C. Vereinzelte Sagen.

[131] 1. Erweiterte Sage aus Malta.


Als der kleine Jesus heranwuchs und ungefähr fünf Jahre zählte, fand er einst keinen Bissen Brot im Hause seiner Mutter, und als er deswegen weinte, sagte die zu ihm: »Mein Sohn, geh ins Dorf und bettle; vielleicht stillen dir die Leute den Hunger.« So ging er hin und versuchte es an vielen Türen. Aber niemand hatte etwas übrig, alle hatten selbst zu wenig. So gelangte er zuletzt an eine Backstube und betrat den Raum. Außer der Bäckerin befanden sich noch zwei Frauen darin, von denen die eine sogleich rief: »Da sieh nur, das reizende Bübchen! Wie heißt du denn, mein Herzenskind?« – »Ich heiße Jesus.« – »Welch holder Name! Wem gehörst du denn?« – »Meiner Mutter Maria.« – »Wie heißt denn dein Vater?« – »Joseph.« – »Wie lautet euer Spitzname?« – »Meine Mutter heißen sie ›die von Nazareth‹!« »Was willst du eigentlich?« »Ich habe Hunger, und meine Mutter hat kein Brot für mich! Gib mir du ein wenig!« Das Brot der beiden Frauen aber lag gerade auf der Brotschüssel, da die Bäckerin es einschießen wollte. Da bat die Frau die Bäckerin: »Halt ein, ich möchte dem Kinde Fladen backen!« Dann sagte sie zu ihrer Begleiterin: »Ist dir's recht, daß wir beide je ein Stück von unserm Teig abgeben, damit der Fladen größer wird? Meinen Teil soll er gefüllt erhalten.« Aber die andere war geizigen Sinnes und meinte: »Da du den Fladen füllen willst, wird es besser sein, daß jede den ihren einzeln backt!« Die Mildtätige teilte nun ein hübsches Stück Teig ab, füllte es schnell mit Käsestückchen und Saubohnen und sprach dazu: »Gehe auf und schaffe Freude! Laß aber nicht zu lang warten auf dich!« Die Geizige zwackte ihrem Brot nur ein weniges ab, füllte das Stück mit Knoblauch und sagte: »Geh auf und vermehre dich, füll' ja die Schüssel voll!« Dann buk die Bäckerin die beiden Fladen. Als sie sie aus dem Ofen nahm, sah die eine Frau voll Freuden, wie hoch ihr Fladen aufgegangen war, und rief: »Seht, seht, wie schön!« und sagte zu dem Kinde: »Nimm, nimm und geh schnell heim zur Mutter, damit ihr beide den Fladen warm esset!« und sie küßte das Kind. Die andere ärgerte sich, daß sie nun doch den Fladen zu groß hatte geraten lassen, und meinte: »Gleiches gehört zu gleichem: ein kleiner Knabe paßt zu einem kleinen Fladen!« und dabei schnitt sie mit einem scharfen Messer fast die Hälfte des ohnehin karg bemessenen Fladens herunter und überreichte ihn dann erst dem kleinen Jesus. Eilig lief er heim und überreichte seiner Mutter die Gaben. Und da sie ihn fragte, wie er die beiden Frauen zu belohnen gedenke, sagte er: »Die eine gab mir eine ganze Gabe, sie gab mir das Beste, was sie besaß: Käse und Saubohnen! Und darum soll es[131] ihr hier gerade daran gebrechen; sie gab mir lachenden Mundes, von nun an soll sie an Zahnschmerzen leiden, bis sie rasend wird; sie bezeigte mir Liebe, und heute noch sollen ihre Kinder sterben! Dann aber wird sie bei mir im Paradiese wohnen, und täglich wird sie bessere Bissen erhalten als Käse und Saubohnen! – Die andere gab mir unwilligen Herzens, und es ward eine unvollkommene Gabe! Aber ihr gebe ich Reichtum, wohin ihr Auge blickt, gebe ihr blühende Gesundheit, schöne Kinder! Dann aber folgt die Höllenstrafe für die größte aller Sünden: das Anschneiden des Fladens, der als Gabe bestimmt ist. Wahrlich, es wäre besser für sie gewe sen, sie hätte mir die Türe gewiesen, als daß sie sich dieses Vergehen aufgeladen. Bei ihren Lebzeiten aber trage sie schon Leichengeruch mit sich herum, als Dank für die Knoblauchfülle, und diesen Geruch vererbe sie auf Kind und Kindeskinder, damit sie den Leuten zum Abscheu werden und so gezeichnet seien mit dem Mal! Aus ihrem Grabe aber wachse Knoblauch, damit der Leichengeruch nicht vergehe!« Seitdem riecht der Knoblauch gut, solange er roh ist, verpestet aber den Atem der Leute, die ihn genießen. Wer aber aus Mund und Nase riecht, ist einer der Gezeichneten, nach dem, was die Altvordern sagen.


2. Aus Dänemark.


Eines Tages besuchte der Heiland während seiner Wanderungen die Frau eines Webers, um ein Wort mit ihr zu sprechen. Sie war aber mit ihrer Webearbeit fleißig beschäftigt, war über seinen Besuch unwillig und schlug nach ihm mit dem Schifflein. Da fluchte ihr der Heiland und sprach, weil sie so gierig auf ihre Arbeit sei und sich keine Zeit lasse, mit ihm zu sprechen, solle ihr davon kein Segen werden, und sie solle durch ihre Arbeit nur das Nötige für den Tag verdienen. Darum sind die Weber arm und verdienen durch ihre Arbeit wenig.


  • Literatur: Kristensen, Sagn 2, 256. 28.

3. Westslavisch.


Der Heiland sieht, wie in einem Dorf ein Bettler überall abgewiesen wird, weil die Frauen mit dem Hanf beschäftigt sind. Auch seine Fürsprache ändert nichts. Da spricht er das Urteil: »Künftig sollt ihr die doppelte Arbeit mit dem Hanf haben.« Seitdem müssen die Frauen den Hanf zweimal zupfen, einmal den männlichen, dann den Saathanf.


  • Literatur: Wenzig, Westslavischer Märchenschatz S. 90–92.

4. Baskisch.


Einst gab es in Spanien ein Dorf Ahurhutxe. Eines Sonnabends war dort eine Frau beim Backen, als sich eine alte Bettlerin an der Türe zeigte und um einen Kuchen aus dem Backofen als Almosen bat. Die Frau tat denn auch etwas Teig in den Ofen, und auf einmal wurde der Teig zu einem schönen Brot. Aber sie fand, daß dies Brot viel zu groß sei für ein Almosen. Darum tat sie eine viel kleinere Menge Teig in den Ofen. Aber das Brot wurde so groß, daß sie sich anstrengen mußte, es herauszuziehen. Nun nahm sie ganz, ganz wenig Teig zwischen die Fingerspitzen, aber das wurde so groß, daß es den ganzen Ofen ausfüllte, und daß die Frau es nicht herausziehen konnte. Da sagte die alte Bettlerin: »Ich bin die heilige Jungfrau; der Sonnabend ist mein Tag, und weil du dein Almosen für zu groß hieltest, so wird in deinem Dorfe kein Weizen mehr geerntet werden.« Als sie das gesagt, verschwand die heilige Jungfrau. Seit der Zeit sagen die Frauen, wenn sie ihren Teig in den Backofen schieben: »Der gute Gott mache sie so groß wie die Brote von Ahurhutxe!«


  • Literatur: Cerquand, Légendes et récits pop. du pays basque 1, 16.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 131-132.
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