53.
Kleombrotus an Aristipp.

[316] Lass' ab von mir, guter Aristipp! Alle deine Mühe, mir das Bild des gewaltsam sterbenden Sokrates und das Gefühl meiner Undankbarkeit gegen ihn erträglich zu machen, ist vergeblich. Niemals, niemals werd' ich mir verzeihen können, daß ich die heiligste der Pflichten einer phantastischen Leidenschaft und selbstsüchtigen Weichlichkeit aufzuopfern fähig war! Und daß ich es nicht könne – daß die Zeit, die alle andern Seelenschmerzen heilt, nur für die meinigen keinen Balsam habe, dafür hat Plato gesorgt.

Dieser Tage wird mir ein Buch von Athen zugeschickt, Phädon betitelt, worin Plato diesen Eleaten seinem Freunde[316] Echekrates erzählen läßt, wie Sokrates am Tage seines Todes sich noch mit den Seinigen unterhalten und überhaupt bis zum letzten Augenblick sich benommen habe. Dem Buche war ein kleines Stück Papier beigefügt, worauf nichts als das einzige furchtbare Wort Lies! mit großen Buchstaben geschrieben stand. – Unmöglich könnt' ich dir beschreiben, wie mir beim ersten Anblick dieser Rollen zu Muthe war. Es währte eine gute Weile, bis ich nur die Buchstaben zu unterscheiden vermochte; mehr als Einmal ergriff ich das Buch mit zitternder Hand, und mußt' es immer wieder bei Seite legen. Aber, wie ich endlich die Augen wieder gebrauchen konnte, und bis zu der Stelle gekommen war, wo Phädon alle Athener, die sich an diesem traurig feierlichen Tage um ihren dem Tode geweihten Freund und Vater versammelt hatten, aufzählt, und Echekrates fragt: waren auch Auswärtige dabei? und Phädon den Simmias, Cebes und Phädondes von Theben, und den Euklides und Terpsion von Megara nennt, und dann auf die Frage: wie? waren denn Aristipp und Kleombrot nicht auch da? die Antwort gibt: nein, es hieß sie wären zu Aegina – fiel mir das Buch aus der Hand, mir ward finster vor den Augen und ich sank zu Boden.

Von diesem Augenblick an sind mir die schrecklichen Worte: »es hieß sie wären in Aegina,« nicht aus den Gedanken gekommen; sie erklingen immer in meinen Ohren, und stehen allenthalben mit kolossischen Buchstaben geschrieben, wo ich hin sehe. Aber von diesem Augenblick an stand es auch fest und unerschütterlich in meiner Seele, was mir noch allein übrig sey. – Beneidenswürdiger Aristipp! Dir that das[317] verleumderische Gerücht Unrecht; dich hatte die Pflicht nach Cyrene abgerufen! Aber ich Unglückseliger, ich war zu Aegina! – In wenigen Stunden konnt' ich zu Athen seyn – wußte alles was vorgefallen war – hatte vierzig Tage um zur Besinnung zu kom men, und ließ mich, bald durch falsche Scham, bald durch die unmännliche Furcht, ich würde den Anblick des geliebten Sterbenden nicht ertragen können, bald durch die thörichte Hoffnung daß seine Freunde Mittel finden würden ihn zu befreien, zurückhalten, die schönste, dringendste, heiligste der Pflichten zu erfüllen! – Nein, Aristipp! muthe mir nicht zu, daß ich mit dieser Furienschlange im Busen, mit diesem in meinem Innern wühlenden Bewußtseyn, länger leben soll! Daß ich leben soll, um in jedem Auge, das mich anblickt, die Worte zu lesen: er war in Aegina! – O Sokrates! wenn noch ein Mittel ist deinen zürnenden Schatten zu versöhnen, so ist es dieß allein! Wenn noch ein Mittel ist, meine Seele von diesem schwarzen Flecken zu reinigen, so ist es dieß allein! Und wär' es (wie du sagtest) allen andern Menschen unrecht, eigenmächtig aus dem Leben zu gehen, ich bin ausgenommen! Mir ist es Pflicht, dich im Hades, im Elysium, im unsichtbaren Reiche der Geister, überall wo du auch seyn magst, aufzusuchen, und so lange zu deinen Füßen zu liegen bis du mir vergeben hast! – Wähne nicht ich schwärme, Aristipp! Meine Sinnen sind in diesem Augenblick reiner, meine Seele freier als jemals – die Stunde ist da – ich höre den dumpfen Ruf der Unterirdischen – was säum' ich länger? Lebe wohl, Aristipp! – Lais! – Musarion! – Lebet wohl! Vergeßt mich! ich bin nicht würdig in euern Herzen fortzuleben.150

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 316-318.
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