Instrumental- und Gesangswerke der beiden letzten Jahre

[588] Am Anfang dieser Periode stehen die drei Quartette für Friedrich Wilhelm II (K.-V. 575, 589, 590), denen sich das »Stadlersquintett« mit Klarinette (K.-V. 581) zugesellt. Allen vier Werken merkt man die Nachbarschaft von »Così fan tutte« an dem großen Wert an, den sie der sinnlichen Schönheit der melodischen Erfindung, überhaupt den Reizen des äußeren Klanges beilegen. Bei dem Quintett führte schon die Mitwirkung der Klarinette darauf hin, bei den Quartetten wirkte die Rücksicht auf den Besteller mit, dessen Instrument, das Violoncello, hier ganz entschieden in den Vordergrund tritt; es wird nicht bloß selbständig, sondern oft geradezu solistisch behandelt und führt mit Vorliebe die Melodie in hoher Tonlage. Aus dem allem erklärt sich der große Unterschied, auch im ganzen Charakter, zu den früheren, namentlich den Haydn gewidmeten Quartetten1. Dort gab Mozart ganz sich selbst, hier hatte er bei aller Ursprünglichkeit seines Erlebens doch immer noch die durch den äußeren Zweck bedingte besondere Empfindungs- und Bildungssphäre vor Augen. Von einem Rückfall ins Unpersönliche, Konventionelle kann dabei freilich keine Rede sein. Im Gegenteil, es ist höchst reizvoll zu beobachten, wie sich das alte Ideal der Gesellschaftsmusik jetzt, z.B. im Unterschied zu den Klavierkonzerten, in seiner Seele widerspiegelt. Statt deren Glanz und ritterlichem Wesen herrscht ein weit stillerer, innerlicherer Geist. Das daseinsfrohe Schwelgen in der Schönheit ist geblieben, aber von einem zarten Duft von Wehmut berührt. Man denkt an Schillers Wort: »Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter bezwinget.« Es liegt etwas wahrhaft Rührendes in diesen Gebilden, um so mehr als sich jene Wehmut nicht zu bewußtem Pessimismus steigert. Auch ist Mozarts stilistische Entwicklung darum keineswegs stehengeblieben. Vielmehr kündigt sich schon in den Quartetten vernehmlich jene grundlegende Wandlung an, die schließlich noch einmal seiner Kunst ein ganz verändertes Gepräge geben sollte.

Gleich das erste Thema des D-Dur-Quartetts:


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[589] ist typisch für diese Periode. »Singende« Allegrothemen hatte Mozart auch schon früher geschrieben, aber Gesänge von einer solchen schwellenden Schönheit nicht viele; vor allem führt hier das Pathos des vollen Herzens zu einer ganz eigentümlichen Dehnung und Erweiterung der metrischen Verhältnisse2, und ganz der Art des reifen Mozart entspricht auch die folgende kurze, auf dem Triolenmotiv sich aufbauende Partie, die den Themenschluß unerwartet ins Energische steigert, ein Zug, der, wie das Folgende zeigt, Mozart besonders wichtig war. Sie ist innerlich vorbereitet durch die Begleitung des Hauptthemas, die mit ihren pochenden Vierteln und murmelnden Achteln dem beschaulichen Gesang einen aktiven, allegrohaften Zug beimischt. Aus diesem Material wächst nun eigentlich der ganze Satz heraus, denn auch das zweite, vom Cello angestimmte Thema ist dem Hauptgedanken innerlich verwandt, wie sein im Dreiklang aufsteigender Beginn und sein dritter und fünfter Takt (vgl. T. 5–6 des Hauptthemas) lehren. Gewiß ist das nicht ein Zeichen verstandesmäßiger Klügelei, wohl aber der Stärke und Nachhaltigkeit des künstlerischen Erlebnisses. Und auch hier macht jenes Triolenmotiv den Beschluß, bis gegen Ende der Themengruppe das Hauptthema wiederum einen neuen Schößling hervortreibt. Ein eigentümliches Merkmal aller dieser späten Werke ist übrigens die überleitende Partie, die dem eigentlichen Schluß der Themengruppe folgt. Die Durchführung ist verhältnismäßig kurz, läßt aber in ihrem Verlauf doch ein wichtiges Merkmal des neuen Stiles erkennen, nämlich die Neigung, verschiedene Themen gegeneinander kontrapunktieren zu lassen. Auch das Andante ist knapp gehalten. Schon mit seinem A-Dur-Charakter steigert es das schönheitsdurstige Wesen des ersten Satzes, vor allem aber setzt es das von jenem begonnene Duettieren in erhöhtem Grade fort; die einzelnen Spieler scheinen sich die blühenden Ranken dieser Melodik beständig zuzuwerfen. Der Nachsatz des Hauptthemas:


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ist ein alter Lieblingsgedanke Mozarts, dem wir gleich wieder begegnen werden3. Im Menuett ist der Träger des Gesanglichen das Trio mit seiner[590] anmutigen Cellokantilene4. Für die Geschlossenheit des Ganzen besonders charakteristisch aber ist, daß der letzte Satz mit seinem Hauptthema:


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wieder auf Früheres zurückgreift und zwar nicht bloß auf den ersten, sondern auch auf den zweiten Satz (vgl. das obige Notenbeispiel). Aber mit jener wunschlos sich selbst genießenden Schönheit ist es nun zu Ende. Das neue Thema und ihm entsprechend der ganze Satz sind mit Energie förmlich geladen, und ihr Hauptträger ist eine freie Kontrapunktik, die von jetzt ab als Hauptmerkmal des letzten Mozartschen Stils hervortritt. Mozart ist also ähnlich wie Haydn durch die Zwischenstufe des strengen Kontrapunkts – das Finale der C-Dur-Sinfonie bildet hier den Höhepunkt – zu einer neuen Schreibart gelangt, die thematische und kontrapunktische Arbeit miteinander kombiniert, nur daß er den Kontrapunkt als solchen noch weit stärker betont als jener. Wendet er doch hier auch schon ein Mittel an, das von nun an immer häufiger bei ihm erscheint: die symmetrische Umkehrung seiner Themen, z.B. des Hauptgedankens:


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Auch in diesem Finale kommt gegen das Hauptthema kaum ein anderes auf. Es ist ein außerordentlich fest gefügter Rondosatz, der aber ganz anders als die früheren nicht auf Mannigfaltigkeit, sondern auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit ausgeht. In unerschöpflicher Fülle treibt der Hauptgedanke immer neue Schößlinge und diese immer neue Gegenmelodien hervor; es ist Ph. E. Bachscher Geist, aber von der ganzen Energie und Fülle Mozartscher Erfindungskraft durchdrungen.

Verwandten Geistes, wenn auch minder geschlossen, ist das B-Dur-Quartett. Der neue Stil macht sich gleich in der Durchführung des ersten Satzes in einem den Vorgänger noch erheblich überragenden Grade geltend. Wohl möglich, daß Mozart damit die Nebenabsicht verband, den Berlinern sein Können in besonders vorteilhaftem Lichte zu zeigen. Auch in diesem Quartett steigert sich die Energie gegen den Schluß. Schon das Trio des Menuetts, das fast den doppelten Umfang des Hauptsatzes hat, entfaltet ein höchst originelles Leben, das schließlich in einem großen Orgelpunkt noch eine ungeahnte Steigerung erfährt; mit gutem Humor kehrt Mozart am Ende nach diesem Ausflug ins Pathetische in den Menuetton[591] zurück. Der strengste Satz ist wiederum das Schlußrondo, bei dem schon im ersten Takt die Bratsche kontrapunktische Neigungen zeigt. Auch hier durchdringt der Kontrapunkt den ganzen Stil, führt die einzelnen Gedanken gegeneinander, kehrt sie symmetrisch um, bringt aber dazwischen immer wieder thematisch-homophone Abschnitte, wie z.B. nach Bachschem Muster das Hauptthema in dem plötzlich eintretenden entfernten Des-Dur.

Der erste Satz des F-Dur-Quartetts hat mit dem in B-Dur die thematische Einheit gemein, die z.B. auch das Seitenthema aus dem Hauptgedanken hervortreibt. Es ist das kapriziöseste der drei und hält an diesem Tone auch bis zum Ende zähe fest. Merkwürdig ist die auffallend gleichmäßige Behandlung der Durchführung in den drei Quartetten: zuerst ein leichtes Spiel mit der vorhergehenden Schlußphrase, das in unserem Falle eine launige Zwiesprache zwischen dem barschen Zweiviertel- und dem sentimentalen chromatischen Achtelmotiv darstellt, dann eine streng kontrapunktisch gehaltene Durchführung einzelner Hauptgedanken mit Abschluß auf der Dominante und schließlich ein einfacher kurzer Rückgang in die Reprise, ohne die in der vorhergehenden Reihe üblichen modulatorischen Feinheiten5. Unser Quartett bringt dagegen zwei neue, von jetzt ab gleichfalls wichtige Züge herein: eine starke Veränderung der Reprise und eine auf den Beginn der Durchführung zurückgreifende Coda. Nicht minder einheitlich ist das Andante gebaut, das den launigen Ton in beschaulicher und sozusagen manierlicherer Form fortsetzt. Sein Thema hat etwas von französischem Geiste. Auch hier spielt die Imitation eine große Rolle, dazwischen treibt allerhand bizarres Rankenwerk empor. Im Menuett bedient sich der kapriziöse Geist besonders realistischer Mittel. Es geht von einem jener von den »Teutschen« her bekannten Lockmotive mit Vorschlag aus6, das im Mittelteil mit einer die ganze chromatische Skala auf und ab steigenden Mittelstimme kombiniert wird und im dritten schließlich in groteskem Brummen im Baß auftaucht. Auch hier bringt das Finale, diesmal in Sonatenform, den Stimmungsgehalt des Ganzen zur vollsten Entfaltung. Das Thema gemahnt in seiner munter sprudelnden Laune an Haydn, und auch die Art, wie es gleich nach seiner Einführung schon in der Themengruppe durchgeführt wird, ist Haydnschen Geistes. Aber schon mit der d-Moll-Episode – ein eigentliches Seitenthema kennt auch dieser Satz nicht – wird der Charakter unverkennbar mozartisch. Köstlich ist der Eintritt des c-Moll mit dem gefühlvollen chromatischen Kontrapunkt und dem Mordent. Das polyphone Gewebe wird immer enger, auch die symetrische[592] Umkehrung erscheint wieder, und erst in der Schlußpartie mit ihren derben Dudelsackbässen wird der Anschluß an Haydn wieder fühlbar. Sie beherrscht auch die Durchführung, während die Reprise die üblichen Veränderungen erfährt.

Ein ganz anderes Gepräge trägt das für Stadler geschriebene Klarinettenquintett (K.-V. 581). Das hat man schon getadelt, indem man das Werk mit den Streichquintetten verglich7, sicher nicht mit Recht. Mozart selbst wußte genau, daß diese Besetzung einen ganz anderen Stil erforderte. Handelt es sich dabei doch nicht um eine Kombination gleichartiger Instrumente, um eine »Unterhaltung von fünf gleichberechtigten geistreichen Personen«8; vielmehr ist die Klarinette ein fremder Gast in diesem Kreis, der seine eigene Gefühlswelt hat und damit seine eigene Art, sie auszudrücken. Vor allem aber tritt etwas hinzu, auf das das reine Saitenquartett, je mehr es sich vergeistigte, desto weniger Wert legte: die Rücksicht auf den äußeren Klang. Das alles erforderte eine ganz neue Art sowohl der Thematik als namentlich der Arbeit. Die Klarinette bleibt sozusagen stets die Führerin des Reigens, die übrigen Stimmen sind zwar durchaus nicht zu starrer Begleitung verdammt, erkennen aber doch jene Führerschaft stets an. Und da diese in ein Gebiet führt, wo alles in reifer, süßer Sinnlichkeit schwebt9, so ist das Ganze zu einem Triumph der Kantabilität und zum strahlenden Mittelpunkt dieser in Schönheit schwelgenden Reihe von Werken geworden. Noch ehe sich im ersten Satze die Klarinette überhaupt vernehmen läßt, umfängt uns mit dem herrlichen, echten A-Dur-Thema die Stimmung eines wolkenlosen Frühlingsmorgens. Schon mit diesem schwellenden Gesang kommen die Streicher der Natur ihrer Genossin gewissermaßen entgegen, und wie beglückt darüber schwingt sich diese gleich darauf in einer zweimaligen Dreiklangsfigur auf und nieder. Die Übergangsgruppe atmet dasselbe überschwängliche Behagen, das alle diese Themen ausströmen. Das Seitenthema10, gleichfalls von den Streichern gebracht, ist wiederum auf die Klarinette berechnet, und diesmal nimmt diese selbst den schönen Gedanken in der Molltonart der Dominante auf, seinen Ausdruck ins Sehnsüchtige steigernd. Die Durchführung baut sich nach dem gewohnten überraschenden harmonischen Übergang mit dem Hauptthema ganz auf jener ersten Klarinettenfigur auf, die jetzt unaufhörlich in den Saiteninstrumenten der Reihe nach in die Tiefe steigt. Gewiß ist das keine »Arbeit« im Sinne der Streichquintette, sondern das alte modulatorische Gleiten, wozu in diesem Falle noch die Klangwirkung mit der auf- und niedersteigenden Klarinette kommt. Aber auf jene Arbeit kommt es diesem Stücke überhaupt nicht an, schon die Themen sind gar nicht daraufhin erfunden. Das berühmte Larghetto, ein wahres Kleinod an Schönheit und Wohllaut, steigert den edlen[593] Gesang der Klarinette, deren tiefe Töne hier mit besonderer Wirkung verwandt werden, im zweiten Teil zu einem Zwiegesang zwischen ihr und der ersten Geige; die übrigen Teilnehmer begleiten in sanft wiegenden Akkordfiguren. Das Menuett vereinigt in seinem Hauptteil alle fünf Spieler, von den beiden Trios dagegen gehört das erste, das zum ersten Male dunklere Töne anschlägt, den Streichern allein, die bei der Wiederholung das Thema als Kanon zwischen erster Geige und Bratsche bringen, das zweite aber zunächst der Klarinette, die sich dabei als volkstümliches Instrument gibt; allerdings beginnt gleich mit der wiegenden Erweiterung des Themanachsatzes eine höchst geniale Stilisierung des Volkstones, die sich dann auch in dem geheimnisvollen Rückgang in die Wiederholung und in deren Variierung offenbart. Zum Beschluß erscheinen Variationen über ein einfaches, kinderliedartiges Thema, wie sie Haydn liebte, und hier entfaltet die Klarinette nochmals ihre ganze üppige Klangpracht. Sie ruft damit aber auch die erste Geige auf den Plan, dazwischen meldet sich in der Mollvariation die Viola mit einem recht mürrischen Humor, und auch eine Adagiovariation fehlt nicht. Ein lustiger Kehraus im Allegro, der es mit dem Anschluß ans Thema nicht mehr so genau nimmt, beschließt den Satz.

Das erste der beiden Streichquintette in D-Dur (K.-V. 593) ist wieder echte Kammermusik für Saiteninstrumente. Es ist das einzige seinesgleichen, das dem ersten Allegro eine langsame Einleitung vorausschickt und diese obendrein, ein bei Mozart ganz ungewöhnlicher Fall, ganz am Schluß wiederholt; eine kurze Coda mit dem Allegrothema führt den Satz dann zu Ende. Dieses Larghetto trägt ganz die versonnenen, wehmütigen Züge des letzten Mozart; müde und resigniert senkt sich die melodische Linie schließlich chromatisch zur Dominante herab. Auch das Allegro selbst läßt im Großen und Kleinen den Stilunterschied gegenüber den früheren Quintetten deutlich erkennen. Das streitbare Hauptthema wendet sich gleich im zweiten Takt – ein in dieser Zeit nicht seltener Zug – energisch nach der Molltonart der Unterdominante, läßt dann in mächtiger Spannung mit der unerwarteten Triolenpartie diese selbst folgen und gelangt von hier aus mit gewaltsamen Schlägen über die Dominante zur Tonika zurück; die folgenden, melodisch neuen vier Takte dienen der weiteren Bekräftigung dieses Dominantschlusses. Man vergleiche mit diesem Gebilde nur einmal die weitausladenden Themen der beiden früheren Quintette, und man wird den Unterschied sofort erkennen. Aber auch die Fortsetzung ist neu: da erhält gleich jener Schlußgedanke eine Durchführung, die sich ganz unversehens zu strenger Kontrapunktik steigert. Das Seitenthema wird, wie häufig in dieser Zeit, aus dem Hauptthema gewonnen, und zwar wiederum durch Kanonik. Die Durchführung leitet ein launiges Spiel mit einem dem Thema entstammenden, rhythmischen Motiv ein, das beständig zwischen p und f schwankt, eine Partie, wie wir sie später bei Beethoven öfters finden, dann geht der Weg mit jenem Triolenmotiv in gewohnter Weise den Quintenzirkel entlang, jetzt aber nicht mehr wie vorher nach einer entfernteren Tonart, aus der[594] dann ebenso kurz wie kühn zurückmoduliert werden müßte, sondern geradewegs auf die Dominante los, von der sich der Rückgang zur Reprise von selbst ergibt. Diese wird erheblich variiert, vor allem durch das Verschwinden der Triolenpartie, den unerwarteten Eintritt des Themas in Moll und die mannigfache Vertauschung der Stimmen. Jene Molltrübung wirkt noch bis in den Schluß hinein nach und bereitet den Wiedereintritt des Larghettos vor, dessen Ausdruck nun gleichfalls durch beständiges Schwanken zwischen Dur und Moll ins Schmerzliche gesteigert wird. Nur krampfhaft ringt sich das Allegro mit der jetzt wiederkehrenden Triolenpartie aus diesem dumpfen Banne los. Das Adagio, das wie das Andante der C-Dur-Sinfonie dem Hauptthema einen düster-leidenschaftlichen Seitengedanken (in d-Moll!) gegenüberstellt11, ist durch eine hochbedeutende Durchführung ausgezeichnet, die das Hauptthema in B-Dur bringt und dann mit dem dritten und vierten Thementakt zuerst gruppenweise konzertierend, dann mit sukzessivem Einsatz sämtlicher Stimmen, allmählich in den Anfang zurückführt. Das charaktervolle, kräftige Menuett bringt nach diesem wesentlich homophonen und auf Klangwirkungen aufgebauten Satz den strengen Stil in kanonischer Form wieder zur Geltung und bereitet somit den letzten Satz vor, in dem dieses kontrapunktische Spiel seinen Höhepunkt erreicht. Sein von dem kapriziösen Auftakt eingeleitetes Hauptthema trägt das männliche, fast eigensinnige Gepräge, das allen raschen Themen dieses Werkes zu eigen ist. Es wird dadurch erzielt – und damit stehen wir vor einem weiteren Kennzeichen des neuen Stils –, daß Mozart mehr und mehr auf die früher üblichen, weiblichen Vorhaltsklauseln in der Melodiebildung verzichtet, ebenso wie auf die Spaltung der guten Taktteile nach der sog. lombardischen Manier12. Gewiß kommt dergleichen auch jetzt noch vor, aber lange nicht mehr so häufig, und bei den Vorhaltsklauseln z.B. wächst sichtlich die Neigung, sie auszuharmonisieren. Unsere Allegrothemen sind besonders lehrreiche Belege für diese Stilwandlung: überall geht Mozart gerade auf sein Ziel los, ohne jede Brechung melodischer, harmonischer und rhythmischer Art, und sein ganzer Stil erhält dadurch etwas entschieden Männliches, bei dem man nicht selten an Beethoven erinnert wird. Dem zweiten Thema unseres Satzes merkt man sofort an, daß es auf kontrapunktische Verwendbarkeit hin erfunden ist13; wird es doch auch alsbald regelrecht durchgeführt. Die Durchführung des Ganzen beginnt nach dem bekannten, kurz angebundenen Übergang mit der Umkehrung jenes Auftaktmotivs, einem Zug, den Mozart wohl bei den Giguen S. Bachs kennengelernt hatte, und auch hier entwickelt sich aus einer konzertierenden Partie ein strenges Fugato, das schließlich mit einem großen Dominantorgelpunkt, aber nicht ohne das echt Mozartsche, abschließende Solo der ersten Geige, in die Reprise zurückführt. Diese benützt Mozart[595] dazu, das Seitenthema bei sei nem Eintritt mit dem Hauptthema kontrapunktieren zu lassen. Auch die Fortsetzung wird erheblich verändert, vor allem dadurch, daß die Harmoniefolge


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nach Kräften ausgekostet wird. Das kommt schon während der letzten fünf Jahre häufig vor14; neu ist aber der weit kompliziertere Satz.

Das Es-Dur-Quintett (K.-V. 614) ist in seinem Grundton weit heiterer und liebenswürdiger. Es legt deshalb bei aller Gediegenheit des Stils größeres Gewicht auf die äußere Klangwirkung, namentlich im freien Konzertieren einzelner Gruppen. Wiederum wächst der ganze erste Satz aus dem einfachen Hauptgedanken:


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heraus. Dieses zwitschernde Motiv, das auch ins Seitenthema hineinschlüpft, flattert fröhlich in den geistvollsten Kombinationen durch den ganzen Satz dahin bis in die Coda hinein, wo es sogar noch jenes Lockmotiv mit dem kurzen Vorschlag zuerst in der ersten Geige und dann im Baß auf den Plan ruft. Das Andante gehört einem bekannten, auf französische Muster zurückgehenden Typus an15. Es trägt Rondoform, und Mozart hat das behaglich dahinschlendernde Thema bei jeder Wiederkehr mit neuen Variationen ausgestattet, aus denen es wie Vogelrufe und andere Naturlaute zu klingen scheint. Das Menuett stellt einem sinnigen, fein gearbeiteten Hauptsatz ein Trio in derselben Tonart gegenüber, dessen unverfälschte Volksmelodie wie mit magischer Gewalt zuerst die erste Bratsche und dann die zweite Geige anlockt, so daß sie zuletzt in dreifacher Verstärkung erscheint. Der letzte Satz, eine Kreuzung von Sonaten- und Rondoform und thematisch außerordentlich einheitlich, übersetzt den Haydnschen Humor wieder einmal ins Mozartsche. Auch hier schleicht sich ganz unversehens der strenge Satz, zunächst in leicht kanonischer Form, ein; nach der zweiten Wiederkehr des Themas fährt in dessen Vordersatz plötzlich der Nachsatz als Kontrapunkt dazwischen, und es entspinnt sich ein regelrechtes Fugato; auch die Rückkehr aus diesem Wirrwarr ist von höchstem Reiz. Denn hier stimmt die zweite Geige das Thema plötzlich in Moll an, was vor der eigentlichen Reprise noch Anlaß zu einem erheblichen Ausbiegen aus der Grundtonart gibt. Von gutem Humor ist endlich auch der Schluß des Satzes, wo das Hauptthema viermal, mit immer andern Kontrapunkten, das letztemal sogar umgekehrt, auftaucht.[596]

Von den Stücken »für ein Orgelwerk in einer Uhr« ist das Andante in F-Dur (K.-V. 616) ein Stück, das thematisch in bekannten Bahnen wandelt, in der Arbeit aber doch die Merkmale des damaligen Stils aufweist. Bedeutender sind die beiden f-Moll-Stücke, von denen das erste (K.-V. 594) nur in einer vierhändigen Bearbeitung für Klavier erhalten ist. Es läßt einem Adagio, dessen harmonische Herbheiten deutlich auf diesen letzten Stil hinweisen, ein Allegro in F-Dur folgen, einen kurzen, sehr einheitlichen und im Satze strengen Sonatensatz, dann kehrt das Adagio wieder, das jetzt erst in meisterhafter Veränderung seinen vollen Ausdruck gewinnt und das Ganze beruhigend abschließt. Das zweite, auf vier Systemen notierte Stück beginnt mit einem Allegro, das auf eine energische Einleitung eine von einer Meisterhand gearbeitete Fuge folgen läßt. Sie gelangt bis zur Engführung ihres Themas in der Umkehrung, dann führt eine äußerst kühne und erregende Modulation die Einleitung in fis-Moll zurück, und nachdem sich die Stimmung beruhigt hat, beginnt der Mittelsatz, ein Andante in As-Dur. Er trägt ganz die wehmütigen Züge des letzten Mozart und zeichnet sich besonders durch ausdrucksvolle Figurierung aus. Denn kehrt das Allegro wieder, wobei die Fuge durch ein neues Gegenthema zu lebhafter Erregung gesteigert wird; die Leidenschaft zittert dabei bis in die bewegten Schlußtakte hinein. Seinem ganzen Tiefsinn nach verdiente dieses Stück eine weit größere Verbreitung, als sie ihm bis jetzt zuteilgeworden ist.

Dagegen ist das Adagio und Rondo für Harmonika, Flöte, Oboe, Viola und Violoncell (K.-V. 617) ganz auf die eigentümliche Klangwirkung berechnet, die freilich nur dann voll erreicht wird, wenn die Harmonika nicht durch das Klavier ersetzt wird. Sie hat keine Baßtöne und ist überhaupt ein richtiges »empfindsames« Instrument, das gefühlvollen, getragenen Gesang verlangt. Dem trägt auch die verschleierte Mondscheinschwärmerei des Adagios in glücklicher Weise Rechnung. Sie mündet in die gehaltene, anmutige Heiterkeit des Rondos aus, das bei aller Durchsichtigkeit im Bau doch in seinem Streben nach Einheit und dem weiten Tonartenkreis, den es durchmißt, die Zeit seiner Entstehung nicht verleugnet16. Die bewegliche Art der Wechselchörigkeit zwischen dem Akkordinstrument und den übrigen Instrumenten ist dieselbe wie in den Klavierquartetten und -trios.

Auch dem Klavier ist jener letzte Stil in Mozarts letzter Klaviersonate (K.-V. 576) noch zugute gekommen. Die Neigung zum strengen Satz hat sie mit ihren Vorgängern17 gemein, übertrifft sie aber noch an thematischer Geschlossenheit18; ein Überbleibsel der älteren Art ist nur noch das schöne Schlußthema des ersten Satzes, das bei der merklich veränderten Reprise auch wirklich die Stelle des Seitenthemas vertritt. Nur der Mittelsatz ist, bei gesteigertem Ausdruck, nach alter Weise auf Kantabilität und geschmackvolles Verzierungswesen berechnet. Dagegen kommt der letzte,[597] ein freies Rondo, wieder auf die kontrapunktischen Neigungen des ersten zurück; es ist erstaunlich, was diesem an und für sich gar nicht auf kontrapunktische Behandlung hin erfundenen Thema an Kombinationen abgewonnen wird.

Auch die acht Variationen über »Ein Weib ist das herrlichste Ding« (K.-V. 613) gehören zu Mozarts besten Beiträgen zu dieser Gattung, obgleich sie, wie die meisten ihrer Art, rein melodischer Art sind. Merkwürdig ist, daß er sich lange nicht entschließen kann, den ersten Abschnitt des Themas zu variieren; er schiebt ihn vor der Mollvariation sogar, ganz leicht verziert, selbständig ein. Besonders bemerkenswert ist die letzte Variation (mit Taktwechsel), zunächst wegen des echt Mozartschen, plötzlichen Ausweichens nach Des-Dur, das die folgende Kadenz vorbereitet. Diese selbst leitet nun zum Schluß in ein freies Spiel mit dem Thema über, worin dessen einzelne Phrasen gegeneinander kontrapunktieren und schließlich mit der Kadenzformel ein launiges Spiel getrieben wird.

Den Höhepunkt in dieser Reihe für Klavier bildet das B-Dur-Konzert (K.-V. 595), das letzte seiner Gattung. Es entspricht zwar in Form und Aufbau im allgemeinen durchweg seinen Vorgängern, weicht aber in seiner ganzen Haltung merklich von ihnen ab. Man hat weit mehr den Eindruck, als hätte es Mozart für sich selbst als für das große Publikum geschrieben, denn der alte lebensfrohe Glanz weicht hier einem weit persönlicheren und dabei merkwürdig resignierten Ton, der es auch z.B. von der Leidenschaftlichkeit der beiden früheren Mollkonzerte scharf unterscheidet. Mit seiner kontrapunktischen Kunst hält Mozart bei dieser Gattung mehr zurück als sonst, obgleich z.B. die Durchführung des ersten Satzes auch nach dieser Richtung hin ihre Entstehungszeit nicht verleugnet. Um so deutlicher tritt das Streben nach Einheitlichkeit und Verinnerlichung der ganzen Tonsprache zutage. Obwohl auch dieses Werk eine glänzende Technik erfordert, so tritt sie doch mehr als früher in den Dienst der musikalischen Gedankenentwicklung, und auch der Begriff des Konzertierens ist schärfer gefaßt. Gerade jene Durchführung begnügt sich nicht mehr damit, den Solisten, begleitet von einfachen Akkorden des Orchesters mit leichten thematischen Andeutungen, seine volle Kunst entfalten zu lassen, sondern läßt beide Parteien in einer schon anBeethoven gemahnenden Weise dialogisieren.

Gleich der Beginn führt aus dem üblichen Gesellschaftston hinaus: dem versonnen auf den Tönen des B-Dur-Dreiklangs sich wiegenden Thema antwortet ganz unerwartet ein scharfer Kampfruf in den Bläsern, und dieses Sichaufraffen und Zurücksinken19 auf engem Raume ist charakteristisch für den ganzen ersten Satz. Die Waagschale neigt sich dabei freilich immer mehr zugunsten der Resignation. Bezeichnend sind dafür verschiedene ganz unvermittelt eintretende, müde Mollpartien, wie z.B. gleich gegen Schluß[598] des Tuttis, und das vom Solisten nach dem Hauptthema eingeschobene Mollsätzchen. Am schärfsten spitzt sich jener Konflikt in der Durchführung zu, einem auch harmonisch höchst ausdrucksvollen Gebilde, worin jener Kampfruf allmählich verhallt und der Hauptgedanke in immer engerer imitatorischer Verschlingung schließlich mit einer aus den Sinfonien bekannten, überraschenden Modulation zur Reprise zurückführt. Ein schöner Zug ist es, wie jener Mollgedanke des Tuttis vom Solisten hier erst ganz gegen den Schluß nachgeholt wird. Das Larghetto greift auf den träumerischen Romanzenton früherer Konzerte zurück, hat aber gleichfalls eine dunklere, wehmütigere Färbung. Von eigentümlicher Wirkung ist es, wenn die Melodie des Themas bei seiner Wiederkehr im Solo schließlich von Flöten und ersten Geigen mitgespielt wird. Auch das Finalrondo weicht schon insofern vom früheren Brauche ab, als es sein Thema nicht immer in der Haupttonart bringt, sondern es gelegentlich – eine geistreiche Modifikation der früheren Mollepisoden – mitten drin nach Moll hinüberspielt und vor allem in den Übergangsgruppen seine einzelnen Bestandteile thematisch verarbeitet. Dieses Thema ist ein unverkennbarer Verwandter der acht Tage darauf komponierten »Sehnsucht nach dem Frühling«, und so schließt mit diesem Stimmungsgebiet das Finale das ganze Konzert harmonisch ab.

Mozarts letzte Konzertkomposition war das Klarinettenkonzert (K.-V. 622) für Stadler20. Der erste Satz ist uns bereits aus früherer Zeit in einem in G-Dur stehenden Partiturentwurf von zwölf Blättern für Bassetthorn erhalten, das mit der Klarinettenstimme bis auf wenige Änderungen in den tiefen Tönen genau übereinstimmt. Daß dieses Konzert damals auch vollendet worden wäre, ist kaum wahrscheinlich. Die uns fertig vorliegende Komposition ist jedenfalls bis ins kleinste hinein auf den Charakter der Klarinette berechnet. Die Klangfarbengegensätze der verschiedenen Register sind aufs wirksamste benützt, namentlich die tiefen Töne, in der Kantilene wie in den Begleitungsfiguren, deren charakteristische Wirkungen Mozart überhaupt zuerst entdeckt hat. Es gibt kein Ausdrucksgebiet der Klarinette, das sein Klangsinn nicht in vollendeter Weise ausgebeutet hätte, den zarten, schwellenden Gesang wie die schmiegsame Beweglichkeit. Man glaubt ihm förmlich die innere Wärme anzumerken, mit der er sich dem Klangzauber seines Instrumentes hingibt. Es dominiert denn auch wie in keinem zweiten Konzert und hat die breite Anlage und die ganze Art der Konzeption ins Leben gerufen. Die Verwandtschaft mit dem Klarinettenquintett liegt nicht bloß in der gemeinsamen Tonart, sondern geht, wie namentlich im Mittelsatz, bis in Einzelheiten der Tonsprache hinein. Dabei verleugnet sich Mozarts damaliger Stil keineswegs, namentlich in der Harmonik und in einzelnen imitatorischen Partien, wenngleich das Orchester in diesem wesentlich[599] dem Solisten gehörenden Konzert sich mehr auf die Rolle des Begleiters beschränkt.

Von den drei deutschen Liedern (K.-V. 596–598), die als Kinderlieder strophisch und auch sonst sehr anspruchslos gehalten sind, ist das erste, »Komm lieber Mai«, weitaus das gelungenste und hat sich bis heute im Kindermund erhalten. Alte Erinnerungen scheinen in Mozart bei der Komposition erwacht zu sein, denn in der ersten Periode des Liedes klingt vernehmlich eine Volksweise (»Ich bin ein Schwabenmädchen«) nach, die Mozart ganz leicht, aber mit um so schönerer Wirkung stilisiert hat21; der zweite Teil mit seinem unverkennbar Mozartschen Beginn ist ganz sein Eigentum. Wie hoch steht doch dieser echte Herzenston über, der gemachten Kindlichkeit desOverbeckschen Textes! Dagegen ist Mozart an Sturms »Im Frühlingsanfange« gescheitert, indem er den Ton des kindlichen Liedes auch auf diese religiöse Poesie hohen Stiles übertrug.

Seine letzte Einzelarie für eine Baßstimme mit obligatem Kontrabaß (K.-V. 612) ist bei aller Gefälligkeit ihres Charakters doch mehr als ein Kuriosum zu betrachten, auf das den Komponisten wohl der findige Schikaneder gebracht hat. Der für damalige Verhältnisse doch recht virtuos behandelte Kontrabaß erweckt im Verein mit der mehr getragenen Führung der Baßstimme trotz dem ernsten Text einen leicht humoristischen Eindruck.

Das berühmte »Ave verum« (K.-V. 618) unterscheidet sich sehr wesentlich von Mozarts bisherigen kirchlichen Werken. Sein einfacher Liedcharakter erklärt sich wohl aus seiner wahrscheinlichen Bestimmung für den Badener Kirchenchor und für das Fronleichnamsfest22; seine ganze edle, wehmütige Haltung aber weist es in die Reihe der italienisierenden Motetten, die neben der opernhaften Richtung immer wieder auf die alte, echt kirchliche Tradition zurückgriffen: von Jommelli z.B. haben wir ähnliche Sätze23. Aber der Mozartsche hebt sich doch durch die vollendete Wiedergabe der Gesamtstimmung wie der einzelnen Gedanken aus dieser Reihe heraus und ist ein sprechender Beweis für sein tiefes religiöses Empfinden. Niemals, bis auf die Erweiterung am Schlusse, tritt die Komposition aus der volkstümlichen Symmetrie mit ihrer viertaktigen Gliederung heraus, und doch schmiegt sie sich vollendet dem Gedankengange des Textes an, wie sie namentlich um einer sinngemäßen Deklamation willen auch den Reim unbedenklich beiseitesetzt. Mit einem ergreifenden Gemisch von Rührung und stiller Wehmut – sotto voce ist die einzige Vortragsbezeichnung des Satzes – wird zunächst der Leib des Herrn angeredet, dann aber schwillt die Erregung bei den sich beständig steigernden Begriffen »passum«, »immolatum«24 und »in crucem« mehr und mehr an; man verfolge hier nur einmal die Melodielinie und den Gang der Harmonik! Kurz und ausdrucksvoll läßt das einzige Zwischenspiel des Satzes diese Stimmung abklingen. Der zweite[600] Teil schließt sich steigernd an. Das Bild des von der Lanze durchbohrten Gekreuzigten entpreßt dem Chore jenen verhaltenen Schmerz, der in der Modulation nach F-Dur einen so rührenden Ausdruck findet; dann senkt sich die melodische Linie wieder, sequenzartig an das Vorhergehende anknüpfend, in tief resigniertem d-Moll herab. Aber jetzt erfolgt mit dem Wiedereintritt des D-Dur ein neuer Aufschwung, der sich allein schon in dem die bisherige Homophonie durchbrechenden imitatorischen Einsatz der beiden Chorhälften kundgibt. So ringt sich die Bitte um Entsühnung durch Christi Blut in der eigenen Todesstunde aus den Herzen los, zuerst gefaßt, dann aber, bei dem erneuten Gedanken an den Tod, als inbrünstiger Aufschrei, der durch den Trugschluß auf dem Sextakkord der Unterdominantharmonie spannend vorbereitet wird25 und mit dem emphatischen Quintensprung des Soprans bald den höchsten Punkt der melodischen Linie überhaupt erreicht. Das hier so außerordentlich sprechende Melisma und der chromatische Gang des Basses mit den darüber aufgebauten kühnen Harmonien vervollständigen das Bild der Angst, das übrigens mit dem Worte »mortis« selbst entschwindet. So scheint dieses Gebet mit seiner zarten Wehmut aus den Worten des Textes von selbst hervorzuwachsen, als die höchste Verklärung der dem jungen Mozart dereinst von Padre Martini gepredigten Grundsätze26. Der Satz ist durchaus homophon; während der Sopran am Anfang dominiert, kommt im weiteren Verlaufe zusehens mehr Leben in die übrigen Stimmen. Dafür ist sehr bezeichnend, daß die weiblichen Vorhaltsklauseln nach der Art des späteren Mozart sämtlich ausharmonisiert werden. Der Gesang wird von Orgel und Orchester begleitet, das Vor- und die Zwischenspiele sowie das Nachspiel vom Orchester und Orgelbaß allein ausgeführt. Sehr schön steigen am Anfang die Instrumente allmählich zu dem a' auf, mit dem der Gesang beginnt, und nicht minder genial ist die sanft wiegende Bewegung, mit der sie ihn umspielen, dem Gang der Singstimmen sich bald nähernd, bald sich von ihm entfernend. Öfter heben sie einzelne Gedanken besonders hervor, wie z.B. »de Maria virgine« mit der höheren Oktave und dem Aussetzen der Bewegung, ferner »in crucem« durch die verschärfende Synkope, und endlich »in mortis«, der gesteigerten Parallelstelle dazu mit dem ausdrucksvollen Unisono der zweiten Geigen und Bratschen.

Fußnoten

1 S.o.S. 138 ff.


2 Man macht sie sich am besten klar, wenn man die »regelmäßige« Grundform:


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daneben hält, auf die Mozart später in der Schlußgruppe selbst anspielt.


3 S.o.S. 276, 420.


4 Ihr geht ein »Auftakt« von zwei Takten voraus, ähnlich wie im Trio des Menuetts in op. 1, Nr. 3 von Beethoven.


5 Auch der zu Beginn der Durchführung sonst übliche modulatorische Ruck findet sich nur K.-V. 575.


6 Der eigentliche Kern dieses merkwürdigen Gebildes erscheint erst im dritten Takt, alles Vorhergehende fällt unter den Begriff des Auftaktes, das Lockmotiv sowohl als die ihm vorangehende musikalische Gebärde. Von gutem musikalischem Humor ist die Art, wie jener primitive Schleifer im eigentlichen Hauptgedanken mit einem Male melodische Bedeutung gewinnt. Auch das Hauptthema des Trios kommt durch einen verlängerten Auftakt auf fünf Takte.


7 J II4 35.


8 S.o.S. 139.


9 Ambros, Grenzen der Musik und Poesie, S. 57.


10 Metrisch weist es denselben echt Mozartschen Bau auf: dem viertaktigen Vordersatz antwortet ein dreitaktiger Nachsatz. Es findet sich im Terzett (19) der »Zauberflöte« wieder (»Der Götter Wille mag geschehen«).


11 An seinem Schluß taucht eine ausdrucksvolle Gesangsphrase aus dem ersten Andante der Haffnerserenade (K.-V. 250) wieder auf.


12 S.o.S. 192.


13 Der Anfang gemahnt an das Seitenthema im Finale der C-Dur-Sinfonie, s.o.S. 498.


14 S.o.S. 317.


15 Charakteristisch ist die scharfe Rhythmik und der breit ausladende Beginn mit den beiden Vierteln, vgl. dazu z.B. den entsprechenden Satz der Kleinen Nachtmusik (K.-V. 525).


16 Sein Thema ist im Charakter dem Rondo des E-Dur-Klaviertrios verwandt.


17 S.o.S. 506.


18 Modern ist auch die ganze harmonische Disposition, von der Wiederholung des Hauptthemas auf der zweiten Stufe im Nachsatz an.


19 Charakteristisch sind dafür verschiedene Anklänge an die g-Moll-Sinfonie.


20 Es muß nach B II 351 kurz nach dem 7. Oktober 1791 vollendet worden sein. Das Autograph ist unbekannt. Vgl. I 846 f.


21 Friedländer, Deutsches Lied, II 380 f.


22 Kretzschmar, Führer II 14, 512.


23 H. Leichtentritt, Gesch. der Motette, 1908, S. 205.


24 Die Melodik erinnert hier an die Kavatine der Gräfin im »Figaro«.


25 Er findet sich ähnlich im Priestermarsch der »Zauberflöte«.


26 I 250 f, 256 f. Verwandt ist das Graduale »Sancta Maria«, I 415 f.


Quelle:
Abert, Hermann: W. A. Mozart. Leipzig 31955/1956, S. 601.
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