15. op. 118. Intermezzo Es-moll

[551] von ***


Die träge Welle leckt den müden Strand,

Und unterm Meeresnebel gähnt der Wind

Verschlafen hin zum blassen Küstensaum. –

Und regungslos am blassen Küstensaum,

Als hielt' die Schildwach' er am eignen Grab,

Ein Sterbender des Daseins Ford'rung löscht.

Das Meer des Lebens hat ihn ausgespie'n.

Ihm raunt der Tod ins Ohr: »Du welker Tor,

Sieh deiner Tage stolz geträumten Traum

Zerrinnen in der nächt'gen Wellen Schaum!

Er schwindet, nur der Irrtum bleibt zurück.«

Der Greis erbebt. Die letzte Träne rinnt,

Sein Sterbeseufzer wird zum Hülfeschrei:

»Laß Gott, mein Gott, nicht Wahn die Tugend sein!

Wofür, o Herr, hätt' ich entsagt? gekämpft?

Das Opfer dürft' den Opfernden verhöhnen?«

Jäh stockt das Wort im Morgenrosenglanz,

Der leuchtend sich der dunklen Nacht vermählt;

Der Himmel flammt, entzückt. Das Meer erbebt.

Von Osten schallt mit schwellender Gewalt,

Hinbrausend ob der Wogen Orgelton,

Ein Siegesjubelsang. Posaunend wirst

Der Sturm sein schmetterndes Hallelujah

In donnernden Akkorden ehern drein:

»Niemals, o Mensch, war eine Tugend Wahn,

Die zur Vollendung Korn für Korn gereist,

Das Laster nur hat sich allein gelebt!«

Der Alte lächelt, nickt und zieht hinab

An Todes Hand ins ew'ge Land des Schweigens.

Die Welle leckt am nächtlichen Gestade

Den müden Strand. Und unterm Nebel zieht

Der Wind verschlafen hin zum Küstensaum. –

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915, S. 551-552.
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