2. Sage vom Wiedehopf.

[322] In der Sage von der Königin von Saba spielt der Wiedehopf eine Hauptrolle. Sie wird im zweiten Targum zum Buche Esther I, 2 in folgender Weise erzählt:


[322] Auf David folgte sein Sohn Salomo. Der Heilige (gelobt sei er) gab ihm die Herrschaft über die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels und über Schedim, die Geister und die nächtlichen Dämonen. Er verstand auch die Sprache aller, und sie verstanden seine Rede [hier folgt die Berufung auf 1. Kön. 5, 13]. Und wenn Salomos Herz wohlgemut war vom Weine, befahl er vor ihn zu bringen die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels und die Schedim, Geister und Dämonen ..., und die Schreiber des Königs riefen sie bei ihren Namen, und alle versammelten sich und kamen herbei, ohne Fesseln und ohne Bande und ohne daß ein Mensch sie anführte. Und eines Tages wurde der Wiedehopf unter den Vögeln vermißt und war nicht zu finden. Da befahl der König voll Zorn ihn herbeizubringen und wollte ihn züchtigen. Da erschien der Wiedehopf vor ihm und sprach: O Herr, König der Welt, neige mir dein Ohr zu und höre meine Worte. Drei Worte sind es, daß ich mit mir zu Rate gegangen bin und einen Entschluß gefaßt habe; ich habe keine Speise gegessen und kein Wasser getrunken, um zuvor in der ganzen Welt umherzufliegen, denn ich sagte: Ist irgendwo ein Land oder ein Gebiet, das meinem Herrn, dem Könige, nicht unterworfen ist? Und ich schaute mich um, allüberall, und da fand ich eine Stadt, die Stadt Kitor genannt, im Lande des Sonnenaufganges. Der Staub ist dort wertvoller als das Gold, und das Silber ist gleich dem Kote auf den Straßen; die Bäume sind dort vom Urbeginn her gepflanzt, und sie trinken Wasser aus dem Garten Eden ... Ich habe dort aber eine Frau gesehen, die über sie alle herrscht, und Königin von Scheba wird sie genannt. Und wenn es dir gefallt, o mein Herr König, so will ich meine Lenden gürten wie ein Held und will mich aufmachen und nach der Stadt Kitor im Lande Scheba fliegen; ihre Könige werde ich mit Ketten fesseln und ihre Beherrscher mit eisernen Banden (nach Ps. 149, 8) und werde sie vor meinen Herrn, den König, bringen usw.


  • Literatur: Grünbaum, Neue Beiträge, S. 211.1

Diese jüdische Legende hat Mohammed sich zu eigen gemacht und in den Koran, Sure 27, aufgenommen. Auch in erweiterter Gestalt, mit allerlei Zierat versehen, ist sie bei den Mohammedanern im Schwange gewesen. So bringt Weil, Bibl. Legenden, folgende Erzählung:


Unter den Vögeln, deren Sprache er verstand, wählte sich Salomo den Hahn und den Wiedehopf als seine steten Begleiter, – den Hahn, weil sein Ruf bedeutete: Denket an den Schöpfer, ihr leichtsinnigen Menschen; den Wiedehopf, weil er durch die Erde wie durch ein Kristall sieht und ihm daher auf seinen Reisen stets den Ort angeben konnte, wo eine Quelle aufzugraben war, so daß es ihm nie an Wasser fehlte, weder zum Trinken, noch zu den vorgeschriebenen Waschungen vor dem Gebete. (228.)

Für seine Reisen ließ Salomo sich starke seidene Teppiche von den Genien weben, welche ihn und sein ganzes Gefolge nebst allen nötigen Küchengerätschaften und sonstigen Mobilien fassen konnten. Wenn alles, was mitgenommen[323] werden sollte, auf solchem Teppich darauf war, befahl er den acht Winden, ihn in die Höhe zu heben. Er setzte sich dann auf seinen Thron und lenkte die Winde, wie man Pferde am Zügel lenkt, nach jeder beliebigen Richtung hin. (242.)

Zu einer Pilgerfahrt nach Mekka, an der sich viele Israeliten beteiligten, benutzte Salomo einen Teppich, der eine Quadratmeile lang und ebenso breit war. Die Vögel mußten über dem Teppiche in geschlossenen Reihen fliegen, um die sich darauf Befindenden zu beschatten. (244.)2 Als Salomo wieder nach Jerusalem zurückkehren wollte, die Vögel ihre Flügel ausbreiteten und der Teppich sich in Bewegung setzte, bemerkte er ein Sonnenstreifchen auf demselben, woraus er schloß, daß irgend ein Vogel seinen Posten verlassen habe. Er rief daher den Adler zu sich und beauftragte ihn, alle Vögel bei ihren Namen zu rufen, um zu sehen, welcher fehle. Der Adler tat dies und kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß der Wiedehopf fehle. Salomo geriet in den heftigsten Zorn, um so mehr, da er bei dieser Reise durch die Wüste den Wiedehopf wegen seiner Eigenschaft, die tiefsten Quellen aufzufinden, am wenigsten entbehren konnte. »Schwinge dich in die Höhe,« sprach Salomo heftig zum Adler, »und suche den Wiedehopf auf und bringe mir ihn her, daß ich ihm zur Strafe alle Federn ausrupfe und ihn ganz nackt der Sonne aussetze, bis ihn das Ungeziefer der Erde aufgefressen.« – Der Adler flog himmelwärts, bis die Erde unter ihm einer umgestürzten Schüssel glich, dann ruhte er aus und sah sich nach allen Richtungen nach dem Wiedehopf um. Sobald er ihn von Süden her kommen sah, ließ er sich herab und flog ihm entgegen und wollte ihn zwischen seine Krallen nehmen. Der Wiedehopf beschwor ihn bei Salomo, ihn mit Schonung zu behandeln. »Du wagst es noch, Salomos Schutz anzuflehen,« versetzte der Adler, »möge deine Mutter dich beweinen! Salomo zürnt dir, denn er bat dich vermißt und geschworen, dich für deinen Ungehorsam schwer zu bestrafen.« »Führe mich nur zu ihm,« sprach der Wiedehopf, »ich weiß, er wird meine Abwesenheit entschuldigen, wenn er vernimmt, wo ich gewesen und was ich von meinem Ausfluge zu berichten habe.« Der Adler führte ihn vor Salomo, welcher mit grimmigem Gesichte auf seinem Richterthrone saß und ihn sogleich mit Heftigkeit an sich zog. Der Wiedehopf zitterte am ganzen Körper und ließ als Zeichen der Unterwerfung Schweif und Flügel bis zum Boden herabhängen. Als Salomo ihn immer fester packte, rief er: »Bedenke, Prophet Gottes, daß du auch[324] einst vor Gott Rechenschaft ablegen mußt, darum verurteile mich nicht, ehe du mich gehört.« »Womit kannst du deine Entfernung ohne meine Erlaubnis entschuldigen?« »Ich bringe dir Kunde von einem Lande und einer Königin, deren Namen du nie gehört, ich meine das Land Saba und die Königin Balkis« usw. (247.)


Eine solche Sage, phantastisch und poesievoll, wie sie ist, reizte zur ätiologischen Ausschmückung. Nun ist aber das Hauptmerkmal des Wiedehopfs sein Federbusch, den er in zwei stattlichen Reihen gleich einer Krone auf dem Kopfe trägt. Leicht drängte sich also der Gedanke auf, daß ihm dieser zum Dank für seine Dienste als eine Ehrenauszeichnung von Salomo verliehen worden sei. So hören wir denn in dem arabisch geschriebenen Werke des aus Jerusalem gebürtigen mohammedanischen Predigers Ezzo'ddin Mocadessi († 1280 n. Chr.) folgende Erzählung des Wiedehopfs:


»Ich war mit ihm (Salomo) auf seinen Reisen, wie er sich mühte, die Welt zu durchkreisen, und hatte den Brauch, ihm die Gewässer unter der Erde zu weisen. Als ich ihm dereinst eine Zeitlang war entschwunden, war ihm alle seine Macht entwunden, und er äußerte seinen Anhängern und denen, die mit ihm waren verbunden: Wie kommt's, daß ich den Wiedehopf nicht sehe? Ist er von denen, die davon gingen? Hart will ich ihn strafen, schlachten will ich ihn, wird er mir nicht deutliche Entschuldigung bringen ... Und als ich von Saba kam, mit einer Botschaft an ihn gesandt, und sprach: Ich weiß mehr, als was dir ist bekannt, da wurde er mehr noch von Zorn entbrannt und versetzte: Klein an Körper, groß an Sünde! Ist's nicht genug, daß du dich ließest vermissen! Mußt du nun auch behaupten, mehr, als ich, zu wissen? [Der Wiedehopf berichtet von der Königin, erhält von Salomo einen Brief, ihr zu überbringen, und kommt mit deren Antwort eilends zurück.] Er aber gab mir an seiner Seite den Stand; versetzte mich unter die, die er als Freunde erkannt;3... von seinen Ehrenkleidern wurde mir eine Krone gewährt, die ich bis dahin entbehrt4


  • Literatur: C.R.S. Peiper, Stimmen aus dem Morgenl. 1850, S. 241 f. (Auch bei Garcin de Tassy, Les oiseaux et les fleurs, 1821.)

[325] Eine selbständige Weiterentwicklung unserer Sage findet sich in der heutigen Tradition. Wie anders sie sich aber auch ausnehmen mag, es ist doch der Zusammenhang mit der Urform noch in mancherlei Einzelzügen zu erkennen. Man erzählt:


Einstmals, als der König Salomo auf Reisen war, wurde er arg von der Sonnenglut belästigt. Als er nun einen Schwarm Wiedehopfe vorbeifliegen sah, bat er sie, daß sie ein schützendes Bach bilden und die Strahlen der glühenden Kugel nicht durchlassen möchten. Der König der Wiedehopfe rief sofort sein ganzes Volk zusammen und ließ es als Wolke über König Salomos Haupte ziehen. Der König wollte sich für diesen Dienst dankbar erweisen und erbot sich, seinen gefiederten Freunden alles zu gewähren, worum sie bitten würden.

Einen Tag lang dauerte die Beratung, dann kam der König der Wiedehopfe, um die Bitte zu überbringen. Salomo sagte zu ihm: »Hast du auch wohl bedacht, was du erbittest?« »Ich habe es wohl bedacht,« erwiderte der Wiedehopf, »wir wünschen goldene Kronen auf den Köpfen zu haben.« Da antwortete Salomo: »Goldene Kronen sollt ihr haben, doch siehe, du bist ein törichter Vogel! Wenn aber einst böse Tage über dich kommen, und wenn du die Torheit deines Herzens erkennst, so stelle dich wiederum bei mir ein, und ich will dir helfen.« So ging der König der Wiedehopfe aus Salomos Hause mit einer goldenen Krone auf dem Haupte. Und alle andern Wiedehopfe hatten auch goldene Kronen, und sie wurden sehr stolz und hochmütig. Auch gingen sie gern an Seen und Teiche und spazierten an den Ufern entlang, damit sie sich wie in einem Spiegel bewunderten. Besonders aber tat sich die Königin der Wiedehopfe durch Stolz hervor, sie setzte sich auf einen Zweig und wollte nicht mehr mit ihren Vettern und Basen, den Immenvögeln, sprechen und auch nicht mit den andern Vögeln, die ihre Freunde gewesen waren, denn sie dachte: Das sind nur gewöhnliche Vögel, aber ich trage eine Krone auf dem Haupte.

Nun gab es aber einen Vogelfänger in der Nähe, der stellte Fallen auf für die Vögel und tat ein Stück von einem zerbrochenen Spiegel in seine Falle, und ein Wiedehopf, der herzuflog, um sich darin zu bewundern, wurde gefangen. Der Mann sah sich den Vogel an und bemerkte die leuchtende Krone auf dem Kopfe; da drehte er ihm den Hals ab und brachte die Krone zu Isaschar, Jakobs Sohn, dem Metallarbeiter, und fragte ihn, was das sei. Und Isaschar, Jakobs Sohn, sagte: »Das ist eine Krone aus Messing.« Und er gab dem Vogelfänger sechzig Pfennig dafür und sagte ihm, wenn er noch mehr fände, solle er sie ihm bringen und niemand etwas davon sagen.

Da fing der Vogelfänger noch mehr Wiedehopfe und verkaufte ihre Kronen an Isaschar, Jakobs Sohn.

Eines Tages aber begegnete er einem Mann, das war ein Goldschmied; dem zeigte, er ein paar von den Wiedehopfkronen. Und der Goldschmied sagte ihm, daß sie aus reinem Golde seien, und gab ihm für vier ein Talent Goldes. Als nun der Wert dieser Kronen bekannt geworden war, verbreitete sich ihr Ruhm überall, und im ganzen Land Israel konnte man das Schwirren der Bogen und Schlingen hören. Vogelleim wurde in jeder Stadt bereitet, und der Preis für Fallen stieg, so daß die Fallenmacher gute Geschäfte machten. Kaum zeigte ein Wiedehopf seinen Kopf, da war er auch schon erschlagen oder gefangen.

Die Tage der Wiedehopfe waren gezählt. Da erhob sich ein großes Trauern, und bald waren nur noch wenige übrig, um ihr grausames Schicksal[326] zu beklagen. Zuletzt machte sich der unglückliche König der Wiedehopfe auf den Weg und flog heimlich durch die ödesten Orte zum Hofe des Königs Salomo. Da stand er nun wieder vor den Stufen des goldenen Thrones und erzählte unter Tränen und Seufzen von dem Unglück, das sein Geschlecht betroffen hätte.

König Salomo aber sah den König der Wiedehopfe gnädig an und sagte: »Habe ich dich nicht vor der Torheit gewarnt, dir goldene Kronen zu wünschen? Eitelkeit und Stolz sind euer Verderben gewesen. Aber damit du ein Andenken an den Dienst behältst, den du mir geleistet, sollen eure goldenen Kronen in Federkronen verwandelt werden. So könnt ihr in Frieden auf der Erde leben.« Als nun die Vogelfänger sahen, daß die Wiedehopfe keine goldenen Kronen mehr auf den Köpfen hatten, hörten sie auf, sie zu verfolgen, und seitdem ist das Volk der Wiedehopfe gediehen und hat sich in Frieden vermehrt bis auf den heutigen Tag.


  • Literatur: Rolland, Faune pop. II, 103 aus Curzon, Visits to Monasteries in the Levant = Palmer, Leaves from a Word Hunters Note Book.

In dieser Erzählung ist nur der beschattende Vogelschwarm, die Dankbarkeit Salomos und die Verleihung der Krone aus der alten Sage übernommen. Die Königin aber fehlt, und die Krone wird nur als Lohn für das Beschatten gewährt, was freilich in keinem rechten Verhältnis zu dem Werte der Dienstleistung steht. Neu ist der Ersatz der goldenen Kronen durch Federkronen.

Eine interessante Parallele hierzu findet sich im Bogoslande, dessen Sagen vielfach moslemischen Einfluß zeigen:


In der Vorzeit hatten die Kühe Hörner und Hufe von purem Golde. Da machte alles Augen auf sie und betrachtete sie mit begehrlichen Blicken; Menschen, Tiere und jegliche Kreatur auf Erden trug nach ihnen Verlangen.

Da sprach Gott: »Mein Volk macht sich, einer dem andern, den Garaus. Was soll ich doch nur mit diesen Kühen machen? Einen Propheten werde ich hinabsenden. Sonst habe ich kein Mittel,« sagte Gott.

Er schickte also den Propheten hinab, und wie dieser hinsah, da verschwanden vor seinem Auge die Kühe.

»Mein Volk macht sich den Garaus,« sagte er und entfernte die goldenen Hörner und Hufe.

Er schuf dann diese gegenwärtigen Hufe und ebenso die jetzigen Hörner für die Kühe. Die früheren hatte er beseitigt. Nun hatten die Menschen voreinander Ruhe, ein jedweder kannte seinen eigenen Besitz und gab auf denselben sorgsam acht.


  • Literatur: Leo Reinisch, Die Bilinsprache I, S. 68.

Auch zwei Sagen vom Nest des Wiedehopfs gehören hierher:


a) In früheren Zeiten baute sich der Wiedehopf ein sehr schönes Nest, dessen Wände mit Talern besetzt waren. Aber die Menschen waren gierig, suchten diese Nester auf und zerstörten sie, um das Geld zu gewinnen. Um sich der Räuber zu erwehren, die ihm keinen Augenblick Ruhe ließen, nahm nun der Wiedehopf Unrat statt Taler; seitdem baut er sein Nest in Frieden.


  • Literatur: Millien im Archivio VI, 571. Aus Frankreich (Nivernais).

[327] b) Noah lehrte alle Vögel ihre Nester bauen, aber er vergaß den Wiedehopf, der sich schüchtern zur Seite hielt. Da wagte er zu fragen, woraus er das seinige bauen solle. »Aus Gold,« sagte Noah. Der Wiedehopf verstand ihn nicht und fragte noch einmal. Noah sagte: »Aus Silber.« Der Wiedehopf wiederholte seine Frage, da wurde Noah ungeduldig und antwortete: »Aus Dreck.«


  • Literatur: Sébillot, Folklore de France III, 171 aus der Franche Comté = Rolland, Faune pop. II, 103, Pineau, F.-L. du Poitou 518.

Wir sahen, daß die Einführung des neuen Motivs von den Goldkronen und die Weglassung der Königin hinreichten, um eine Sagenform zu erzeugen, die ein wesentlich anderes Aussehen erhielt, als ihre Vorbilder. In den Hauptteilen ist sie selbständig entwickelt, nur Einzelzüge wurzeln noch im Altertum.

Ein Gegenstück hierzu bildet eine malaiische Tradition, die umgekehrt in ihren Hauptteilen der Sage von der Königin von Saba gleicht, dagegen in Einzelzügen, wie der Naturdeutung, selbständig entwickelt ist. Die Verleihung der Federkrone ist mitsamt der ganzen Figur des Wiedehopfs verschwunden und durch etwas Neues ersetzt. Man erzählt nämlich:


Der König Salomo befahl allen Vögeln, die seine Untertanen waren, auf Jagd nach Nahrung auszugehen und bei eintretender Dunkelheit wieder zurück zu sein. Und am Abend, als er seine Untertanen wieder zu sich rief, stellte es sich heraus, daß der Adler, der zu seiner Leibgarde gehörte, fehlte. Da befahl König Salomo, daß man nachforsche, und die meisten antworteten: »Er verschmähte es einfach, uns zu begleiten.« »Wenn das der Fall ist,« sagte der König, »so ist er nicht besser als ein Rebell, und wo ihr ihm begegnet, sollt ihr ihn töten, ohne lang zu fragen.« Als dies befohlen war, sprach der blaue Reiher: »Er hatte sicher Wichtiges vor, ich bitte um einen Tag Aufschub.« Und dasselbe sagte der Specht: »Hätte er übel getan, so wäre ich doch der erste, der davon wüßte. Gehöre ich nicht zu Eurer Majestät Leibwache? Und wenn er unrecht getan hätte, könnte ich es dann nicht zurecht bringen? Ich bitte um zwei Tage Aufschub.« Aber die Drossel sagte nur: »Ich bitte um drei Tage Aufschub.« Da gewährte Salomo ihnen die drei Tage. Als die nun um waren, kehrte der Adler zurück und suchte seine Kameraden auf. Und er beriet sich mit dem Specht und überredete ihn, vor König Salomo zu erscheinen. Darauf ging der Specht zum König, verbeugte sich und sagte: »Eure Majestät, der Adler kam neulich nicht zurück, weil er entdeckte, daß die Tochter des Königs der Genien von so außerordentlicher Schönheit sei, daß sie wohl wert wäre, die Gemahlin Eurer Majestät zu werden.« Darauf erwiderte der König: »Gut, wenn du stark genug dazu bist, so nimm sie von ihm fort, ich erlaube es dir.«5 Aber der Adler hatte mit dem Specht ausgemacht, daß ein Baum ausgehöhlt würde, und sie hatten die Prinzessin dahinein getan, die Öffnung mit Pech verklebt, und der Adler hielt Wache dabei. Als der König dies hörte, sagte er: »Bringt sie beide zu mir, und ich will ihnen das Leben zusichern.«[328] Da brachte der Adler die Prinzessin vor den König Salomo, und der König befahl, einen Schaum aus Reismehl für die Prinzessin zu machen und ihn dann wieder mit Zitronen von ihr abzuwaschen. Dabei verschwanden die Federn der Prinzessin, die Weiße ihrer Haut zeigte sich in all ihrer Schönheit, und dann wurde die Hochzeit der Tochter des Königs der Genien mit Salomo, dem König, gefeiert. Danach sprach König Salomo zu den versammelten Vögeln: »Wenn ihr nichts zu sagen hattet, hättet ihr reden sollen wie die Drossel. Hattet ihr etwas zu sagen, so hättet ihr reden sollen wie der blaue Reiher.« Und er verfluchte all die andern Vögel mit einem gewaltigen Fluch. Und darum gibt es bis heute Vögel So verschiedener Art, einige mit zu langem Schnabel, andere mit zu langem Schwanz, und noch andere mit einem schwarzen Ring um den Hals.


  • Literatur: Skeat, Fables and Folktales from an Eastern Forest, p. 64.

Fußnoten

1 Vgl. Kalonymus, S. 75 ff. Ebd. Anm. S. 234 und bei Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judentume aufgenommen, S. 186, wird statt des Wiedehopfes der wilde Hahn, bei Grünbaum, Jüd.-dt. Chrestomathie 212 der Auerhahn genannt. Daß aber der Wiedehopf gemeint ist, beweist Grünbaum, Zeitschr. d. dtsch. morgenl. Ges. 31, 207 ff. Zum Motiv der Vogelbotschaft: Cosquin, Contes pop. de la Lorraine I, 48.


2 Midrasch Ruth 1, 17 wird erzählt, Salomo habe, um den Leichnam seines Vaters gegen die Sonnenstrahlen zu schützen, die Adler herbeigerufen, die denselben mit ihren Flügeln beschatteten. (Zeitschr. d. dt. morgenl. Ges. 31, S. 213.) Hierzu: Michael Sachs, Stimmen vom Jordan und Euphrat, (Berlin 1853) S. 69:


[Als David gestorben war]

Da lag der Leichnam ohne Schutz und Hut.

Nun kam herbei von Adlern eine Schar,

Und jeder breitet aus sein Flügelpaar,

Und wie ein Zelt, das über ihn gespannt,

Birgt ihn ihr Schutz vor Glut und Sonnenbrand.

(Aus Talm. Gabb. Fol. 30 b, Jalk. Ps. Nr. 735.)


Im Hitopadescha, übers. v. Schönberg S. 132, beschattet eine Gans mit ausgebreiteten Flügeln einen Wanderer, als der Schatten des Baumes, unter dem er liegt, wegzieht. Sonstige Beispiele für Beschattung der Vögel in d. mittelalterlichen Literatur siehe Zeitschr. f.d. Altert. 35, S. 184 f.


3 Thévenot: Relation d'un voyage fait au Levant (Paris 1665) nennt unter den Tieren, die nach dem Glauben der Türken in das Paradies Eingang finden, den Papagei oder den Wiedehopf. S. 78 heißt es: Der Papagei, oder nach andern der Wiedehopf, war der Bote, durch den die Königin von Saba Nachrichten an Salomo schickte und von ihm Kunde bekam.


4 Über die Krone als hervorstechendes Merkmal des Wiedehopfs siehe Grünbaum, Zeitschr. d. dtsch. morgl. Gesellsch. 31, 207 f. Derselbe, Neue Beiträge S. 232 verweist auf den Westöstlichen Divan (Buch der Liebe. Gruß. Hrsg. v. Loeper, S. 51).


Hudhud (d.i. der Wiedehopf) lief einher,

Seine Krone entfaltend.


Ferner wird im Wendunmuth (nach Äsop) erzählt (Bd. IV, S. 283): Wie einst der Adler hochzeitlich Beilager hielt, darzu auch der Wiedehopf geladen umb seines prächtigen Gewandes und königlichen Kronen willen.

Vgl. auch W. Wackernagels Voces variae animantium, S. 130, Nr. 35:


Der Wiedhopf ist gar wohl geziert

Und hat doch gar kein Stimm',

Sein Cron er allzeit mit sich führt,

Ist doch nichts hinter ihm.


5 In den Legenden der Mandäer ist es der Vogel Simurg, der eine Prinzessin auf Salomos Befehl entführt (Petermann, Reisen im Orient II, 110). Unbestimmt wird von einem Vogel im allgemeinen gesprochen in der apokryphen Apokalypsis Baruchi (Jahrb. f. prot. Theol. 6, 556).


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 329.
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