18.
Aristipp an Lais.

[89] Darf ich dir, im Vertrauen auf die Rechte einer zehnjährigen Freundschaft, gestehen, schöne Lais, wie mir deine jetzige Lebensweise vorkommt? Betrachte ich sie als einen bloßen Uebergang von der Glorie einer unumschränkten Gebieterin über die Person und die Schätze eines Persischen Großen, zu der glücklichern aber weniger schimmernden und prunkenden Lebensart, die einer Einwohnerin von Korinth geziemt, so wünsche ich bloß, daß du dich entschließen mögest, zwar nicht[89] gar zu hastig, aber doch lieber zu schnell als zu langsam, von der Höhe herabzusteigen, die du mit der freiesten Besonnenheit verlassen hast. Was die stolzen Korinthier in die Laune setzt, dir, wie einer fremden Fürstin, welche sich eine Zeit lang unter ihnen aufhalten wollte, eine Art von glänzendem Hof zu machen, ist (außer dem Reiz, den die Neuheit der Sache für sie hat) hauptsächlich die Hoffnung, womit jeder sich schmeichelt, den Vorzug endlich bei dir zu erringen, nach welchem sie alle trachten. Da du nicht sehr geneigt scheinst so viel Glückseligkeit um dich her zu verbreiten, so würde es deiner Ruhe schwerlich zuträglich seyn, wenn du den süßen Wahn einer so großen Menge von Aspiranten allzu lange nähren wolltest. Das Rathsamste wäre also, dich selbst von der hohen Lydischen Tonart53 allmählich zu der gewohnten Dorischen herabzustimmen; und dazu, däucht mich, würden deine kleinen Abendgesellschaften ein sehr gutes Mittel seyn, wenn du ihnen so viel Geschmack abgewinnen könntest, deine gesellschaftliche Mittheilung allein, oder doch beinahe allein auf diese den Musen vorzüglich geheiligten Orgien einzuschränken; an welchen ich nichts auszusetzen habe, als daß ich durch eine Entfernung von dritthalbtausend Stadien davon ausgeschlossen bin. Doch, du willst mir ja Gelegenheit geben auch abwesend an ihnen Theil zu nehmen, da du mich aufforderst, dir meine Gedanken über euer neuliches Tischgespräch mitzutheilen. Ich bin nicht eitel genug mir einzubilden, daß ich über diesen Gegenstand etwas zu sagen hätte, das für dich neu wäre; und überhaupt gehört, meiner Meinung nach, das Schöne unter die unaussprechlichen Dinge – der Natur, und[90] läßt sich besser fühlen und genießen, als zergliedern und erklären. – »Aber (wirst du sagen) diese unaussprechlichen Dinge sind ja eben was uns am stärksten anmuthet, und worüber wir am liebsten vernünfteln – oder irre reden mögen.« – Ich füge mich also sowohl deinem Willen als meinem eigenen Naturtriebe, und wenn ich dir nichts Unbegreifliches und Unerhörtes offenbare, so schreib' es meiner zur andern Natur gewordenen Maxime zu: im Philosophiren immer verständlich zu bleiben, und vor allem mich immer selbst zu verstehen.

Epigenes hatte Recht, mit der Frage, »was nennen die Menschen schön?« den Anfang der Untersuchung zu machen; nur hätte er dem Einwurf Speusipps zuvorkommen, und sogleich antworten sollen: wir Griechen pflegen alles schön zu nennen, was uns, ohne Rücksicht auf seine Nützlichkeit, gefällt. Das Wohlgefallen ist immer nothwendig mit einem angenehmen Gefühl verbunden, und umgekehrt; aber dieses Gefühl ist nicht der Grund warum uns das Schöne gefällt, sondern die natürliche Wirkung des Schönen auf unsern Sinn. – »Warum gefällt uns denn aber das Schöne?« – Mit der Antwort: weil es schön ist, wäre nichts gesagt; indessen habe ich keine andere Antwort als, weil wir so organisirt sind daß es uns, wofern ihm nicht nachtheilige Umstände von außen oder innen im Lichte stehen, nothwendig gefallen muß. – »Aber muß denn alles, was gefällt, schön seyn? Gefallen uns nicht viele Dinge bloß darum, weil sie zweckmäßig und nützlich sind?« – Allerdings werden, unserm Sprachgebrauch zufolge, auch solche Dinge öfters schön genannt; nur hat der Sprachgebrauch[91] Unrecht, wenn er schön und gut vermengt. Das Schöne ist zwar, insofern es schön ist, immer etwas Gutes; aber das Gute ist nicht, insofern es gut ist, nothwendig auch schön; und dieß macht einen großen Unterschied – »Damit ist für den Begriff des Schönen nichts gewonnen,« sagt Speusipp; »das Räthsel, dessen Auflösung wir suchen, die Frage: was ist das Schöne an sich? bleibt noch immer ungelöst und unbeantwortet.« – Aus einem sehr einfältigen Grunde; bloß weil wir keine Antwort auf diese Frage haben. Das Schöne oder die Idee des Schönen, in Platons Sinne, ist, wie Speusipp selbst gesteht, kein Gegenstand unsres Anschauens. Wir sehen nur einzelne schöne Dinge, und auch diese sind nur schön durch ihr Verhältniß gegen die Organe unsrer Sinne; und wenn wir von schönen Dingen sprechen, so ist die Rede nur von dem, was dem Menschen, nicht was an sich schön ist. – »Diesemnach könnten wir von keinem Dinge sagen es sey schön; denn wie wollten wir die Stimmen aller Menschen, die jemals gelebt haben, jetzt leben, und künftig leben werden, darüber sammeln?« – Auch ist dieß sehr unnöthig. Mir genügt daran, daß etwas mir schön ist; erscheint es auch andern so, desto besser; zuweilen auch nicht desto besser: denn man ist öfters in dem Falle, etwas Schönes gern allein besitzen zu wollen. Wie dem aber auch sey, genug daß es nun einmal nicht anders ist noch seyn kann, und daß wir von sehr vielen Dingen keinen andern Grund, warum wir sie für schön halten, anzugeben haben, als weil sie uns schön vorkommen, oder, genauer zu reden, weil sie uns gefallen. – »Ein Ding kann also zugleich schön und nicht schön seyn?« – Nicht seyn, aber scheinen, so wie[92] z.B. dem Gelbsüchtigen die Lilie, die allen gesunden Augen weiß ist, gelb zu seyn scheint. Was ich schön finde, kann allerdings andern, aus mancherlei Ursachen, mit Recht oder Unrecht, gleichgültig oder gar mißfällig seyn; denn Vorurtheil oder Leidenschaft kann mich oder sie verblenden. Die Liebe verschönert und hat für jeden Fehler des Geliebten ein milderndes Wörtchen, das ihn bedeckt oder gar in einen Reiz verwandelt; der Haß thut das Gegentheil. Mangel an Bildung und klimatische oder andere locale Angewohnheiten haben vielen Einfluß auf die Urtheile der Menschen über Schönheit und Häßlichkeit. Kurz, das Wort schön, welchem Gegenstand es beigelegt werden mag, bezeichnet bloß ein gewisses angenehmes Verhältniß desselben, besonders des Sichtbaren, Hörbaren und Tastbaren, zu einem in Beziehung mit demselben stehenden äußern oder innern Sinn; weiter hinaus reicht unsre Erkenntniß nicht, oder verliert sich in dunkle Vorstellungen und leere Worte.

Ein solches Wort scheint mir die angeborne Idee zu seyn, welche der Neffe des großen Aërobaten54 Plato für den Kanon55 des Schönen, und Plato selbst (wenn ich ihn anders verstehe) für einen in unsre Seele fallenden Widerschein eines ihm und uns unbegreiflichen Urbildes des Schönen ausgibt, welchem er in den überhimmlischen Räumen56 einen Platz unter den übrigen Ideen anweiset. Da diese Platonischen Offenbarungen auch mir (wie dem wackern Euphranor) nichts klärer machen, so halte ich mich an das, was ich auf dem Wege der Beobachtung der Natur im Geschäfte der Entwicklung und Ausbildung unsres Schönheitssinnes abgelauscht zu haben glaube.[93]

Ich nehme als etwas allgemein Wahres an, daß ein gewisser Grad von Licht, und die gänzliche Abwesenheit desselben, eine ganz lichtlose Finsterniß, die entgegengesetzten äußersten Gränzen bezeichnen, innerhalb welcher das Licht allen gesunden menschlichen Augen schön ist. Innerhalb dieser Gränzen ließen sich, wenn wir ein Werkzeug das Licht zu messen hätten, eine Menge Abstufungen andeuten, welche die Grade unsers Vergnügens am Licht, oder (was eben dasselbe sagt) die Grade seiner Schönheit bezeichnen würden. Indessen lehrt die Erfahrung, daß eine gewisse Abwechselung und Mischung der höhern Grade des Lichts mit dem niedrigsten dasjenige ist, was in dem großen Gemälde der Natur die angenehmsten Eindrücke auf uns macht. Der Grund hiervon liegt ohne Zweifel in der organischen Beschaffenheit unsers Auges, und mich dünkt, wir können uns dabei beruhigen, ohne tiefer in das Geheimniß der Natur eindringen zu wollen als sie uns erlaubt. Mit den Farben hat es eben dieselbe Bewandtniß. Der Anblick einer in tausendfältige Schattirungen von Grün gekleideten und von einem azurnen Himmel umflossenen Landschaft vergnügt unser Auge und däucht uns schön; noch schöner der Himmel, wenn eine Menge leichter goldverbrämter Rosenwölkchen, wie schwimmende Inseln in einem hellblauen Meere, von Abend gegen Morgen langsam an ihm daherschweben; am schönsten, wenn die Abendsonne durch ein dünnes Dunstgewölk in eine Glorie von zusammengefloss'nen Regenbogen zu zerschmelzen scheint. Eine ähnliche Wirkung würde der Anblick der Erde thun, wenn Bäume, Gras und Kräuter, gleich einem mit den buntesten Blumen[94] aller Art besetzten Gartenstück, einen unaufhörlichen Wechsel der lebhaftesten Farben in unsre Augen spielten. Wie entzückend aber auch ein solcher Anblick wäre, so sind doch unsre Gesichtswerkzeuge nicht dazu eingerichtet, so viel Schimmer und so lebhafte Farben in die Länge zu ertragen. Indessen erklärt sich daraus, warum uns die Natur im Frühling am schönsten erscheint; weil nämlich die Färbung des magischen Gemäldes, das sie uns in dieser lieblichsten der Horen darstellt, zwischen dem einförmigen Blau und Grün, und einem allzu bunten und feurigen Farbenspiel gleichsam in der Mitte schwebt.

Eben so, wie die Ursache der mehr oder minder an genehmen Wirkung des Lichts und der Farben in der Organisation unsers Auges zu suchen ist, scheint auch die allgemeine Erfahrung, daß gewisse Linien, Figuren und Körper dem Auge und der tastenden Hand angenehmer sind als andere, hauptsächlich in der natürlichen Beschaffenheit dieser Organe gegründet zu seyn. Warum gefällt uns eine sanftwallende Linie besser als eine gerade? warum ein Cirkelbogen besser als ein Winkel? Die Kreislinie mehr als das Eirund? Wie man diese Fragen auch beantworte, am Ende müssen wir immer gestehen, die Einrichtung unserer Gesichts-und Gefühls-Werkzeuge bringe es nun einmal so mit sich. Eine gerade fortlaufende Linie, eine ebene ununterbrochne Fläche gefällt einen Augenblick, wird aber bald durch ihre Einförmigkeit langweilig; das Winklichte beleidigt Gesicht und Gefühl; ein sanfter Uebergang vom Ebnen zum Gebogenen schmeichelt beiden. Daher, daß uns das leichte Wallen eines sanftbewegten Wassers schöner däucht, als die schroffen in einander[95] berstenden Wogen des empörten Meeres; daher, daß unsre Töpfer und Bildner gewisse zwischen der Kugel und dem Ei mehr oder weniger in der Mitte schwebende Formen als die schönste zu Urnen und Prachtgefäßen wählen.

Was ich von Licht und Schatten, Farben und Linien als den Elementen des sichtbaren Schönen gesagt habe, gilt in seiner Art auch von den verschiedenen Schwingungen der Luft, wodurch der Schall in unserm Ohr und vermittelst dieses Organs in unserm innern Sinne gewisse angenehme Gefühle erregt; von dem majestätischen Rollen des Donners bis zum leisen Geflüster der Pappel und Birke; vom klappernden Tosen eines entfernten Wasserfalls, bis zum einschläfernden Murmeln einer über glatte Kiesel hin rieselnden Quelle; vom fröhlichen Geschwirr der Lerche bis zum eintönigen Klingklang der Cicade. Alle diese einfachern Schälle und Töne, durch welche die Natur unser Ohr als ein zu ihr stimmendes lebendiges Saiteninstrument anspricht, betrachte ich als die Elemente des hörbaren Schönen, welches, gleich dem sichtbaren, in der Mitte zwischen zwei Aeußersten schwebt, und also eben demselben Gesetz unterworfen ist, wodurch die dem Auge gefälligen Töne des Lichts und der Farben, und die dem Gefühle schmeichelnden Formen der Körper bestimmt werden, dem Gesetze der Harmonie der sinnlichen Eindrücke von außen mit der Einrichtung der ihnen entsprechenden Organe.

Wiewohl ich nun diese angenehmen Empfindungen, wovon bisher die Rede war, als die Elemente betrachte, woraus alles sichtbare, hörbare und fühlbare Schöne zusammengesetzt ist; so würden sie uns doch, jede für sich allein, nie auf den[96] Begriff der Schönheit geführt haben. Denn wie lebhaft auch die angenehme Empfindung seyn mag, die z.B. durch eine gewisse Farbe oder einen gewissen einzelnen Ton in uns erregt wird; so würde doch eine lange Dauer derselben unser Auge oder Ohr ermüden, und uns erst gleichgültig, dann langweilig, endlich widrig und unerträglich werden. Verschiedenheit und öftere Abwechselung der angenehmen Eindrücke sind sowohl zum Vergnügen als zur Erhaltung der Organe gleich nothwendig: aber im Verschiedenen muß Aehnlichkeit seyn, die Abwechselung durch sanfte Uebergänge bewirkt werden, und das Mannichfaltige, von Harmonie zusammengefaßt, zu einem Ganzen, dessen Totaleindruck uns angenehm ist, verschmolzen werden; und dieß allein ist es, was die Idee der Schönheit in uns erzeugt.

Lass' uns nun einen höhern Standort nehmen. Die Natur ist alles was ist, war, und seyn wird, also auch die Quelle, so wie die Summe alles Schönen. Wär' es möglich einen Augenpunkt zu finden, aus welchem sich die ganze Natur mit Einem Blick von uns überschauen ließe, so würden wir das wahre Urbild alles Schönen in der Wirklichkeit vor uns sehen. Aber unser Auge ist auf ein enges Hemisphärion eingeschränkt, und die Natur unermeßlich. Was sie unsern Sinnen darstellt, sind nur unendlich kleine Abschnitte und Bruchstücke eines gränzenlosen Ganzen. Aber das Wundervolle und Göttliche in ihr, das, wodurch sie sich so unendlich weit über die Kunst des Men schen erhebt, ist, daß jedes der kleinsten Gliedmaßen, aus welchen sie zu einem einzigen leben- und seelenvollen Körper innigst verwebt ist, eine Welt voll harmonischer[97] Mannichfaltigkeit, eine unendliche Menge von organisirten Theilen enthält, deren jeder wieder als ein neues Ganzes betrachtet werden könnte, wenn die Werkzeuge unsrer Sinne fein und scharf genug wären, die besondern Eindrücke, die er auf uns macht, zu unterscheiden.

Hier verliert sich der Gedanke in einem uferlosen Ocean, und uns bleibt nichts übrig, als uns wieder in die Schranken unsrer eigenen Natur zurückzuziehen, und, dem Gesetz der Nothwendigkeit gehorchend, uns selbst (so klein wir sind) als den Kanon der Natur, unser Empfindungsvermögen als das Maß ihrer Schönheit, und unsre Kunstfähigkeit als eine schaffende Macht zu betrachten, welche berechtigt ist, den uns überlass'nen Erdschollen, unsre Welt, nach unsern eigenen Bedürfnissen, Zwecken und Begriffen zu bearbeiten, und in ein beschränktes Ganzes für uns zu unserm Nutzen und Vergnügen umzuschaffen.

Daher kommt es nun, daß wir die Natur nur insofern schön finden, als das Schauspiel, womit sie uns umgibt, oder der einzelne Gegenstand, den wir daraus absondern, und für sich betrachten, unsern Sinnen angenehm ist. Eben dieselbe Landschaft, die uns bei heiterem Himmel unter einem gewissen Winkel von der Sonne beleuchtet, in Entzücken setzt, gibt bei trüber Luft einen sehr gleichgültigen Anblick; eben dieselben Gegenstände, z.B. ein sumpfiger Boden, umgestürzte, ausgefaulte Baumstämme, schroffe mit schmutzigem Moose bewachsne Felsenstücke, tiefe finstre Höhlen, wildes struppichtes Gebüsche, – lauter Dinge die uns einzeln und in der Nähe betrachtet. Unlust, Ekel und Grauen erregen, erscheinen aus[98] einem entfernten Gesichtspunkt, und durch eine gewisse Beleuchtung in ein Ganzes verbunden, als ein reizendes Gemälde. Vorzüglich aber erklärt sich daher, daß der Mensch keine schönere Gestalt kennt als seine eigene, und sich selbst, ohne sich dessen bewußt zu seyn, zum Typen aller schönen Formen macht. Da alles was die Natur hervorbringt, in seiner Art vollendet und vollkommen ist, wie käme der Krokodil oder die Kröte dazu, daß wir sie so häßlich und abscheulich finden, wenn nicht daher, weil der Contrast ihrer Bildung und Gestalt mit der unsrigen so ungeheuer groß ist; da wir hingegen alle Arten von Thieren desto schöner finden, und um so viel mehr Anmuthung zu ihnen fühlen, je mehr die Formen und Proportionen ihrer Bildung sich den unsrigen nähern; eine Bemerkung, die du sogar an solchen Naturgeschöpfen, welche die wenigste Aehnlichkeit mit uns zu haben scheinen, an Blumen, Stauden und Bäumen, bestätigt finden wirst, und wovon der Affe allein eine Ausnahme macht, weil er, durch einen Anschein von Aehnlichkeit, die mit der widerlichsten Häßlichkeit verbunden ist, der menschlichen Gestalt zu spotten, und den höchsten Grad von Verunstaltung und Abwürdigung derselben darzustellen scheint.

Es scheint mir nun ein Leichtes, die verschiedenen Meinungen deiner Symposiasten nach dieser Ansicht der Sache zu vereinbaren oder zu berichtigen. Wenn wir zwischen dem, was ich die Elemente des Schönen nenne, und den schönen Naturerzeugnissen oder Kunstwerken, die daraus zusammengesetzt sind, gehörig unterscheiden, so heben sich alle Schwierigkeiten von selbst. Wir können von jenen keinen andern Grund[99] angeben warum sie uns gefallen, als weil sie einen angenehmen Eindruck auf unsre Organe machen; bei diesen hingegen liegt der Grund tiefer, nämlich in der Natur unsrer Seele selbst, welcher das innigste Wohlgefallen an Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit wesentlich ist. Indessen ist auch bei dieser zusammengesetzten und vielgestaltigen Schönheit nicht zu vergessen, daß das, wodurch sie uns wirklich als schön erscheint und gefällt, bloß die schnell auf Einen Blick oder in einem untheilbaren Moment gefühlte Einheit im Mannichfaltigen ist; indem dieses Gefühl und mit ihm die Idee der Schönheit so bald verschwindet, als wir den Gegenstand zergliedern oder in seinen einzelnen Theilen und Elementen stückweise betrachten. Mit dem, was Euphranor über die Platonische Idee der Schönheit sagt, bin ich insofern einverstanden, als ich sie für die Frucht einer natürlichen Täuschung halte, die daher entsteht, daß uns selten ein Gegenstand, sey es ein Werk der Natur oder der Kunst, vor die Augen kommt, der, unsrer Einbildung nach, nicht schöner seyn könnte als er uns erscheint. Indem wir dieß zu fühlen glauben, erzeugt sich in unsrer Phantasie ein mehr oder weniger klares Bild dieser höhern Schönheit, welches wir (dünkt uns) sogleich darstellen könnten, wenn wir die dazu nöthige Kunstfertigkeit besäßen; und daß es nichts anders ist, scheint mir daraus klar, daß sobald ein schöner Gegenstand uns gänzlich befriedigt, wir unser Ideal in ihm realisirt, ja wohl gar noch übertroffen zu sehen wähnen. Daß es solche Gegenstände gebe, kann wohl kein Unbefangener bezweifeln, der aus den Unsterblichen den Jupiter oder die Minerva des Phidias, und aus den Sterblichen die schöne Lais gesehen hat.[100]

Ich müßte mich sehr irren, oder meine Philosophie des Schönen (wenn ich ihr anders einen so vornehmen Namen geben darf) ist auch auf das, was wir in sittlichem Verstande schön nennen, anwendbar. Auch hier finde ich meinen Unterschied zwischen den Elementen desselben und dem, was unser Verstand daraus zusammensetzt, wieder. Aufrichtigkeit, Unschuld, Güte, Treue, Dankbarkeit, Bescheidenheit, Sanftheit, Großherzigkeit, Geduld, Seelenstärke, und alle aus diesen Eigenschaften oder Tugenden entspringenden Gefühle, Gesinnungen und Thaten nennen wir schön; weil sie uns, vermöge einer in unsrer Natur gegründeten Nothwendigkeit, gefallen, anziehen, Achtung und Liebe einflößen, wo, wann, und an wem wir sie gewahr werden, ohne alle Rücksicht auf das Nützliche, das sie für uns haben oder haben könnten. Im Gegentheil eine schöne That erscheint uns desto schöner, je mehr Selbstüberwindung und Aufopferung eigener Vortheile sie erfordert, und unser besonderes Ich kommt dabei so wenig in Betrachtung, daß, wofern der Mond Einwohner hätte und man erzählte uns irgend eine schöne That, die ein Mann im Monde vor zehntausend Jahren gethan hätte, die Vorstellung derselben eben so auf uns wirken würde, als wenn sie vor wenig Tagen mitten unter uns geschehen wäre. Dieß erstreckt sich sogar auf die Thiere, an welchen wir etwas dieser oder jener Tugend Aehnliches zu sehen glauben, ja noch weiter hinab bis ins Pflanzenreich, wo es, z.B. Blumen gibt, die uns durch Gestalt, Farbe und Wohlgeruch zu natürlichen Symbolen gewisser sittlicher Eigenschaften werden, und aus diesem Grunde, öfters auch ohne daß wir uns dessen bewußt sind, Personen[101] von zärterem Gefühl eine sonderbare Art von Anmuthung einzuflößen vermögen.

Einen aus jenen Eigenschaften, als den Elementen oder Grundzügen des Sittlichschönen richtig zusammengesetzten Charakter nennen wir schön, weil und sofern er sich uns als ein mit sich selbst harmonisches und in sich selbst vollendetes Ganzes darstellt. Das Schönste in dieser Art wäre also unstreitig ein ganzes Leben, welches, aus lauter schönen Gesinnungen und Thaten zusammengesetzt, uns das Anschauen der reinsten Harmonie aller Triebe und Fähigkeiten eines Menschen zu Verfolgung des großen Zwecks der möglichsten Selbstveredlung und der ausgebreitetsten Mittheilung gewähren würde. Ein solcher Charakter in einem solchen Leben dargestellt, würde für die Formen und Proportionen des sittlichen Menschen eben das seyn, was der Kanon des Polykletus für die richtigsten Verhältnisse des menschlichen Körpers. Denn unläugbar gibt es in beiden ein Schönstes, über welches die Phantasie nicht hinausgehen darf, wenn sie des wahren Ebenmaßes nicht verfehlen, und statt schöner Gestalten schöne Ungeheuer hervorbringen will. Die Einbildung, daß sich immer noch etwas Schöneres denken lasse als das Schönste was uns die Natur wirklich darstellt, ist bloße Täuschung; und ich bin auch über diesen Punkt gänzlich der Meinung deines Freundes Euphranor, der es zu verdienen scheint, daß du ihm hierin zur vollständigsten Ueberzeugung verhelfest.

Deiner Einladung zur Feier der bevorstehenden Poseidonien in Aegina (denn dafür darf ich doch wohl ohne mir zu viel zu schmeicheln die Frage am Schluß deines Briefes nehmen?)[102] würde ich mit der lebhaftesten Dankbarkeit entgegen fliegen, wenn ich mich nicht gegen einen der angesehensten Rhodier verbindlich gemacht hätte, seinen Sohn auf einer Reise nach Cypern zu begleiten. So fern von Aegina als ich dann seyn werde, könnt' ich mich um so leichter versucht fühlen, meine Wanderungen zu Wasser und zu Land noch eine gute Strecke weiter auszudehnen. Den Vorsatz trage ich schon lange mit mir herum, und soll er jemals ausgeführt werden, so muß es jetzt geschehen, da die Entfernung von dir schon so groß ist, daß etliche tausend Parasangen mehr oder weniger keinen sonderlichen Unterschied machen.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 89-103.
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