihnen zu melden, daß Don Gabriel, mit aller nur ersinnlichen Hochachtung, die er für die Weisen, welche die Natur im Ganzen und en detail durch Geister bewegen lassen, zu hegen vorgab, so starke Einwürfe[224] gegen diese wundervolle Natur-Lehre vorbrachte, daß Don Sylvio, wo nicht völlig wankte, doch ziemlich erschüttert wurde, und (so vorsichtig auch der Philosoph gewesen war, den Feen nicht zu nahe zu treten) nicht wenig besorgt zu werden anfing, was aus allen seinen Märchen und aus seinen eigenen Abenteuren werden möchte, wenn die Grundsätze des Don Gabriel, die dieser zwar für bloße Hypothesen gab, sich in facto wahr befinden sollten.

Nun half sich zwar Don Sylvio mit dem gewöhnlichen Schlusse, den die Schwärmerei zu machen pflegt, wenn sie von der gesunden Vernunft in die Enge getrieben wird; er verwies sich selbst auf seine Erfahrungen, und schloß, daß Grundsätze, die seiner Erfahrung widersprächen, notwendig falsch sein müßten. Allein es regte sich doch, wir wissen nicht was, in seinem Kopfe, das ihn bei diesem Schlusse nicht so ruhig sein ließ, als man es bei einer geometrischen Demonstration zu sein pflegt; und da er ein ungemeiner Liebhaber von Speculationen von dieser Gattung war, so willigte er mit Vergnügen ein, dieses Gespräch zu einer andern gelegenen Zeit in der Bibliothek des Don Eugenio fortzusetzen.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 1, München 1964 ff., S. 224-225.
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