43.
Diogenes von Sinope an Antipater.

[322] Meiner Laune halben hättest du schon lang' einen großen Brief von mir, Antipater, wenn ich nur jedesmal, so oft sie mich ankam, etwas bei der Hand gehabt hätte, worauf und womit man schreiben kann. Endlich bin ich auf einer meiner Lustreisen nach dem Eselsberg so glücklich gewesen, ein ziemliches Stück glatter Baumrinde (die Oreaden mögen wissen von welchem Baume!) zu finden, und einen scharfen Kiesel, womit ich dir diesen Brief so leserlich auf die Rinde zu kratzen beflissen bin, daß du, mittelst einer mäßigen Gabe Räthsel zu errathen, so ziemlich mit meinem Geschreibe zu Rande kommen wirst.

Die Korinther haben mich bisher nach meiner Weise leben lassen, das muß ich ihnen nachrühmen; doch käm' es nur auf mich an, nach der ihrigen zu leben; d.i. mich alle Tage mit den leckersten Schüsseln anzufüllen und in den köstlichsten Weinen zu betrinken, wenn ich mich von allen begüterten Prassern dieser unermeßlich reichen Stadt der Reihe nach einladen lassen wollte, um ihnen die Ausgabe für die Lustigmacher zu ersparen, deren sie gewöhnlich einen oder[322] zwei bei ihren Schmäusen anstellen, um für baare Bezahlung durch witzige und unwitzige Possen den Gästen verdauen zu helfen. Wie lange sie oder ich es aushalten würden, ist ihr geringster Kummer.

Du wirst schon gehört haben, daß Lais, von ihrem Centauren bis an die Gränze des Isthmus begleitet, wohlbehalten aus Thessalien zurückgekommen ist. Aber was du schwerlich gehört hast – ich wollte dir's wohl ins Ohr sagen – wenn's nur nicht einer gar zu unglaublichen Prahlerei ähnlich sähe. Und doch geschehen Dinge in der Welt (sagen unsre alten Nestorn) die der tollste Poet nicht zu erdichten wagen würde, noch, ohne für einen Stümper in seiner Kunst gehalten zu werden, wagen dürfte. Bilde dir ein, daß mir so etwas mit der schönen Lais begegnet sey,142 und laß übrigens diese Sache, so wie das sonderbare Briefchen der Dame, das ich dir hier zu meiner Rechtfertigung mittheile, ein so heiliges Geheimniß seyn, als ob es dir von dem Hierophanten zu Eleusis mitgetheilt wäre.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 322-323.
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