XIII.

Palermo: Vollendung des ›Parsifal‹.

[536] Palermo: Hotel des Palmes. – Arbeit an der Partitur. – Freude an der Umgebung. – Gesellschaftliche Beziehungen: Graf Tasca und Fürst Gangi. – ›Tristan‹ in Berlin, Königsberg, Leipzig. – Weihnachtsbesuch Joukowskys. – Karl Brandts plötzlicher Tod. – Vollendung der Partitur. – ›Lohengrin‹-Verbot in Paris. – Abreise Joukowskys. – Ankunft Danielas von Bülow.


Wir sind hier, um keinen Winter zu haben: hier ist nämlich nur Sommer und Frühjahr. Selbst das mildeste Klima hat mir bewährt, daß mein Leiden einzig von der nervösen Aufregung kommt, welcher ich bis zum Antritt meines siebzigsten Lebensjahres beständig ausgesetzt gewesen bin.

Richard Wagner.


Über München, Bozen, Verona, Pesaro, Ancona usw. ging es in einem Zuge unaufhaltsam bis nach Neapel, wo er am 3. November um eilf Uhr abends bei schönstem Mondschein eintraf, im Hotel Bristol Nachtquartier nahm und am anderen Morgen die königliche Stadt im vollen Sonnenlicht vor sich ausgebreitet sah. Dr. Schrön stellte sich zur Begrüßung der Reisenden ein, dann ging es in zwei Wagen zur Villa Angri, um die stolz thronende wiederzusehen und durch ihren Anblick tausend Erinnerungen jeder Art in sich wecken zu lassen.

Noch am gleichen Tage (4. November) wurde gegen Abend das Schiff bestiegen, das damals viermal wöchentlich seine Fahrt nach dem gesegneten Sizilien machte; flügelschnell durchschnitt es mit seiner bunten Insassenschaft an Passagieren, Pferden, Ochsen, Hühnern, Zuchthäuslern, Militär usw. die Fluten, die Wellen spielten schäumend um seine Brust, ringsum blitzte das Meer im Sonnenschein, und der Meister erfreute sich der lebhaften Unterhaltung, die Siegfried in fließendem Italienisch mit einem der Soldaten führte. Noch eine Nacht auf dem Wasser, und am nächsten Vormittag, Sonnabend 5. November, breitete sich die am Fuß des Monte Pellegrino in einem Halbkreis von Hügeln und Bergen, welche die fruchtbare Ebene umschließen, amphitheatralisch gelagerte Stadt vor seinen Blicken aus, die ihn fast für ein [536] volles Halbjahr beherbergen sollte. Das stattliche Hotel des Palmes des Herrn Enrico Ragusa, mit seiner tropischen Vegetation von himmelanstrebenden schlanken Palmen, denen es seinen Namen verdankte, üppigen Kaktus- und Aloe-Anpflanzungen nahm ihn mit den Seinen in seiner ersten Front-Etage gastlich auf; eine Treibhausterrasse (Glashaus), auf den Garten hinausführend, grenzte an die traulichen Wohnräume und verhieß selbst an unfreundlicheren Tagen angenehme Stunden. Die prächtige Stadt mit ihren breiten, langen Straßen und schönen Palästen schien zwar im Beginn – nach Neapel! – nicht gar viel sagen zu wollen; doch übte das ihr eigene Idyllische dafür bald seine fesselnde Wirkung aus. An seinem unmittelbaren Wohnsitz begann er zunächst damit, den mittleren der drei von ihm mit seiner Gattin bewohnten Räume, den ›Salon‹, sich für die Arbeit herzurichten und freute sich des Arrangements und der mitgenommenen Decken und Kissen, – die Kinder wohnten in den Parterrezimmern ihm gegenüber. Es gab (in den Wintermonaten) auch in Palermo stürmische Tage, an denen man das Frühstück in eben diesem Salon, seinem Arbeitszimmer, nahm; und wenn man zeitweilig nicht ausging, konnte man doch auf der Terrasse umherwandern, auf welcher u.a. ein Affenhaus mit seinen allezeit beweglichen Insassen viel Vergnügen bereitete und Gelegenheit zu manchen Beobachtungen gab. War aber der Sturm vorüber, so kam es vor, daß er die Seinigen noch am Schluß eines solchen Abends auf die Terrasse hinausrief, um die wiedereingetretene Ruhe in der Natur und die herrliche Sommernacht mit ihnen zu genießen, oder in der Frühe die einzig erquickende Morgenluft, die man frühstückend auf einem der zum Garten führenden Treppenabsätze einatmete. Rosen, die der Wirt dabei für Frau Wagner auf den Tisch stellte, schienen dem Meister ganz besonders stark zu duften, und er meinte, die Rosen in Bayreuth hätten schließlich gar keinen Geruch mehr gehabt, während hier die ganze Luft von diesen Düften erfüllt sei.

Kaum zwei oder drei Tage nach der Ankunft drängte es ihn, an seine Partitur zu gehen. Er sprach beim Fortschreiten der Arbeit wiederholt davon, wie ungern er grelle Effekte habe, wie er immer zu vermitteln suche, um sie verständlich zu machen, sie nicht als Schroffheiten wirken zu lassen.1 So zeigte er die Stelle ›kalt und starr‹ und freute sich, sie mit gedämpften Hörnern begleitet zu haben. Das habe ihn bei den Nibelungen erfreut, daß die größten Kühnheiten, zu welchen er sich aus innerer Notwendigkeit gedrängt sah, nicht unvermittelt aufträten. Man müsse ja bei solchen Vorwürfen, wie er sie habe, zu exzentrischen Farben greifen; man käme da nicht aus mit ›notte e giorno faticar‹; aber darin bestände die Kunst, daß sie nicht exzentrisch wirkten. Wenn er dann eine ›schlimme Stelle‹ glücklich ausgeglichen zu haben sich freute, [537] gedachte er wohl der merkwürdig unrationellen Art, wie Berlioz seine Instrumente einführte. Gleich am ersten Tage der Ankunft im Hotel des Palmes hatte sich Rubinstein zu seiner Begrüßung eingefunden und blieb nun wieder in regelmäßigem Verkehr, so daß, wenn er ein paar Tage nicht erschienen war, der Spaziergang sich wiederholt nach seiner Wohnung hin richtete, um nach seinem Befinden zu sehen. Gern wies er ihm gelegentlich eine Feinheit seiner Orchestrierung, die ihn besonders freute, wie z.B. wenn er die erste Violine aufhören ließ und sie unmerklich durch die zweite Violine ersetzte. Befragte ihn Rubinstein gelegentlich nach diesem oder jenem für seinen Klavierauszug, so zeigte er ihm wohl die letzte Seite, die er eben geschrieben, in bezug auf ihre Instrumentation. ›Für Parsifals Eintritt‹, sagte er, ›habe ich Hörner und Trompeten; Hörner allein war mir zu weich, zu wenig feierlich; Trompete allein zu blechig, klapperig – da muß man finden; und dann fordere ich, daß sie es gut spielen.‹ Ja, über den ›Parsifal‹ würden alle sich wundern, und so insbesondere auch über die Stelle des Gebetes, der Anbetung der Lanze. ›Da zeige es sich: unmöglich, das, was hier vorgeht, in Worten zu geben; da wären Begriffe, und damit alles aus.‹ Auch am Klavier könne man sich keine Vorstellung davon machen: ›am Klavier, o das ist nichts, da ist die Instrumentation entscheidend!‹ – Immer mit der schließlichen szenischmusikalischen Darstellung seines Werkes beschäftigt und im voraus dafür sorgend, wandte er sich, kaum drei Wochen nach seiner Ankunft, am 26. November, an Fräulein Malten in Dresden (S. 521) mit der Einladung, dazu mitzuwirken. ›Der schöne Eindruck‹, schrieb er, ›den ich vor kurzem durch Ihre Leistung als Senta im »Fliegenden Holländer« erhielt, wirkt in mir fort, so daß ich Ihnen den Wunsch aussprechen muß, auch Sie bei einigen der nächstjährigen Aufführungen meines »Parsifal« mitwirken zu sehen. Schon jetzt hat mich die Vortrefflichkeit des Tenoristen Herrn Gudehus bestimmt, Ihnen beiden »Tristan und Isolde« zur Darstellung in Dresden anzuempfehlen, da ich die Besetzung der übrigen Partien ebenfalls gut ausgeführt wissen kann. Mir wäre es besonders recht, wenn Sie auch in London, wohin Sie sich ja engagiert haben, die »Isolde« darstellten.‹ Bei alledem wünschte er sich leidenschaftlich eine baldige Beendigung der Partitur und sprach von seiner Angst, damit überhaupt nicht fertig zu werden: er fürchte vorher zu sterben, diese Angst habe er bei jeder seiner Arbeiten gehabt.2 Selbst bei dazwischen immer vorkommenden Indigestionen, zu denen der geringste Diätfehler leicht Veranlassung gab, mit allen daraus für ihn entstehenden Qualen, war er doch bestrebt, täglich seine Partiturseite zu schreiben oder es gar auf 11/2 Seiten zu bringen. ›Man könne es nicht glauben‹, sagte er einmal bei einem Nachmittagsspaziergang im englischen Garten, ›wie groß die Absorption durch [538] seine Arbeit bei ihm sei, wie sehr sie ihn beständig präokkupiere, wie so eine Oboe ihm durch den Kopf ginge, und insofern nehme er es an, wenn man von ihm sagte, daß er immer geduldiger würde.‹

Ein Wort wäre hier über den Eindruck der Örtlichkeit im allgemeinen, die äußere Physiognomie von Palermo, zu sagen. Wie schon erwähnt, war dieser kein unmittelbar hinreißender, da alle ihre Reize im voraus durch Neapel überboten schienen. Nichtsdestoweniger begannen, neben den großen klimatischen Vorzügen, auch diese Reize bald ihre Wirkung auf ihn auszuüben. Die Stadt gefiel ihm immer mehr; die Teilung durch die zwei großen Adern, um das Gewirr der kleinen Straßen zu bemeistern, fand er ganz angemessen, und es gewährte ihm viel Vergnügen, durch die Porta Nuova über das Häusergewirr der Stadt hinweg das Meer zu sehen. Bekanntlich bildet Palermo in seiner Anlage ein längliches Viereck, das mit einer der kürzeren Seiten unmittelbar an das Meer stößt. Zwei rechtwinklig sich durchkreuzende breite Hauptstraßen zerteilen dieses große Viereck in vier kleinere von ziemlich gleichem Umfang. Von Nordost nach Südwest, von der Porta Felice am Hafeneingang bis zum entgegengesetzten Ende, der Porta Nuova am Königlichen Schloß, erstreckt sich der Cassaro oder die Strada Toledo, schon damals offiziell mit dem stolzeren Namen des Corso Vittorio Emmanuele benannt. Von Nordwest nach Südost, von der Porta Macqueda bis zur Porta S. Antonino, parallel mit der allgemeinen Richtung der Meeresküste durchkreuzt ihn die Strada Macqueda oder der Corso Garibaldi, unter dem Namen Strada della Libertà – als einer seiner Lieblingsspaziergänge – außerhalb der Porta Macqueda sich fortsetzend. Eine der ersten Nachmittagsspazierfahrten führte ihn quer durch die Stadt hindurch in schnurgerader Fortsetzung der Strada Toledo nach Monreale, wo einst der Normannenherrscher Wilhelm II. als König von Sizilien eine Benediktiner-Abtei gründete und die mächtige Kathedrale errichtete, die jetzt den Mittelpunkt einer selbständigen hochgelegenen kleinen Stadt bildet. In Windungen steigt die Straße den ›Königsberg‹ (Monte reale) bis zu ca. 350 Meter Höhe hinan. Der Eindruck des mächtigen Domes mit den achtzehn Granitsäulen als Träger des Langschiffes und den ganz nach arabischem Muster konstruierten Spitzbogen des Querschiffes war ein durchaus erhabener: ›Was sind das für Menschen gewesen, die so etwas erbauten!‹ rief er bewundernd aus.3 Entzückend war der vom alten Benediktinerkloster einzig noch erhaltene Kreuzgang, dessen zweihundert Säulen paarweise die musivischen Spitzbogen tragen; nicht minder der weite Ausblick aus dem Klostergarten, dessen Orangental mit seinen berauschenden Düften völlig märchenhaft stimmte. Auf demselben Wege, näher zur [539] Stadt, lag die reizende Villa Camastra, deren Besitzer, Graf Tasca, als einer der ersten und hervorragendsten rationellen Landwirte Siziliens, hier eine Versuchsstation angelegt und seinen Sommersitz mit dem schönsten Garten Palermos umgeben hatte, der, dem Publikum zugänglich, wiederholt von ihm besucht wurde. Eine andere Nachmittagsfahrt brachte ihn zur Porta Macqueda weit hinaus bis zur Punta di Gallo und auf dem Rückweg zu dem Kgl. Lustschloß La Favorite mit seinem jedermann offenstehenden herrlichen Park; während er den Weg bis zum englischen Garten an der rechts und links mit den Villen des palermitanischen Adels geschmückten Strada della Libertà gern zu Fuße zurücklegte oder auch, wenn sein Wagen ihn dorthin gebracht, von hier aus in der göttlichen Luft und dem unsäglichen Formen- und Farbenreiz der Umgebung gelegentlich einen zweistündigen Spaziergang unternahm. Oder er freute sich der märchenhaften Palmenallee in der Flora und genoß Licht, Luft, Meer, Berge und Sonne auf einem Gang zur nahebelegenen Marina, am Meeresstrande, zwischen der Porta Felice und dem öffentlichen Garten.

Den Freund alles Blühenden entzückte in der Villa Giulia eine Palme, deren fruchtbeladene Blätter tief herabhingen, mit ihren, wie Schmetterlinge aussehenden großen roten Blüten; oder auch in irgendeinem Squaregarten der Stadt selbst ein blütenbedeckter Passionsblumenstrauch; sowie die Rosenpracht im eigenen Garten. Hatte er doch in seinem ›Palmenhotel‹ von dem Ruhestuhl in seinem Arbeitsraum einen Anblick, der ihn immer von neuem erlabte: eine herrliche Palme im gegenüberliegenden Garten. Zweierlei gefalle ihm hier, wenn er sich an seinen Schreibetisch setze: kein beständiges Kaminfeuer, keine künstliche Wärme zu brauchen, wie daheim im rauhen Norden, und – die wundervollen Pflanzen! ›Es ist doch schön‹, sage er sich dann, ›daß du hier eine solche Partitur schreiben kannst, ohne Angst und Schweiß, mit Behagen.‹ Es sei hier alles traulich, ganz anders als in Neapel, wo es so aufregend sei. Unter den Gebäuden der Stadt war es besonders der Dom, der ihn – trotz der später aufgesetzten verunstaltenden Kuppel – durch sein Äußeres einnahm; er erinnere ihn durch seinen Reichtum an indische Bauten und sehe aus, wie eine Königsburg. Er weile gern in einer Stadt, die einen solchen Bau enthalte. Auch die Capella Palatina am Palazzo Reale wurde wiederholt von ihm aufgesucht, als die schönste Schloßkapelle der Welt und ein Prachtwerk mittelalterlicher Baukunst. Abstoßend und anwidernd wirkte dagegen auf ihn die Zopfkirche San Domenico, mit der Säule des Heiligen: ›dahin führte die Renaissance!‹ rief er aus. Die griechische Kunst habe noch lange nach ihrem Untergange die Welt beeinflußt; aber mit dieser Beflissenheit, es schön zu machen, das Herbe zu meiden, wäre man bis zum Rokoko gekommen. Es sei im Keim der Sache etwas Verderbtes gewesen. Gern machte er auch einsame Entdeckungsgänge durch allerlei [540] Nebengassen und Gäßchen und führte dann anderen Tages die Seinigen die gleichen Wege, um ihnen einen von ihm auf diesen Wanderungen entdeckten großartigen Palast zu zeigen. Anregend wirkte alles, das Leben auf der Straße, einzelne Blicke, wie auf die herrlichen Türme an der Westfront des Domes, wunderliche Pfauen usw. Zuweilen ließ ein anhaltendes Regenwetter doch das Bild der Nilreise für den nächsten Winter in ihm aufsteigen; aber selbst wenn es sanft regnete und der Himmel dabei doch hell war, wies er mit Freude daran auf den Monte Pellegrino, der ganz verklärt erscheine; und malte es sich für künftig aus, regelmäßig sechs Monate des Jahres hier zuzubringen und Deutschland nur für die Musik aufzusuchen, die allerdings dort zu Hause sei! Aber hier wolle er leben. Er wiederholte die schon in Bayreuth getane Äußerung, daß es ihm ganz seltsam scheine, achtundsechzig Jahre alt zu sein; er erstaune immer, wenn er sähe, daß er einen grauen Kopf habe. ›Ich bin doch kein Gespenst, mit meinem »Parsifal« rücke ich doch wiederum mit etwas Neuem heran.‹

Einzig betrübend empfand er es, daß er für alles auserlesene Schöne hier keine mitgenießenden Freunde habe, da weder Liszt, noch Gobineau (noch selbst Wolzogen) sich dazu bereit gezeigt hätten, seiner Einladung hierher Folge zu leisten. Im Betreff Liszts und Gobineaus konnte er sich nicht leicht darüber trösten; von beiden wußte er, daß sie sich in ihrer Umgebung nicht wohl fühlen konnten. Melancholische Nachrichten über den ersteren und die bei ihm weilende Tochter Daniela gaben ihm diese Empfindung ein; auch ein Brief Gobineaus, nach dessen Empfang er ihn am liebsten gleich telegraphisch herbestellt hätte. Selbst das Zurückbleiben Joukowskys in Bayreuth, welches doch nur seiner vorbereitenden Arbeit an den Kostümen galt, berührte ihn wehmütig. ›Die Menschen, die freiwillig von mir wegbleiben, verschwinden mir aus dem Sinn; sie haben ihr eigenes Schicksal, neben und außer dem meinigen. Wenn wir die Kinder nicht mit hätten, wie könnten wir uns an etwas freuen, auch wenn wir wüßten, daß sie zu Hause vergnügt und wohlbehalten wären!‹ Von ihnen war Siegfried seit ihrer Ankunft unaufhörlich mit Zeichnen beschäftigt, und es unterhielt ihn, wenn er den Knaben bei Tische seine mannigfachen Zeichenabenteuer erzählen hörte: wie sich gestern die ganze Straße um ihn zusammengerottet habe, als er eine Kirche (San Domenico) abgezeichnet; oder daß unter den gleichen Umständen, als er vor der Kirche San Francesco d'Assisi – am gleichnamigen Platze – gesessen, ein Mann aus dem Volke die ihn umdrängende Menge durch Werfen mit Salatköpfen von ihm abgehalten und entfernt habe. Oder: er sei auf der Straße angehalten und darüber befragt worden, ob er der Sohn Richard Wagners sei, und auf seine bejahende Antwort habe der ihn Befragende zu seinem Begleiter gesagt: tutto il tipo Wagneriano! Wieder einmal erzählten die von einem Ausgang heimkehrenden Schwestern, sie hätten vor dem Dom einen ganzen Volkshaufen [541] erblickt und erfahren wollen, was es da gäbe: da hätten sie ihren Bruder zeichnend gefunden, umringt von einem Schwarm gaffender Neugieriger, die sich aus allen Ecken und Enden an ihn herandrängten, um zu sehen, was er da treibe, und wie sich auf dem, über seine Knie gebreiteten Blatt seines Skizzenbuches die Linien zu einem getreuen Abbild des vor ihm sich erhebenden mächtigen Baues verbanden. ›Der Kerl ist ganz Auge!‹ rief der Meister von ihm aus, indem er zugleich von der Schönheit dieses Auges sprach. Seine Sicherheit im Urteil erfreute ihn, und er meinte: das, was einst für ihn selbst in seinem Knabenalter die Theaterwelt gewesen, mit all ihrem geheimnisvoll Gespenstigen an Bärten, Perücken und Gewändern, wozu dann Musik gemacht worden sei – das sei für Siegfried Italien, welches er mit sieben Jahren zuerst gesehen ›Was der Junge für eine glückliche Jugend hat‹, rief er dann, ›welche Eindrücke!‹ Gespräche über Schiller und seine Beziehungen zu Sizilien (›Taucher‹, ›Bürgschaft‹, ›Braut von Messina‹) gaben ihm Veranlassung dazu, erst den ›Taucher‹, dann die ›Bürgschaft‹ und im Anschluß daran auch noch den ›Gang nach dem Eisenhammer‹ in seiner Weise vorzulesen, und er freute sich des schönen Ausdruckes in Siegfrieds Gesicht, wenn er zuhörte.

Im übrigen war es den ganzen Monat November hindurch die Folge von Shakespeares Königsdramen gewesen, die in gemeinsamer Lektüre den Geist des großen Vortragenden und seiner Zuhörer beschäftigte. Aktweise zogen diese ergreifenden Ereignisse Abend für Abend an der Einbildungskraft aller vorüber, und er selbst sah dabei so schön jugendlich aus, daß ein Zuschauer seine Freude daran haben konnte. Man hatte, unter größter Aufmerksamkeit der Jugend, mit ›Heinrich VI., erster Teil‹ begonnen. Im zweiten Akte war insbesondere der Rosenstreit von mächtigstem Eindruck. ›Und wenn einer gesprochen hat, was dann der andere antwortet‹, sagte er hier, ›das muß man immer bei Shakespeare beachten!‹ Und: ›es müsse eine Gemeinde geschaffen und eine Kanzel errichtet werden, um durch Shakespeare zu erfahren, was (das Wesen der) Geschichte ist‹. Dadurch, daß zu diesen Historien der Dichter wahrhafte Züge vor Augen gehabt, seien diese Stücke auch von ganz anderem Charakter, als die, wo er nur Novellen vor sich hatte, wo doch immer auch einiges Konventionelle sich einmischt. Im dritten Akte rief besonders die Einzelrede des Exeter große innere Bewegung hervor; dagegen liebte er die Szenen in Frankreich nicht sehr. Was der ›Patriotismus‹ wert sei, das sähe man an den seltsamen und unangenehmen Szenen der Pucelle, – während Schiller, ein Deutscher, die Wahrheit sah. Dagegen das heroische Idyll von Talbot Vater und Sohn! Beim Übergang zum zweiten Teil müsse man sich erstaunt fragen, wie es nur möglich sei, durch so fremdartige, an sich selbst kaltlassende Verhältnisse und so unsympathische Charaktere derart gefesselt zu werden. Und doch rief jedes Wort die spannendste Wirkung hervor. An Warwick betonte er den Charakter des normännischen Eroberers [542] und den Drang, eine andere Wirtschaft herzustellen. Zu tiefer Erschütterung aller folgte dann der zweite Akt, – und wie da die milden, resignierten Worte des jungen Königs in dieser Umgebung wirkten! Nach dem dritten vollends gab es nur Schweigen, Staunen und das gehobene Gefühl einer unmittelbar moralischen Wirkung: daß man dadurch besser werde. Auch machte der Meister dazu die Bemerkung, daß hier zum ersten Male das Volk – beim Tode Glocesters Gerechtigkeit fordernd – in der Art auftritt, wie es später von Victor Hugo als Ganzes so oft zur Verwendung gelange. Mitten in diese Lektüre hinein kamen Briefe des Herrn Neumann, Schwierigkeiten seiner Unternehmungen in Paris und London meldend, – aus all diesen äußeren Dingen entrückte dann befreiend der vierte und fünfte Akt der Tragödie, denen dann nach einer Unterbrechung von wenigen Tagen der dritte Teil folgte. Diese Helden, die man selbst kaum Helden nennen könnte, seien ganz und gar wie die alten Wikinger und erinnerten an Aygill. Der merkwürdige Zug von Warwicks Flucht ließ von neuem über die dichterische Fälle staunen, mit welcher der Dichter einen Gegenstand ausstattete, der in sich so wenig Anziehendes hätte. ›Eines aber zeige uns Shakespeare immer: die furchtbare Beschaffenheit der Welt; insofern könnte man ihn für den größten Pessimisten halten.‹ Nach der Schlachtszene rief er aus: ›Das kennt man ja gar nicht! es ist mir, als ob nur ich und Schiller dieses Stück kennten!‹ Und wie groß sie alle im Sterben seien! ›Weise ja bist du Wilder im Sterben!‹ – das könne man zu allen Shakespeareschen Gestalten sagen. So auch von dem sterbenden Hastings in ›Richard III.‹, und selbst der Tod Buckinghams wirke wie eine Verklärung. Wenn zu einem ganzen Akt gelegentlich an demselben Abend noch die Hälfte des ihm folgenden mitgelesen wurde, so schien dies für die Intensität des Eindruckes, den man von jeder Einzelheit empfing, fast schon zuviel. Inmitten all des Grauenhaften, Entsetzlichen mußte man dann doch wieder über den wild grandiosen Witz und Humor mehr als einmal laut lachen. Als besonders grauenhaft empfand er den Zug, daß Anna vor den wüsten Träumen ihres Gatten nicht schlafen könnte. Den Abschluß der ganzen Reihe dieser Dramen mit ›Richard III.‹ erklärte er dadurch, daß mit ihm das Interessante aufhöre: nun kämen die ›Flachen‹ daran, denen er selbst Richmond zuzählte. Für sich selbst war er immer noch mit Kants ›Physik des Himmels‹ beschäftigt und sprach von den vielen Sternen und Sonnen, die er da aufgezeichnet finde und mit denen es ihm so ginge, wie dem französischen General mit der Marne:c'est une mauvaise plaisanterie (S. 472)! Die Klarheit des südlichen Himmels, an welchem man außer der schmalen Mondsichel immer die ganze übrige Mondscheibe mit erblickte, ließ ihn wiederholt auf dieses Thema kommen. Er sprach davon, wie er in seiner nächsten Arbeit über das ›Männliche und Weibliche‹ es deuten werde, daß die Sonne bei den Germanen weiblichen Geschlechtes [543] sei. Am Ende erklärte er aber doch, er habe Kants ›Physik des Himmels‹ aufgegeben, weil er ›zu wenig Kenntnis davon habe‹, und ging zu der Abhandlung über das Rassenproblem über, woraus er dann gelegentlich auch einige besonders fesselnde Seiten vorlas. Das Thema der ›ersterbenden Keime‹ beschäftigte ihn: die Keime zum Verschiedenartigsten seien in der Natur enthalten; nun komme es darauf an, was entwickelt werde. ›Bei den Deutschen ist alles im Ersterben begriffen – eine traurige Einsicht für mich, der ich an die noch vorhandenen Keime mich wende.‹ Wie sehr recht habe Schopenhauer, Kant den originellsten Denker zu nennen! ›Man bereut es nie, mit einem bedeutenden Kopf zu verkehren und sollte nur mit solchen originellen Wesen sich einlassen!‹

Wie überall, so unterhielt ihn auch in Palermo das Volksleben, und er hatte stets ein Auge und Ohr dafür. Letzteres besonders auch für die mannigfachen Schreie der Straßenverkäufer; so wenig ihn andererseits das italienische Geplapper anmutete, so sehr interessierten ihn diese Rufe, und er führte die Bemerkung Schnappaufs an, daß für 10 Oliven ein Mann hier ein solches Geschrei erhebe, als hätte er die ganze Welt feilzubieten. Ein Bettler, der dem Hotel gegenüber, an einem Pfeiler sich gegen den Nordwind schützend, bereits um sechs Uhr früh sein Tagewerk begann, erregte seine nachhaltige Aufmerksamkeit, so daß er ihn sogar vermißte, wenn er einmal nicht zu sehen war. Die naive Unverschämtheit dieses ›Säulenheiligen‹, dem die Einheimischen nur selten etwas gaben, und der sich umsomehr an die Fremden hielt, ließ ihn einmal die Bemerkung machen: ›wir bringen ihm mit unserem langen Aufenthalt Schaden, da er mehr von den Hin- und Herreisenden einnehmen konnte‹. Doch ließ er sich ernst über den Jammer aus, der zu dem allen die Voraussetzung bildete, und meinte, man müsse den Leuten, welche die Fortschritte in Italien rühmten, nichts anderes wiederholen, als: ›Eure Bettler!‹ Er möchte wohl einen Landstrich bewohnen, der keine Bettler habe. Als er einmal, selbst nicht bei bestem Wohlbefinden, von einer Spazierfahrt nach der Favorita durch die Strada della Libertà zu Fuß zurückkehrte, wobei er sich dazwischen immer setzen mußte, bemerkte er einen alten, mühselig mit Hacke und Spaten sich schleppenden, ganz zerlumpten Chausseearbeiter. ›Immer die schwere Arbeit den Alten!‹ rief er unwillkürlich aus, als er davon erzählte. Er näherte sich ihm mit einer Gabe, der Alte blickte ihn ernst verwundert an (– ›dieser Ernst in diesem Blick!‹ –), dann verstand er ihn, lächelte, nahm dankend das ihm Gebotene entgegen und schleppte sich mühsam weiter. Noch eine fernere Begegnung fand ein anderes Mal auf derselben Straße statt, wobei er den Meister, der empfangenen Wohltat und ihres Spenders eingedenk, mit dem gleichen freundlich ausdrucksvollen Lächeln begrüßte, ohne irgendeine Bitte damit zu verknüpfen. Aber auch ohne eine solche blieb diesem das Schicksal des Alten im Gedächtnis, und er sprach, zu Hause darüber berichtend, seine Absicht aus, ein Depositum für eine regelmäßige [544] Dotation seines Schützlings zu machen. Sooft er jedoch auf seinen Ausgängen die Strada della Libertà passierte, er sah den alten Mann nicht wieder. Am schlimmsten war es aber, wie in Italien überall, mit dem Verhältnis der Bevölkerung zur Tierwelt bestellt Gleich seine erste Tat bei der Ankunft in Palermo war die Rettung von Vögeln gewesen, denen man mit Lockern und Leimkäsigen nachstellte. Einmal hörte man bei Tische einen Schuß fallen, und es wurde die Frage aufgeworfen, ob man wohl auf die Vögel schieße? ›Allerdings‹, erwiderte der aus dem nördlichen Italien stammende Kellner im stolzen Bewußtsein einer höheren sittlichen Kultur, ›das Volk hier ist so zurück, daß man es nur allmählich zu mehr Sitte bringen kann; sonst hat man gleich Revolutionen.‹ Dies gab zu denken, doch mußte man sich fragen, was das elende Volk erst von Adel und Geistlichkeit für ein Beispiel erhielte? Ein anderes Mal stellte sich der Wirt, Herr Ragusa, selbst bei Tische ein, um nach dem Rechten zu sehen; man erfuhr von ihm, er sei Schmetterlingsammler und wurde förmlich durch die Nachricht erschreckt, daß ganze Gattungen der prächtigsten Schmetterlinge durch das sinnlose Sammeln derselben zugrunde gegangen und ausgerottet seien. Bereits erwähnten wir des Affenhauses auf der Hotelterrasse, dessen Bewohner nicht allein den Kindern, sondern dem Meister vielen Spaß machten, einmal wollte er den einen von ihnen mit einem Taps überraschen: doch kam ihm dieser zuvor und traf ihn selbst auf die Hand, um sich dann eiligst zu sichern Eines Tages fand er den einen von ihnen tödlich erkrankt durch die Unvorsichtigkeit eines Knaben aus den Hotelgästen, der ihm Kaktus4 zu essen gab; der andere jammerte um den Gefährten. ›Was soll man von solchen Wesen erwarten, die so aufgestutzt gehen?‹ rief er unwillig und verließ mit den Seinen die ihm nun verleidete Terrasse. Einmal hielt er auf der Straße – in der Nähe des Politerma – einen Jungen an, der seinen Hund mißhandelte, und da er dabei mit dem Italienischen schwer fortkam, knüpfte er daran den Entschluß, die Sprache zu lernen. Er entsann sich, daß ihm Bülow einst von seinem Besuche bei Schopenhauer die an ihn gerichtete Frage des Philosophen erzählt hatte: ›Haben Sie bemerkt, wie der Hund5 Sie angesehen hat?‹ Und es ist wahr, fuhr er fort, ›so einen intensiven Blick, wie der, womit ein Hund einen Ankömmling prüft, gibt es nicht wieder.‹ – Von einer Spazierfahrt auf die Cuba6 und nach der Zisa7 kehrte man in dem wunderschönen [545] Garten Florio ein, in welchem ein gefangener Pracht-Uhu seine ganze Bewunderung erregte. ›Das ist die Natur!‹ rief er aus, ›ohne Verstellung, grauenhaft, aber wahrhaftig; und wie ein Löwe, schöner als ein Löwe, sieht der Kerl aus!‹ Er betrachtete ihn lange, und nachdem der liebliche Garten ihn sehr angemutet, kehrte er wieder zu ihm zu rück. Er lachte über die Deutlichkeit seines Rufes; es sei, als ob er sprechen lerne Wiederholt machte er ihm von jetzt ab auf Spaziergängen und -fahrten seinen Besuch, und es entstand zwischen ihm und dem Vogel eine Art von Freundschaft, die sich bei jedesmaligem Wiedersehen verstärkte und befestigte. Es war gerade nach einem solchen Besuch, daß er einmal einem Geistlichen seine Schrift über die Vivisektion überreichte, um zu sehen, welche Wirkung sie auf ihn ausüben möchte. Leider hatte er – wenige Monate später – es zu erleben, daß auch die zweite, in dieser grundlegenden, über eine ganze Weltanschauung entscheidenden Angelegenheit an den deutschen Reichstag gerichtete Petition das Schicksal der ersten Eingabe teilte. Auch sie wurde von einer Gemeinschaft von Volksvertretern und -beratern abgelehnt, für welche einzig das Prinzip des Utilitarismus Gültigkeit hatte, deren Beschlüsse durch Nützlichkeitsgründe und einseitige Verehrung von ›Vernunft und Wissenschaft‹, nicht aber aus religiösem Gefühl und einer deutsch-idealistischen Gesinnung diktiert wurden. ›Er kenne keine andere Religion, als das Mitgefühl‹, rief er klagend aus, ›und gerade dieses werde durch unsere moderne Denkweise nicht nur nicht geweckt, sondern gänzlich totgemacht. Keiner habe Mitleiden!‹

Von äußeren gesellschaftlichen Beziehungen wäre in erster Reihe die zu dem Präfekten von Palermo zu nennen, die schon in die ersten Wochen seines dortigen Aufenthaltes fiel und damit begann, daß der hochgestellte Beamte sich zu einem Besuche des Meisters in dessen Hotel einfand und sich als ein gescheiter und wohlunterrichteter Mann erwies, der da wußte, mit wem er es zu tun habe. Als er bald darauf eine Ausfahrt nach der bereits (S. 540) erwähnten, von Palmen und rotblühenden Aloe umgebenen Villa Camastra machte, um sich an ihrem entzückenden Garten zu erfreuen, nahm ihr liebenswürdiger Besitzer, Graf Tasca, dies zur willkommenen Veranlassung, ihm ebenfalls einen Besuch zu machen und ihn nebst Gemahlin und Kindern für den folgenden Tag zum Frühstück einzuladen, und es gab in den anmutigen Räumen alten Stils ein sehr hübsches, üppiges Dejeuner, bei welchem die gräflichen Wirte sich ungemein freundlich natürlich ausnahmen und die Gräfin, eine ältliche Dame, eine gute Kenntnis von Deutschland an den Tag legte und dem Meister sein Portrait in ihrem Album zeigte. Das [546] Wetter war herrlich, der Garten erfreute durch seine zauberische Schönheit, trotzdem war er bei der Heimkehr von dem ungewohnten Verkehr etwas müde. Immerhin war eine dauernde freundschaftliche Beziehung für den ganzen weiteren Aufenthalt in Palermo angeknüpft, und es kam einige Wochen darauf zu einem nochmaligen Besuch im städtischen Palaste des Grafen, in dessen nach südlich buntem Geschmack reich ausgeschmückten Räumen er auf dem Flügel, wenn auch nicht eben einen Klavierauszug, so doch ein Potpourri aus den ›Meistersingern‹ antraf und daraus spielte. Mehrfach holte ihn auch Graf Tasca in seinem Wagen zu Spazierfahrten in die schöne Umgebung der Stadt ab, einmal auch zu einem gemeinschaftlichen Besuch bei der Fürstin Butera, deren Palazzo von großer Prachtliebe und Reichtum zeugte, und die als eine merkwürdig gemütlich schroffe Erscheinung den Meister ganz heiter stimmte. Namentlich aber war es die schöne Villa Camastra mit ihrem Park und weitausgedehnten unerschöpflich üppigen Nutzanlagen, in denen der Graf seine Gäste zu immer erneutem Vergnügen derselben zu wiederholten Malen umherführte. Durch ihn entstand dann auch die Beziehung zu seinem Schwiegersohn, dem Fürsten Gangi, welcher ebenfalls in der taktvollsten und herzlichsten Weise um das Wohlsein und die Bequemlichkeit des deutschen Meisters sich bemüht zeigte, und anderen Gliedern des palermitanischen Adels; Bekanntschaften, die den Meister zwar stets etwas ermüdeten, die er aber um seiner heranwachsenden Familie willen gern bis zu einem gewissen Grade zu pflegen sich verpflichtet hielt, um sie nicht von allem Verkehr abzuschneiden. Und doch war und blieb er darauf angewiesen, sich fortdauernd jede Schonung seines Gesamtbefindens angelegen sein zu lassen. ›Selbst das mildeste Klima‹, schrieb er bald darauf, ›hat mir bewährt, daß mein Leiden einzig von der nervösen Aufregung kommt, welcher ich nun bis zum Antritt meines siebzigsten Lebensjahres beständig ausgesetzt gewesen bin. Ich bin, bei übriger Gesundheit aller Organe, bei der mindesten, namentlich auch moralischen Anreizung, Kongestionen nach der Brust verfallen, welche sofort den beängstigendsten Charakter annehmen und nur durch sofort eingehaltene Ruhe zu beschwichtigen sind.‹8

Müdigkeit, Unbehagen, unruhige Nächte, das waren die ersten Wirkungen, die sich einstellten, wenn er diese Vorsicht außer acht ließ, und zu denen bald der Scirocco, bald ein Diätfehler, bald nächtliche Kämpfe mit Moskitos, bald ein geschäftlicher Ärger durch irgendeinen seiner auswärtigen Bevollmächtigten, Neumann, Francke, Batz oder selbst durch seinen Verleger Dr. Strecker beitrug. Daß dieser letztere das Vorspiel zu ›Parsifal‹ jetzt schon herausgeben wollte, oder daß Herr Neumann dem Verwaltungsrat aus diesem oder jenem beliebigen Grunde den Prozeß ankündigte, oder Herr [547] Francke, dem für London der ›Tristan‹ zugestanden war, ihn bereits für Hamburg (Pollini) für ›Vorstudien‹ bewilligt haben wollte, ärgerte ihn, wie beinahe alle Kundgebungen von außen her. ›Nichts kann man rein erhalten!‹ sagte er unwillig über den projektierten Hamburger ›Tristan‹. Gegen das Pariser ›Lohengrin‹-Unternehmen Neumanns waren die Feindseligkeiten der dortigen chauvinistischen Presse so heftig angewachsen, daß es ihm schließlich wider seinen Willen aus den Händen gewunden wurde.9 Und auch in London gab es allerlei erst zu überwindende Schwierigkeiten, bei denen das schlimmste war, daß der Meister überhaupt davon erfuhr, und aus welchen dann, wie bereits (S. 543) erwähnt, erst Shakespeare wieder völlig entrücken mußte. Er freute sich schon darauf, wenn er übers Jahr seine Nilfahrt antreten werde: dann würde er einmal drei Monate lang von all diesen Dingen nichts hören Bewölkter Himmel und Regen waren auch hier seine Hauptfeinde. ›Madeira! Ceylon!‹ rief er aus, ›ich will blauen Himmel haben!‹ Beim Spaziergange kehrten ihm dann alle seine Beschwerden wieder; er setzte sich zum Ausruhen des öfteren auf Bänke, die sich gerade an der Straße befanden, und kam ganz matt von solchen Ausgängen zurück. ›In der Frühe (an seinem Schreibetisch) könne er sich vor der Sonne nicht retten, und am Nachmittag brauche sie eine Wolke als Schnupftuch, um ihr Gesicht dahinter zu verbergen.‹ Als die Brustkrämpfe wiederkehrten und die möglichen Ursachen derselben einmal gesprächsweise durchgegangen wurden, bezeichnete er schließlich seine Arbeit als einen Hauptgrund, da sie durch die nötige Konzentration seines Geistes und damit verbundene emsige Anspannung aller seiner Kräfte die körperlichen Funktionen völlig sistiere. Eines Tages entdeckte er gar, daß er voriges Jahr in Siena falsch ›liniiert‹ habe: ›es ist doch schrecklich, wenn man Pedanterie und Genialität in einem Beutel bekommen hat, – eine wahre Qual!‹ denn nun hieß es ausradieren und weiterschaffen zugleich. Er arbeitete dann nicht allein vormittags, sondern auch nachmittags bis halb acht Uhr, und auch dann kam ihm das Abendessen noch zu früh. Eine angenehme Zerstreuung gewährten ihm um diese Zeit die ihm durch seine Gemahlin empfohlenen Memoiren der Mme. Rémusat, aus welchen er gern Anekdoten und einzelne Züge, besonders über Napoleon und Talleyrand, mitteilte. Von einem Ausbruch Napoleons gegen ›convenances‹ und ›bon goût‹ sagte er: ›Das ist ganz ich.‹ Überall aber fand er, daß die geistvolle, Frau vorzüglich beobachtet habe: ›so ein Werk sei ihm mehr wert, als Mommsen, Pommsen und wie sie alle hießen‹. Er erzählte bei Tische von den Peripetien der Ehescheidung Napoleons: er begriffe nicht, daß man dieses interessante Thema nicht zum Gegenstand eines Dramas gemacht hätte.

[548] Bereits am 28. November war von Niemann ein Telegramm des Inhalts eingetroffen: ›Heute »Tristan«, bitte gedenken Sie unser.‹ Fünf Jahre lang war infolge der schiefen Stellung des Herrn von Hülsen das Werk in der Reichshauptstadt nicht gegeben worden, und so erregte die Depesche zunächst nur ein lächelndes Staunen. Allein die begeisterte Aufnahme des Wertes übertraf die kühnsten Erwartungen. Die zweite Aufführung am 4. Dezember versetzte das Publikum in eine solche Erregung, daß die Darsteller achtzehn Male gerufen wurden, und nicht allein Zeitungsnachrichten, sondern ein ausführliches Schreiben der Gräfin Schleinitz bestätigten den tiefen Eindruck. ›Da kann man sagen, es hat sich vieles verändert, wenn das gefällt‹, bemerkte der Meister. Er erkannte den Ehrgeiz Niemanns, der ihn nicht ruhen ließ, als das treibende Motiv dieser Auferstehung, und unterbrach am 16. Dezember seine Arbeit, um diesem seine volle Bewunderung auszudrücken. ›Ihr »Tristan« ist und bleibt eine fabelhafte Tat. Wer an Sie nicht glauben will, kann es nicht weit bringen Genügend, und nur durchaus wohlwollend, war ich über Ihre immer wieder aufgenommenen Bemühungen für jenes ausschweifendste meiner Werke unterrichtet worden; fast konnte ich noch teilnehmend darüber lächeln, daß hier einmal durchaus gegen den Strom geschwommen werden sollte! Nun lache ich hellelaut über solches Gelingen: es ist wider Sternenlauf. – Aber – Ihnen steht das alles ganz recht und gut: – so muß es sein! –‹10 Gleichzeitig erreichte ihn nun aber auch die Kunde von einer dreimaligen Wiederholung (10. 12. 14. Dezember 1881) desselben schwierigen Werkes im fern entlegenen Königsberg mit dem Voglschen Paar. Wir entsinnen uns, daß er Vogl von dieser Unternehmung in den dortigen kleinen Verhältnissen eher ab- als zugeraten hatte (S. 506). Nun empfing er sowohl durch den Direktor des Königsberger Theaters, wie durch Vogl, den begeisterten Dank für die nicht verweigerte Erlaubnis. Der ›Tristan‹-Aufführung war, ebenfalls unter Heinrich Vogls Mitwirkung, eine zweimalige ›Lohengrin‹- und einmalige ›Tannhäuser‹-Aufführung vorausgegangen und das Haus zu sämtlichen Vorstellungen bis zum letzten Platz besetzt gewesen. ›Königsberg‹, so hieß es in Vogls Bericht, ›hat Ihrem Wunderwerk keine Schande gemacht, wir taten unsere ehrliche Schuldigkeit.‹ Die Aufführung war sehr gut, ja für die Verhältnisse ausgezeichnet. Das Orchester leistete das Überraschendste, gerade für uns, die wir von München den glänzendsten Orchesterklang gewohnt sind; es spielte mit Freude, Lust und Begeisterung, und der leitende Kapellmeister, Hugo Seidel, der mit wahrer Hingabe sich in das Werk vertieft, im Orchester und auf der Bühne mit außerordentlichem Fleiße alles studiert und vorbereitet, verdient wirkliches Lob. Das Haus ... lauschte mit sichtlicher [549] Ergriffenheit den neuen Sphärenklängen und den spannenden Vorgängen auf der Bühne: erster Akt fünfmaliger, zweiter Akt sechsmaliger, dritter Akt achtmaliger Hervorruf in der begeisterndsten Weise. Ein durchschlagender, von jedweder, auch der kleinsten Opposition freier, jeden Mißton fernhaltender Erfolg. Und während Ende des Jahres (29. Dezember) die Reichshauptstadt ihre dritte ›Tristan‹-Aufführung erlebte, bereitete sich das gleiche Werk nun auch in Leipzig vor, nachdem der Meister die zuerst gestellte Bedingung seiner persönlichen Assistenz bei der Einstudierung und Inszenierung hatte fallen lassen. ›Sie wissen‹, schrieb er an Neumann (16. Januar 1882), ›daß ich dieses problematische Werk nur, wenn ich selbst dabei behilflich sein konnte, ferner wollte aufführen lassen; jetzt ist's auch ohnedem gegangen – und das macht mich erstaunen! Nun Glück auf! Gewiß ersehe ich in Seidl verborgene Anlagen, die nur der fördernden Wärme bedürfen, um selbst mich in Verwunderung zu setzen; und so bitte ich Sie auch, um des Ganzen willen, ihm selbst für die szenischen Anordnungen mehr Befugnis einzuräumen, als dies für gewöhnlich den Kapellmeistern zukommt, – denn hierin liegt das, was er hauptsächlich von mir gelernt hat!‹11

Wir möchten hier eine in ihrer Art erschütternde Tatsache nicht übergehen, welche damals ganz Deutschland, ja Europa bis in die fernsten Winkel in Schrecken und Erregung versetzte: den, gerade zwischen die Berliner und Königsberger ›Tristan‹-Aufführung fallenden Brand des Wiener ›Ring‹-Theaters (am Schottenring) unter Leitung Direktor Jauners, auf dessen Haupt sich vernichtend alle die Vorwürfe häuften, die weit weniger in seinem persönlichen Leichtsinn, als in dem allgemeinen Mangel an Pflichttreue der Inspektoren usw. in Österreich begründet lagen. ›Woher‹, rief der Meister, ›soll diese auch in einem Lande kommen, wo der eine ein Slowak, der andere ein Böhme ist, keiner mit einem Interesse am Gemeinwesen und als Polizeipräsident ein Baron Marx!12 Erst allmählich wurden alle die grauenhaften [550] Einzelheiten des entsetzlichen Ereignisses bekannt, und hier stach denn die verhältnismäßige Ruhe des Meisters von der allgemeinen Aufregung ab.‹ ›Es klingt hart‹, sagte er, ›und geht fast über die Natur hinaus: aber die Menschen sind zu schlecht, als daß es einem besonders nahegehen könnte, wenn sie in Massen untergehen. Was in einem solchen Theater beisammensitzt, ist das nichtsnutzigste Volk. Wenn in einer Kohlengrube Arbeiter verschüttet werden, da ergreift und empört es mich, da kommt mir das Entsetzen an über eine Gesellschaft, die sich auf solchem Wege Heizung verschafft. Wenn aber so und soviele aus dieser Gesellschaft umkommen, während sie einer Offenbachschen Operette beiwohnen, worin sich auch nicht ein einziger Zug von moralischer Größe zeigt, – das läßt mich gleichgültig, das berührt mich kaum.‹ Daß nach den amtlichen Erhebungen 416 Stammesgenossen des Komponisten bei dem Brandunglück ihr Leben hatten lassen müssen, war keineswegs dazu angetan, seine Teilnahme daran wesentlich zu erhöhen: ›400 ungetaufte‹, rief er aus, ›und wahrscheinlich 500 getaufte‹, damit die Beschaffenheit unseres modernen großstädtischen Theaterpublikums auf das genaueste charakterisierend, – zugleich aber die Stellung des Reformators zu derjenigen Kunst, an die er den strengen, unerschütterlichen Ernst seines ganzen Lebens mit all seinen Kämpfen und Nöten gesetzt, während er von seiten dieser Gesellschaft irgendwelchen ›Ernst‹ nur für derartige Schreckensfälle reserviert fand.

So kamen unter angespannter Arbeit (bei der er oft den Himmel mit flehend erhobenen Händen um ›leichtere Seiten‹ anrief!), mühsam bewahrtem Wohlbefinden und mancherlei Ansprüchen von außen her, die Tage des Weihnachtsfestes heran, für welches, wie wir uns entsinnen, er vor der Abreise Freund Joukowsky einen Auftrag hinterlassen hatte, über dessen Ausführung am besten diesem selbst der Bericht überlassen bleibt. Wir hatten diesen Bericht bereits (S. 534) bis zu dem Punkte verfolgt, wo er dem Pariser Juwelier seine Zeichnung, die des Meisters Beifall gefunden, eingesandt hatte: ›tief, wie ich in meinen Arbeiten steckte, bemerkte ich nicht, daß ich keine Antwort darauf bekam. – Anfang Dezember‹, fährt er in seiner Erzählung fort, ›telegraphierte mir Wagner aus Palermo: »wie steht es mit meinem Geschenk?« Ich frug bei Mellerio an und erfuhr, daß dieser meinen Brief nie erhalten hatte. Außer mir vor Bekümmernis über dies Mißgeschick, wollte ich um jeden Preis dem teuren Meister den Ärger ersparen und telegraphierte zurück: »am 23. wird alles in Ihren Händen sein«, ging zu Bankier Feustel, erzählte ihm die ganze Sache, nahm bei ihm die Summe von 3000 M. auf, welche das Geschenk kosten sollte, und fuhr damit nach München. Dort bat ich Lenbach und Gedon, mir behilflich zu sein, die schönsten Gegenstände, die man für diesen Preis haben könnte, zu finden. Diese beiden Künstler kannten alle Antiquare und fanden so schöne Sachen, [551] daß all meine Erwartungen übertroffen wurden. Selbst Mellerio hätte nie ein solch herrliches Renaissance-Juwel zustande gebracht, wie wir es bei Drey fanden: es war mit Smaragden und Perlen besetzt, und die Gralstaube mit einer Perle im Schnabel schwebte am untern Ende. Dieser Schmuck wurde mit einer schönen Kette versehen und in ein ebenbürtiges Renaissancekästchen gelegt. Dazu gehörten noch ein herrlicher golddurchwirkter indischer Stoff und ein selten schöner Rokokofächer: Lenbach fügte noch das beste seiner Liszt- Portraits – eine Kohlenzeichnung – für Frau Wagner bei. Mit diesen Schätzen reiste ich nach Palermo ab: ich mußte sie selbst überbringen: sonst wären sie nicht mehr zu rechter Zeit angekommen. Ich hatte berechnet, daß ich am 22. morgens, mit dem Schiff aus Neapel, in Palermo eintreffen würde: aber – in Neapel ging, infolge eines heftigen Sturmes, kein Schiff ab, so daß ich den Weg zu Lande über Reggio nehmen mußte. Die Eisenbahnstrecke war durch Überschwemmungen zur Hälfte zerstört, so daß ich vierundzwanzig Stunden einer sehr unangenehmen Fahrt über Messina nach Palermo brauchte, und am 23. um zwölf Uhr nachts todmüde im Hotel des Palmes eintraf. Man gab mir das einzige noch freie Zimmer in dem überfüllten Hotel, und am andern Morgen ließ ich Siegfried Wagner sagen, es sei ein Freund angekommen. Ich lag noch im Bette, als er an der Tür erschien und bei meinem Anblick in jähem Schrecken zurückfuhr; denn in diesem selben Bett hatte er am Tag zuvor einen guten Bekannten13 als Leiche gesehen. »Paul!« rief er dann, nachdem er mich erkannt. Ich trug ihm auf, seinem Vater zu sagen, daß ich angekommen sei, und zehn Minuten später stand Wagner in meinem Zimmer. Er hatte die Meldung Siegfrieds zuerst bloß so verstanden, daß sie sich auf den von ihm mit Unruhe erwarteten Schmuck bezöge: als ihm aber meine wirkliche Ankunft zum zweitenmal bestätigt wurde, kam er sogleich, wie er ging und stand – zum Entsetzen der englischen Gäste – in seinem Atlasschlafrock durchs ganze Hotel gelaufen. Ich beichtete ihm mein Versehen und wie ich es wieder gut gemacht; mit Tränen in den Augen umarmte er mich da und rief: »So muß man sein! So muß man mich behandeln!« – Das Weihnachtsfest und der Geburtstag von Frau Wagner gestalteten sich nun ganz außerordentlich heiter und schön, und ich verbrachte mit Wagners einen herrlichen Monat.‹

Und doch war es in diesen schönen Tagen am Schlusse des Jahres 1881, daß, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die am wenigsten unter allen erwartete Trauerkunde des plötzlichen Todes seines treuen Mitarbeiters Karl Brandt an den Meister gelangte. In der Abendstunde des 27. Dezember [552] war dieser, kaum dreiundfünfzigjährig, nach kurzer Krankheit (Lungenentzündung mit hinzutretender Brustwassersucht) aus seinem Wirkungskreis abgerufen, zu einer Zeit, wo dieser Wirkungskreis sich ihm erst in seiner bedeutendsten Weise zu erschließen schien. Bereits hatte er die Modelle der Dekorationen und Maschinen vollendet, und noch am 21. November war er persönlich in München gewesen, um dieselben in einem Zimmer neben der königlichen Residenz dem erhabenen Protektor des Meisters zu zeigen und zu erklären. Königlich beschenkt, kehrte er wenige Tage später von hier nach Darmstadt zurück und leitete noch am 12. Dezember, trotz bereits nahenden Unwohlseins, die Bühnentechnik während einer Aufführung des ›Rienzi‹;14 von da ab durfte er das Bett nicht mehr verlassen. Um die Mittagsstunde des 29. Dezember überreichte Herr Ragusa Joukowsky bei Tisch eine Depesche mit dem Bemerken, sie enthielte gewiß etwas Gutes, sonst würde er sie nicht überbracht haben; Joukowsky öffnete das Blatt, las es, verstand den Inhalt nicht und überreichte es Frau Wagner, und diese mußte die Nachricht ohne weitere Vorbereitung mitteilen! Dem ersten düsteren Staunen folgte die Betrachtung dieses Loses: ›er fällt fast in eine Grube mit Offenbach‹, bemerkte der Meister mit Bitterkeit, und weiter sich ergehend, sprach er: ›Wohl weiß ich, daß sein Sohn die Sache übernehmen kann, ja man riet mir selbst zu diesem, aber er war der einzige wuchtige Mensch, den ich hatte.‹ Und als von seinem Tode im Metier, nicht in seinem Bayreuther Berufe die Rede war, sagte er: ›ach! man kann es so deuten oder so, es ist alles furchtbar.‹ Die Hauptstütze bei der Durchführung seines gewichtigen Unternehmens im nächsten Sommer war ihm plötzlich niedergebrochen; und wenn sie zehnfach ersetzbar gewesen wäre für das, was nach der glorreichen Vollendung des allerschwierigsten Beginnens nun weiter von ihr zu erwarten blieb, – unersetzlich blieb ihm die Persönlichkeit dessen, der von Anbeginn des Bayreuther Werkes glaubensvoll und getreu ihm zur Seite gestanden, dessen sorgender Sinn und leitende Hand durch alle Widerwärtigkeiten hindurch, vom ›großen Loche‹15 bis zum endlichen Siege bei ihm ausgeharrt hatte, als ein treuer Freund und Helfer mitten unter allem Zweifel und Unglauben der Zeitgenossen.

›Daß dieser tief anhängliche Mensch – denn das war er mir – sterben mußte!‹ das blieb die wiederkehrende Klage, bildete die meist unausgesprochene, bloß schweigend empfundene, dazwischen aber doch wieder verlautbarte, Grundlage für alle in Arbeit, Gesundheitspflege, Lektüre, Whistspiel usw. weitergeführte Gestaltung des alltäglichen Lebens. Es war so gar nicht seine Art, derartige wehmutvolle Stimmungen über sich Herr werden zu lassen; sondern, stets darauf bedacht, auch nach den traurigsten Eindrücken der natürlichen Heiterkeit wieder alle Pforten zu öffnen, ließ er es seinerseits an Witz [553] und Scherz nicht fehlen. In einem Falle, wie dieser, war es aber gerade die tägliche Beschäftigung mit seinem Werke, die ihn immer wieder an seinen Verlust erinnerte. Eine gern ausgeübte Pflicht war es, Joukowsky mit den Schönheiten Palermos und seiner Umgebung, die er noch nicht kannte, vertraut zu machen, und so gab es allgemeine, Familienausfahrten bald nach Monreale, um den Dom, oder nach dem Botanischen Garten, um die herrlichen Bäume zu bewundern, nach der schöngelegenen Villa Belmonte, oder – gleich nach Empfang der traurigen Nachricht – nach der Villa Florio, um dem, Freunde den prächtigen Uhu zu zeigen. Am Neujahrstage galt es einen Besuch des Präfekten nebst Gemahlin zu empfangen, und auch der Verkehr mit Graf Tasca wurde fortgesetzt. Als gemeinsame Lektüre diente Heinrich IV, dessen beide ersten Akte der Meister an einem Abend unter größter Heiterkeit in einem Zuge vorlas. ›Es ist schlimm‹, rief er inmitten des Vortrages, ›daß hiernach nichts anderes mehr recht ziehen will! Selbst der ironische Dialog im »Faust«, was ist er gegen diese wahrhaftigen Gestalten, von denen man ohne Shakespeare nichts gewußt, und die nun durch ihn leibhaft vor uns stehen!‹ Vorher hatte er sich über die ›Renaissance‹ ergangen, und wie der Einfluß der Latinität der Tod von allem gewesen sei. Dagegen ging er auf in der Bewunderung des Volkstümlichen bei Cervantes, und von der Szene der beiden Kärrner sagte er: ›wer das Volk nicht so kennt, wie es hier sich zeigt, der ist auch kein Dichter‹. Auch in Palermo selbst gewährte ihm das Volksleben immer Vergnügen: einen Bettler redete er als Paganini an; und als er mit den Seinen und Joukowsky bei trübem Wetter und in etwas gedrückter Stimmung von der Martorana heimkehrte, erheiterte ihn ein Dudelsackpfeifer, einsam im Regen vor dem erleuchteten Altar der Madonna spielend. Oder bei der Rückkehr von der Villa Belmonte zwei Kinder, auf einem Esel reitend, der im Galopp die übermütige Jugend davontrug. So war es auch das Volkstümliche, das ihn in dem frischsprudelnden Quell der Gottfried Kellerschen Novellen von neuem anzog, von denen eine ganze Folge gemeinsam gelesen wurde: das ›Sinngedicht‹, die Geschichte von ›Salome‹, ›Regine‹, die ›arme Baronin‹, die er vorher gelesen und sehr empfohlen hatte. Als in einer dieser meisterhaften Erzählungen der Passus begegnete: ›sie glaubte an sich, an den Reichtum, an die Kirche‹ – rief er aus: ›da haben wir ganz Sizilien‹, und die Geschichte von der katholisch gewordenen Lucie gefiel ihm so, daß er beschloß, Keller nach so langer Unterbrechung wiederzusehen. Ungemein erfreuten ihn auch die im Manuskript ihm vorgelegten Dialoge Heinrichs von Stein: ›Die heilige Katharina von Siena‹, ›Luther‹ und ›Heimatlos‹ (S. 115); er fühle sich dadurch wie engagiert, dem jungen Dichter öffentlich seine Billigung auszusprechen, da er sehe, daß seine Gedanken so fruchteten, und erklärte Stein entschieden für berufen. Eines Abends spielte Rubinstein die eine der vier Klaviersonaten Webers (in As dur) und dessen [554] ›Polonaise‹. Er erkenne daran wieder, sagte der Meister, daß er ›kein Musiker‹ sei; trotz vieler schöner Züge erinnere ihn die Sonate an Kalkbrenner: Steifheit der Form und gefallsüchtige Brillance stießen ihn darin ab; nicht den geringsten Einfluß habe Beethoven auf diese Klavierliteratur gehabt. Der Polonaise hörte er nicht mehr zu; sondern trat in das Glashaus hinaus, um sich der herrlichen Mondnacht und der milden Luft zu erfreuen. Ein Weihnachts- oder vielmehr Geburtstagsgeschenk wertvollster Art hatte er seiner Frau mit dem Manuskript der ›Polonia‹-Ouvertüre16 gemacht, das lange verloren schien, sich aber in Paris im Besitz Pasdeloups wieder vorgefunden hatte, der dem Meister zuliebe großmütig auf diese vergilbten Blätter verzichtete. Sie wurde gleich am Weihnachtsabend selbst am Flügel zu tönendem Leben wachgerufen, und vieles knüpfte sich daran, vieles aus seinem Leben, insbesondere aus der Zeit ihrer Entstehung, vieles auch über die Mazurka als eine Schöpfung des polnischen Volkes, die er ganz begeistert erhob. Und von der ›Polonia‹-Ouvertüre selbst sagte er: ›o mit Militärmusik, fürs Volk, wie ich sie mir damals dachte, hätte sie sich prächtig gemacht und gewiß auch einen großen Effekt erzielt!‹

Viel Sorge machte ihm im voraus die Instrumentation des Schlusses seines großen Werkes: er müßte dazu viel mehr Instrumente haben, als das Orchester zur Zeit tatsächlich besitze. Er wolle zuerst den Bläsern alles geben und dann die Saiteninstrumente eintreten lassen. Aber er brauche für die Bläser drei verschiedene Körper und habe nur einen. Wie er sich eine Alt-Oboe habe bauen lassen, so müßten alle Bläser bereichert werden, da er verschiedener Gruppen bedürfe. Man glaube nicht, wie das ihn quäle. Im Anschluß daran ging er die anstrengenden Erlebnisse der letzten Jahre durch: wie er in Not und Sorge die Errichtung seines Theaters betrieben, dann die Vorbereitung der Aufführungen selbst, die Proben, endlich die kummervolle Zeit nach den Aufführungen und wie er, um sich zu helfen und zu retten, den ›Parsifal‹ gedichtet habe, dessen Vollendung nun ihrerseits so anstrengend für ihn sei, indem sie die ganze Konzentration der Ekstase verlange. Er erfreute sich der plötzlich ihm gekommenen Eingebung, daß er nach dem Erglühen des Blutes den Vorhang schließen, volles Dunkel im Zuschauerraum eintreten und so die Musik bis zum Schluß werde spielen lassen. Es sei doch sehr merk würdig, sagte er einmal, daß er sich gerade dieses Werk, das ihn schon früh beschäftigt, und das er sein ›versöhnendstes‹ Werk nannte, für die höchste Reife des Alters aufgespart habe: ›ich weiß, was ich weiß und was darin ist‹. Viel erging er sich mit Joukowsky in Mitteilungen und Gesprächen über Musik und Malerei, indem er die Technik der Instrumentation damit verglich und die Malerei, von welcher z.B. die Griechen nichts gewußt, als seiner [555] Kunst am nächsten kommend betrachtete. Ein gemeinschaftlicher Besuch des Museums, mit der ganzen, Familie, wobei das liebliche Meisterbild Hans Memlings als reizende Spielerei sein Wohlgefallen erregte, vor allem aber der griechische Widder (aus Syrakus stammend) ihn entzückte, endete leider mit einer leichten Halsentzündung. Er wünschte das Ende seiner Arbeit herbei; sie quäle ihn und er fürchte zu stark zu instrumentieren. Die Partiturseite mit den Harfen (Parsifal, die Stufen zum Weihetisch besteigend) griff ihn sehr an, und noch an einem der nächsten Abende unterhielt er sich mit Rubinstein viel über die Harfenstimmen in seinem Werke. ›Mein Geburtstag, der 1./13. Januar‹,17 erzählt Joukowsky, ›wurde mit Champagner gefeiert. Vor Ende des Abendessens ging Wagner in sein Arbeitszimmer; nach einiger Zeit kam er zurück und hatte die Partitur des »Parsifal« in der Hand. Feierlich verkündigte er uns: »Ich habe soeben – an Ihrem Geburtstage – meinen ›Parsifal‹ beendigt«. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, dies, da er so nahe am Ziel war, gerade an dem bestimmten Tage zu tun. Zu Tische hatte er auf das herzlichste den Toast ausgebracht und darin nochmals ernst erwähnt, daß er »bei dieser, wie bei allen seinen Arbeiten, gefürchtet habe, durch den Tod unterbrochen zu werden«‹ (vgl. S. 538).

Das erste, was er nach der Vollendung seiner Arbeit tat, war, daß er an den jungen Brandt schrieb, um ihm an Stelle seines Vaters die Leitung des Maschinenwesens zu übergeben. ›Ich mußte dieses wehmütige Geschäft aufschieben, da meine Verfassung derart ist, daß meine liebe, Frau zurzeit schon Bedenken trug, die Nachricht vom so schrecklich plötzlichen Tode Ihres teuren Vaters überhaupt mir mitzuteilen: ein Zufall enthüllte mir dieses Schicksal! Gewiß verstehen Sie mich und verzeihen Sie mir, wenn ich meine Empfindung hierüber nicht in Worte fasse. Ich stehe im dritten menschlichen Lebensalter, und sah zwei Generationen Mitlebender bereits vergehen: in Ihrem Vater verlor ich das letzte Glied jener zweiten Geschlechtsreihe, das mich mit dem Erlebten noch verband. In Ihnen begrüße ich nun die dritte Generation, der ich mein reifes Leben zur Weiterführung übergeben habe. Seien Sie willkommen! Ich nehme an, daß Sie bereit dazu sind, das letzte Werk des gemeinsamen Wirkens Ihres Vaters mit mir fortzuführen.‹18 Auch erfüllte er einen Wunsch Rubinsteins, dessen längeres Verweilen am Orte auf Schwierigkeiten von seiten seines Vaters gestoßen war. Schon am 22. Dezember hatte ihm dieser seine Not geklagt und die Meinung ausgesprochen, ein einziges Wort des Meisters an seinen Vater würde die Lage bessern. Wagner war gern dazu bereit, kam aber nicht gleich dazu, und mitten in seiner Arbeit, die sich allzu langsam ihrem Abschluß näherte, war die Aufgabe ihm beunruhigend [556] und daher unwillkommen; selbst jetzt beklagte er sich ein wenig, daß man derlei von ihm verlange. Dennoch trat er nun warm für den jungen ist ein mustergültiges Beispiel für die Betätigung seines wahrhaft väterlichen Interesses an dem jungen Manne. Der Vater hatte ihn zum Klavierspieler in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes ausbilden lassen, damit er sich seinen Lebensunterhalt als Konzertvirtuose gewinnen oder sein Talent anderweitig auf den Erwerb einer praktischen Lebensstellung verwenden sollte. An diesen Wunsch knüpft der Meister in seinen Darlegungen mit den Worten an: ›Josephs Bemühungen, Ihren Wünschen nachzukommen, sind so redlich gemeint gewesen, als sie durch sein Temperament von Erfolglosigkeit waren. Ohne Zweifel liegt hiervon ein Grund in gewissen krankhaften Dispositionen, welche jedoch, wie ich mich davon überzeugt zu haben glaube, zu dem bedauerlichsten Exzeß führen dürften,19 wenn er in jenen Bemühungen obstinat auszudauern genötigt würde. In ihm ist die Erkenntnis des Wesens und des Wertes wahrer Kunst zu einem wahrhaft religiösen Glauben erwachsen, welcher bis zu leidenschaftlicher Empfindlichkeit in seiner Seele wurzelt. Gewähren Sie ihm widerspruchslos und sicher die bescheidenen Mittel zu einer außerordentlich nüchternen und mäßigen Lebensführung, so erhalten Sie ihn wohlgemut im Dienste einer edlen Sache, welchem leider nur sehr wenige sich frei und ungebunden widmen können. Hiergegen wage ich nun wiederum zu fragen, welch edlere Verwendung reichliche, wenn auch nur durch großen Fleiß erworbene Vermögensverhältnisse überhaupt darbieten können, als zur Zeit, da, wo besondere Begabungen sich ungestört zu entwickeln und zu bewähren haben, einen Menschen, einen Sohn in den Stand wahrer, Freiheit zu versetzen?‹20 Bei alledem mußte der Meister doch mit Bedauern wahrnehmen, daß ein in seiner Weise so ausgezeichneter Mensch, als es Rubinstein war, ihm im größten Teil seines Wesens so unassimilierbar fremdartig erscheinen mußte. Ja, er sprach es aus, daß er ihn am liebsten nicht mehr um sich hätte, trotzdem er das Beste von ihm hielte.

Noch eine weitere briefliche Kundgebung von Belang fällt zwischen diese beiden zuletzt erwähnten: sie ist vom 16. Januar datiert und an Angelo Neumann gerichtet. Diesem war zwar seine geplante Pariser ›Lohengrin‹-Unternehmung mißglückt, indem die Verhetzung des deutschen Unternehmens in Paris in der chauvinistischen Presse derartige Dimensionen angenommen hatte, daß an eine Verwirklichung derselben nicht mehr zu denken war und die französische [557] Regierung sich bemüßigt sah, aus, Furcht vor feindseligen Demonstrationen ein striktes ›Verbot‹21 dagegen zu erlassen, was der ganzen Angelegenheit eine so ungebührliche Wichtigkeit verlieh, daß sie für den Meister und die Seinen den Scherz des Tages bildete. Dafür war nun dem unermüdlichen Manne die bereits (S. 550) erwähnte Leipziger ›Tristan‹-Aufführung so geglückt, daß er nicht wenig darauf stolz war. Merkwürdigerweise hielt er trotzdem mit Zähigkeit an einem Pariser Unternehmen fest, wenn nicht speziell für den ›Lohengrin‹, so doch für sein ›wanderndes Richard Wagner-Theater‹, so daß ihm der Meister unterm 16. Februar mit Bezugnahme auf diesen Punkt erwidern mußte: ›In betreff von Paris wünschte ich wohl, daß Sie die Sache ganz und gar aufgäben, und wahrlich begreife ich kaum, wie ich es über mich brachte, für Paris Ihnen Ihren Willen zu tun. Hätten Sie nicht bereits Kosten darauf verwandt, oder wüßte ich, wie Sie das auf Paris Verwendete anderswo sich vergüten könnten, so würde ich Sie ernstlich ersuchen, unseren Kontrakt gänzlich zu annullieren, wogegen ich dann der Commission d'auteurs dramatiques, deren Mitglied ich bin, anzeigen würde, daß ich ein für allemal zu einer theatralischen Aufführung eines meiner Werke, in welcher Sprache es sei, meine Einwilligung versage. Sie sind zu jung, und am Ende doch noch zu unerfahren, um klar zu verstehen, welche Bewandtnis es mit meiner Stellung zu diesem arroganten Kultur-Zentrum von Paris hat. Mich – ekelt es einfach vor jeder Berührung damit! – Ich fürchte, ein Gleiches wird Ihnen erst nach widerwärtigen Erfahrungen ankommen.‹22

[558] Die Länge der Abende und Nächte stimmte ihn zuweilen melancholisch: jedesmal wenn die Sonne hinter dem Monte Graio sich verstecke, sagte er, fiele es ihm schwer aufs Herz. ›Ich gedenke das kommende Frühjahr‹, schrieb er am 17. Januar an Feustel, ›noch zu Ausflügen in edle Klimate zu benutzen, da mich Palermo – trotz all seiner Vorzüge – nicht andauernd festzuhalten vermögen wird, weil ich hier zu einer Lebensweise des Hotels gezwungen bin, die mir endlich sehr lästig fällt.‹23 So hatte er wiederholt an Spanien gedacht und auch das Nilprojekt kam durch einen Brief seines getreuen spanischen Anhängers Joaquin Marsillach24 aus Luxor gleichzeitig wieder aufs Tapet. Er wollte durchaus Europa auf einige Zeit ganz verlassen und den Nil bereisen, – um zu sehen, ›wo Barthel den Most holt‹. Doch schreckte es ihn ab, im Reisehandbuch zu lesen, daß der dortige Aufenthalt für Unterleibsleidende ungünstig sei. Unter den kleinen Erlebnissen dieser Januartage, die seine Geduld in Anspruch nahmen, ist des Besuches eines französischen Malers Auguste Renoir zu gedenken, dem er am 15. Februar eine halbstündige Sitzung widmete. Dieser Künstler, der Schule der Impressionisten mit all ihren ausgesprochenen Eigentümlichkeiten angehörig, hatte den Winter 1881/82 in Neapel zugebracht und dabei von Wagners Verweilen in Palermo gehört. ›Er knüpfte Bekanntschaft mit einem Verehrer Wagners an, der damals bei dem berühmten Komponisten weilte,25 und ließ sich durch diesen dem Meister vorstellen Wagner war im allgemeinen dem Portraitiert- und Photographiertwerden äußerst abhold; nachdem er sich mit Renoir aber längere Zeit über Paris und die dortige Wagner-Gemeinde unterhalten hatte, vermochte er dessen Bitte um eine Sitzung nicht abzuschlagen. Renoir ging eifrig an die Arbeit, nach einer halben Stunde aber war Wagner vom Sitzen so ermüdet, daß die Sitzung abgebrochen werden mußte.‹26 Von dem sehr wunderlichen blau-rosigen Ergebnis dieser halben (?) Stunde, das erst sehr viel später das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, ist bloß die drastische Äußerung des Meisters auf uns gekommen: ›es sehe aus, wie der Embryo eines Engels, als Auster von einem Epikuräer verschluckt‹. Auch aus einem bald darauf von Joukowsky unternommenen Portrait-Versuch ist etwas für Welt und Nachwelt Bedeutendes nicht geworden, so leidenschaftlich der Gedanke daran diesen, dem Meister so innig vertrauten und ergebenen Künstler auch weiterhin noch beschäftigt hat. Bekanntlich ist es auch einem so auserlesenen Portraitisten, wie Lenbach, nicht geglückt, über jene eine Skizze [559] hinaus ein wirklich gültiges, ja auch nur annähernd ähnliches Abbild dieser bewegten Züge, dieses mächtigen Kopfes zu geben. Von der erwähnten Skizze eines Liszt-Bildnisses (S. 552) fand Wagner, daß dieselbe, herrlich und ähnlich, wie sie sei, doch einen Moment, eine Aktion darstelle, nicht die vollständige Ruhe; nach seiner Ansicht müsse ein Portrait gerade diese wiedergeben.

Nicht leicht wurde ihm der Abschied von dem liebenswürdigen jungen Freunde, als für ihn der unvermeidliche Moment des Scheidens gekommen war. Am liebsten wäre dieser, ohne Abschied, mit Hinterlassung eines Briefes davongegangen; aber der Meister erriet die Absicht und sprach von allerlei bösen Anzeichen, die er gegen die Abreise deutete, so daß Joukowsky, von dem Dämonischen erfaßt, noch einige Tage im Hotel des Palmes verweilte. Als dann die Frage seines Fortganges eine Zeitlang mit Stillschweigen behandelt worden war, brach aber der Meister los: warum man ihm nichts sage? Es sei eine falsche Schonung. Es kam zu einer ruhigen Verständigung über die Notwendigkeit seiner Rückkehr. Diese wurde zunächst vom Ausfall einer telegraphischen Anfrage bei der Frankfurter, Firma Schwab und Plättung abhängig gemacht, ob sie wirklich etwas zum Zeigen bereit hätten? Die Antwort lautete: ›sämtliche Probesachen fertig‹. Nun war für den ›Pflichtgetreuen, Ruhescheuen‹, wie ihn der Meister selbst in einem ihm nachgesandten gereimten Telegramm bezeichnete,27 kein Haltens mehr; er wurde am 22. Januar durch die ganze Familie auf das Schiff gebracht und unter vielem Winken der Taschentücher in die Heimat entlassen. Nicht ganz so hastig zwar, wie er gekommen, machte er den Rückweg, da er sich nun doch wenigstens für zwei Tage der Erholung und des Ausruhens in Rom anmeldete, um Liszt und Daniela zu begrüßen;28 dann fuhr er unaufhaltsam in die Einsamkeit von Bayreuth zurück, um an den Vorbereitungen zum ›Parsifal‹ weiterzuarbeiten. – Liszt seinerseits hatte seine Abreise nach Pest auf die letzten Tage des Januar festgesetzt. Die Fürstin tat alles, um diese Winterreise zu verhindern, von der sie für Liszts Gesundheit fürchtete; sie verschmähte zu diesem Zwecke sogar das Mittel nicht, ein falsches Gerücht von einer angeblichen schweren Erkrankung Liszts in die Zeitungen zu bringen, die es von einem [560] Blatt zum anderen nachdruckten. ›Aber‹, so berichtet A. v. Schorn, ›solche Machinationen hatten auf Liszt absolut keinen Einfluß; höchstens ärgerte er sich. Er hatte bestimmt, daß er Ende Januar in Pest eintreffen würde – und dabei blieb es: er reiste am 29. Januar ab Fräulein von Bülow, Emil Ollivier, dessen Frau29 und ich brachten ihn zur Bahn; seine Gesundheit machte uns momentan keine Sorge. Am 30. fuhr ich mit Daniela nach Neapel; dort erwartete sie eine sichere Begleitung, die sie nach Palermo brachte. Den letzten Abend unseres Beisammenseins verbrachten wir in dem Hause des Arztes Dr. Schrön, der mit Wagner befreundet war und wo auch ich freundliche Aufnahme fand.‹30

Ihre Ankunft in Palermo nach so langer Entbehrung erregte die allgemeinste, Freude: sie war Denen wieder gegeben, zu denen sie gehörte. Allein sie traf mitten in einen Umzug: das Hotel des Palmes, die Stätte, wo ›Parsifal‹ vollendet worden war, wurde soeben gerade zugunsten einer anderen Niederlassung aufgegeben. Um dies zu erklären, müssen wir etwas zurückgreifen. Wir hatten bisher nur Gelegenheit, die Umstände hervorzuheben, mit denen man während des vierteljährigen Aufenthaltes daselbst zufrieden sein konnte: aber seit Anbeginn gab es leider auch Anlässe genug zum Gegenteil, und Umzugsgedanken hatten sich während der ganzen Zeit nur allzu lebhaft in ihm geregt. Die definitiven Bedingungen mit dem Inhaber Herrn Ragusa waren erst vierzehn Tage nach der Ankunft gemacht und dann erst die eigentlichen Einrichtungen getroffen worden, wie sie für einen dauernden Aufenthalt einer Familie notwendig sind; bis dahin hatte man sich – ohne Erfolg – nach mancherlei anderen Wohnungen umgesehen. Natürlich hatte das Hotelleben für den Schöpfer des ›Parsifal‹ unendlich viele kleinere oder größere Beschwerden; es kam vor, daß nächtlich Ankommende Geräusch erregten und er gezwungen war, aufzustehen und Ruhe zu gebieten. Oder es war mit den Morgenbädern, nach denen sich ohnehin leicht sein Brustkrampf einstellte, etwas nicht in Ordnung. Noch schlimmer war es, als eines schönen Tages oberhalb seines Zimmers durch irgend einen Hotelgast Musik gemacht wurde. Und da es sich immer um neue Durchreisende mit ihren Gewohnheiten handelte, waren solche Störungen von sehr wechselnder Natur und daher schwer zu vermeiden. In den letzten [561] Tagen von Joukowskys Anwesenheit trug es sich zu, daß man eines Abends im Salon von Frau Wagner versammelt war, als die Nachbarn, ein Mann und eine Frau aus Amerika, geistliche Lieder zweistimmig zu singen begannen. Zuerst erregte dies viele Heiterkeit, namentlich da der Mann seinen Baß sehr fehlerhaft sang; allmählich rührte es fast und war doch eine merkwürdige Zugabe zu den teuer bezahlten Räumen! Vielleicht von allem das Unangenehmste, am peinlichsten Empfundene war der Umstand, daß der Mitredakteur eines viel verbreiteten, an sich nicht unfreundlich gesinnten Berliner Blattes, sich zur Pflege seiner Gesundheit in demselben Hotel des Palmes niedergelassen hatte und nun jede Einzelheit im täglichen Leben des Meisters an seine Zeitung telegraphierte, woraus dann wieder einmal die unterhaltendsten Anekdoten – leider durchaus auf Kosten der Wahrheit und Schicklichkeit – zum Amüsement der Berliner Lesewelt hervorgingen. Anfangs erfuhr der Meister davon nichts, dann gingen aber diese Nachrichten durch Abdruck sogar in das ›Bayreuther Tagblatt‹ über, und nun fing es an, ihn neben allen anderen Hotelbeschwerden lebhaft zu verdrießen, hauptsächlich um seiner Bayreuther Mitbürger willen. Er wollte diesem Unfug selbst durch eine Zuschrift entgegnen, dann dem ›Bayreuther Tagblatt‹ sein Abonnement kündigen, hielt es endlich aber doch nach aller Erfahrung für das beste: nichts zu tun! Nur an Freund Groß wandte er sich mit der Klage, wie ihm zumute sein mußte, an einem Orte heimisch zu sein, wo dergleichen möglich, ja geduldet sei.31 Recht ärgerlich stimmten auch die übermäßigen Forderungen des Wirtes; die Abneigung gegen das Hotelleben war sehr im Wachsen, und da Herr Ragusa auf des Meisters Einspruch gegen verschiedene Posten, die auf sein Ersuchen ganz gestrichen werden sollten, nur ein Minimum ablassen wollte, ließ er (durch Schnappauf) zwar die ganze Rechnung zahlen, sprach dann aber kein Wort mehr mit ihm. Graf Tasca nahm an diesen Sorgen freundschaftlichen Anteil; diese oder jene Villa wurde daraufhin gemeinsam in Augenschein genommen, erwies sich aber meistens beim ersten Blick als einerseits viel zu großartig, andererseits zu verkommen. Kurz vor Joukowskys Abreise gab es – immer mit dem gleichen Hintergedanken – eine schöne Ausfahrt nach der Bagaria (Bagheria) mit ihren verödeten palastähnlichen Landhäusern sizilianischer Großen, die hier, von früheren Glanzzeiten her, noch gruppenweise zusammenstehen: der Meister nebst Gemahlin, die Kinder und Joukowsky in Begleitung des Grafen Tasca und seines Schwiegersohnes, des Fürsten Gangi. Die Partie glückte vollständig, der Blick vom Palazzo Valguarnera aus entzückte und erschien als das Schönste, was man bisher noch [562] gesehen. Das Mittagessen im Hause des Fürsten war sehr angenehm; dem Meister wurde bei Tisch von einem Advokaten ein Toast in deutscher und ein solcher in italienischer Sprache gebracht, er selbst brachte die Gesundheit der Fürstin aus und umarmte beim Abschiede auf das herzlichste seine freundlichen Wirte; und trotz eines kleinen Abenteuers auf der Heimfahrt durch einen Achsenbruch war alles ganz nach Wunsch verlaufen. Nur die drängende Hauptsache, der eigentliche Zweck des ganzen Ausfluges, war für diesmal unerledigt geblieben. Bereits war denn auch – für den Tag nach Joukowskys Abreise – eine erneute Fahrt nach der Bagaria ins Auge gefaßt, um eine bestimmte Villa daselbst zu besichtigen: da erschienen um die Mittagsstunde die beiden liebenswürdigen Gönner, Graf Tasca und Fürst Gangi, letzterer mit dem Anerbieten eines seiner eigenen Landhäuser in schöner Lage, das soeben leer stand, mit angenehmem Garten und prächtiger Terrasse, auf dem Wege nach Monreale, in unmittelbarer Nachbarschaft der Tascaschen ›Villa Camastra‹. Dieses freundschaftliche Anerbieten schien der Situation so angemessen, daß es, nach erfolgter Besichtigung des Hauses, trotz allerlei Unvollkommenheiten desselben, mit Dank akzeptiert wurde und die Kündigung im ›Hotel des Palmes‹ sofort erfolgte, – natürlich nicht ohne daß der Hotelbesitzer die vorzeitige Kündigung der noch für zwei weitere Monate gemieteten Räume sich mit einer, seinen bisherigen Forderungen entsprechenden Entschädigung vergüten ließ!

Wir beschließen diesen Abschnitt unserer Erzählung mit einem scherzhaften Vorfall aus diesen Tagen. Des Meisters Gemahlin hatte mit ihrer soeben angekommenen Tochter einige Besuche bei den neugewonnenen palermitanischen Freunden und Bekannten zu machen und sich zum Abschluß dieser Tournee eine Fahrt nach dem Garten Florio mit dem Uhu ausersehen, den man zuletzt in Gemeinschaft mit Joukowsky aufgesucht Sie fand ihn nicht mehr an seinem Platze und erfuhr, der schöne Vogel sei tot. ›Er hat sich nach uns gesehnt‹, war der erste Ausruf Wagners, als er davon vernahm; dann sagte man sich, wie elend der Schöne es doch wohl als Gefangener in seiner Einsperrung müsse gehabt haben. Es vergingen einige Tage, da kam Frau Wagner der Gedanke, das edle Tier, dessen Anblick dem Meister so viel Vergnügen bereitet, wenn seine Überreste noch wohlerhalten wären, für ihn ausstopfen zu lassen, um es als dauernde Erinnerung nach Bayreuth mitnehmen, und sie schickte Schnappauf als Vermittler aus. Die erhaltene Auskunft lautete ganz wider Erwarten: nicht der Uhu, sondern Herrn Florios Schwiegermutter sei gestorben. ›Es tue ihm sehr leid‹ (›mi dispiace molto‹), habe der Diener bei dieser Berichtigung gesagt.

In die ersten Tage des Februar fielen alle die unvermeidlichen Umständlichkeiten der Übersiedelung: von hier ab tragen die Briefe des Meisters die neue Adresse: Piazza dei Porazzi, Villa del Principe Gangi. Und es [563] begann nun für ihn eine reichliche Korrespondenz nach allen Richtungen hin, seinem großen Werk aus der Ferne die ihm nötige Grundlage zu verschaffen, um im Sommer die Proben beginnen zu können. Die Räume, in denen ›Parsifal‹ vollendet wurde, die weihevollen Klänge des dritten Aktes bis zum letzten aufsteigenden Ausklang ihre letzte endgültige Gestalt annahmen, standen nun leer und verwaist. Die Unbequemlichkeiten und mannigfachen Störungen, denen sein Schöpfer darin ausgesetzt gewesen, waren nicht gering; die Erinnerungen daran aber schließlich doch fast nur angenehme und erfreuliche. Bei rauhem Wind wurde der Wagen bestiegen, der ihn mit den Seinigen in die neue Örtlichkeit überführen sollte. ›Was zahlen Sie mir dafür, daß ich ausziehe?‹ sagte er scherzend zu Herrn Ragusa, und dieser erwiderte prompt: ›Ich zahle etwas, wenn Sie bleiben.‹

Fußnoten

1 Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 242 ff.


2 Vgl. z.B. Band II des vorliegenden Werkes, S. 113 in bezug auf den ›Tannhäuser‹.


3 Gleichwohl sprach er später von einer Überschätzung der Normannen durch Gobineau, da sie doch nur das vorhandene Schöne zu ihrem Vergnügen benutzt und nicht eigentlich geschaffen hätten.


4 Die Kaktusfrüchte (Figolini) sind in Sizilien ein Hauptnahrungsmittel des gemeinen Volkes; doch muß man – aus Gründen! – sich vor einem zu reichlichen Genuß derselben hüten! (Förster-Wagner, ›Handbuch für Reisende in Italien‹, S. 613.)


5 Schopenhauers schwarzer Pudel Atma.


6 Ursprünglich sarazenisches Lustschloß, umgebaut 1181 von Wilhelm II., in dessen Innerem noch die Überreste einer edlen Dekoration maurischen Stiles erhalten sind, einst von einem wohlgepflegten großen Park mit Fischteichen umgeben, gegenwärtig als Kaserne benutzt.


7 Das gelbe würfelförmige Gebäude la Zisa, von dessen flachem Dache man das herrlichste Panorama auf Palermo und Umgegend hat, ist ebenfalls arabischen Ursprunges: auf dem Grunde eines Sarazenenschlosses legte Wilhelm I. diesen Bau an, von dem nur noch das Brunnenhaus und im oberen Stock ein Gewölbe mit Taubennestern in seiner ursprünglichen Gestalt erhalten ist.


8 Brieflich an Dr. Förster, siehe Neumanns ›Erinnerungen‹, S. 228.


9 Siehe die ausführlichen Berichte darüber in Neumanns ›Erinnerungen‹, S. 201/208.


10 Briefsammlung: ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 335.


11 Vgl. Angelo Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 215/16.


12 Und wieviel Lebensgefahr lag nicht allein in der Bauart der Theater an sich! Auf diesen Umstand wies damals mit lebhaftem Nachdruck Hans Herrig in einem Artikel des ›Deutschen Tageblattes‹ hin. ›Ehe nicht mit dieser Bauart vollständig gebrochen wird, kann es nicht anders werden. Bisher ist dies nur an einem einzigen Orte geschehen: nämlich in Bayreuth. Dort hat der Zuschauerraum, wenn ich nicht irre, 26 Ausgänge, jeder umfaßt nur eine geringe Zahl von Bänken, und von diesen wiederum nur die Hälfte. Hat man diese Ausgänge hinter sich, so braucht man nur noch einen geringen Vorraum zu überschreiten und ist sofort im Freien. Außerdem wird die Bühne von zwei hohen Wassertürmen flankiert, die es ermöglichen, das ganze Theater binnen fünf Minuten unter Wasser zu setzen. Die erste Bedingung verständigen Theaterbaues scheint uns demnach die zu sein, daß man das bis nach hinten reichende Parkett und die an die Wände geklebten »Ränge« vollständig aufgibt und zur amphitheatralischen Form der Alten zurückkehrt ... Daß eine Katastrophe, wie die des Wiener Ringtheaters bei einer solchen Einrichtung unmöglich wäre, wird jeder zugeben‹ usw. usw.


13 Wen? das konnten wir nicht erfahren, obgleich der Bericht Joukowskys über diesen Moment in zwei verschiedenen, im Wortlaut wenig abweichenden Fassungen vor uns liegt, einmal nach seinem unmittelbaren Diktat und ein zweites Mal in nachträglicher schriftlicher Fixierung seiner mündlichen Erzählung.


14 Vgl. ›Bayreuther Blätter‹, 1881, S. 365/68.


15 Band V des vorl. Werkes, S. 24. 275.


16 Band I des vorliegenden Werkes, S. 151.


17 Nämlich nach russischer Zeitrechnung der 1. Januar, nach dem allgemein herrschenden gregorianischen Kalender der 13. Januar.


18 ›Bayreuther Briefe‹, S. 305 (Nr. 228).


19 Es ist, als wäre das tragische Ende des jungen Künstlers hiermit auf das hellste, aus völligem Durchschauen seiner Charakteranlage, von dem großen Seelenkünder vorausgesehen!


20 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 336 (wo übrigens dieser Brief rätselhafterweise das Datum des 22. Dezember 1881, anstatt des 22. Januar 1882 trägt).


21 ›Die französische Regierung hat, wie der »Figaro« als »grande nouvelle« mitteilt, ein Verbot gegen die vom Direktor Angelo Neumann im Théâtre des Nations geplante Aufführung von Wagners »Lohengrin« in deutscher Sprache und mit einer Besetzung durch deutsche Künstler erlassen. Der »Figaro« fügt hinzu, das Verbot sei erfolgt, nachdem Besprechungen zwischen der französischen Regierung und dem deutschen Botschafter stattgefunden, läßt also dem Zweifel daran, daß demselben eine Furcht vor nationalgehässigen feindlichen Demonstrationen gegen die Deutschen gelegentlich der Aufführungen zugrunde liege, keinen Raum mehr übrig. Einer solchen Tatsache gegenüber erscheint die Rücksicht, welche wir bisher auf die Neutralität des Gebietes der Kunst genommen, eine übel angebrachte zu sein. Das Verbot der deutschen »Lohengrin«-Aufführung muß französischerseits nicht sowohl als eine Demonstration gegen eine humane Auffassung künstlerischer Rivalität der Nationen gelten, vielmehr als eine mit Eklat in Szene gesetzte Aktion des Dauerhasses und der Unversöhnlichkeit. Und speziell ist diese gegen Wagner, als den Schöpfer der nationalen deutschen Oper gerichtet, wie auch gegen diesen Komponisten bei verschiedenen Gelegenheiten (wir erinnern nur an die Pasdeloupschen Konzerte) lärmende Demonstrationen in Szene gesetzt worden sind, deren Motive sich nicht verkennen ließen ... Daß dieser Protest durch die Verhandlungen mit dem deutschen Botschafter einen offiziellen Charakter angenommen hat, verleiht demselben eine höhere, politische Bedeutung und bringt alle Zweifel über die Motive desselben – welche der »Figaro« ja allerdings nicht näher bezeichnet – zum Schweigen‹ (›Mannheimer Journal‹ v. 22. Dezember 1881).


22 Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 216.


23 ›Bayreuther Briefe‹, S. 307.


24 Dieser hatte ihn noch vor der Abreise nach Italien, am 14. September v. J., in Bayreuth besucht, und ein etwaiger Aufenthalt in Sevilla war mit ihm eingebend durchgesprochen worden.


25 Es ist uns nicht gelungen, festzustellen, wer unter diesem ›Verehrer Wagners‹ gemeint sei, – man könnte an Joukowsky denken, doch ist uns über Beziehungen dieses letzteren zu dem französischen Kollegen nicht das Geringste bekannt geworden.


26 ›Die Zeit‹ (Wien), Nr. 1735 vom 25. Juli 1907.


27 Wir sahen es noch vor wenigen Jahren in der kostbaren Mappe, in welcher der Empfänger seine handschriftlichen und telegraphischen Erinnerungen an Wagner aufbewahrt.


28 Von diesen zwei Tagen berichtet A. v. Schorn in ihren Erinnerungen. ›Liszt machte mir eine so enthusiastische Beschreibung von ihm; Daniela freute sich so, ihn wiederzusehen, daß ich ganz neugierig wurde, den Sohn des alten Freundes meiner Eltern kennen zu lernen. Ich habe Liszt selten so unbeschreiblich liebenswürdig gesehen, wie gegen Joukowsky. Es war, als wenn der so viel jüngere Mann ihm mit seinem Besuch eine Ehre erwiese. Ich konnte das damals gar nicht begreifen. Später hat es mich immer sehr erfreut und gerührt, denn es war nur ein Zeichen, wie hoch Liszt Joukowskys Charakter stellte. Die zwei Tage, die er in Rom zubrachte, waren wie Sonnenschein, der in eine dunkle Stube fällt‹ (›Zwei Menschenalter‹, S. 412/13).


29 Olliviers erste Frau, Liszts Tochter Blandine, war längst gestorben; er war zum zweiten Male verheiratet und mit seiner Frau nach Rom gekommen, um Studien zu einem Werk über die Sixtinische Kapelle zu machen. Mit Liszt und der Fürstin blieb er befreundet, mit letzterer stand er in regem literarischen Verkehr. Es war während dieses seines römischen Aufenthaltes, daß er mit dem Grafen Gobineau zusammenkam und dieser sich ihm gegenüber mit größter Ruhe als Verfasser der ›Renaissance‹ verleugnete, – ein originellster Zug, der Wagner, als er davon erfuhr, das größte Vergnügen bereitete und ihn auf allerhand ähnliche Züge des Grafen brachte.


30 A. v. Schorn, a.a.O, S. 414.


31 Und in den uns zur Verfügung gestellten Aufzeichnungen Humperdincks finden wir unterm 2. Mai 1882 (nach inzwischen erfolgter Heimkehr), anläßlich einer Abendgesellschaft, an welcher auch der Bürgermeister teilnahm, die kurze hierhergehörige Notiz: ›Meister empört über Gießel und sein »Bayreuther Tagblatt«.‹


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 536-565.
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