D. Philemon und Baucis in christlichem Gewande.

[132] Ein klassisches Beispiel für sagenhafte Bestrafung der Ungastlichkeit ist das phrygische Märchen von Philemon und Baucis (Ovid Metam. 8, 621), von dem schon Theodor Benfey annimmt, daß es auf Volksmärchen von Einfluß gewesen sei, »wie sich denn überhaupt die Sagen von den wandernden Heiligen weniger an Christus' Wanderungen in Judäa schließen, als an die Wanderungen heidnischer Götter.« (Pantschatantra 1, 497).


Jupiter und Merkur klopfen als Wanderer an die Türen der Menschen und bitten um Obdach, finden aber nirgends Aufnahme. Endlich kommen sie zu der ärmlichen Hütte eines greisen Ehepaares, Philemon und Baucis, deren Gastlichkeit ihnen alles gewährt, was in ihren Kräften steht: ein bescheidenes Mahl, ein bequemes Lager und freundliche Gesichter dazu. Während des Mahles füllt sich der Krug fortwährend von selber. Als die beiden Alten den Fremden die einzige Gans opfern wollen, da geben sich diese zu erkennen:


Wir sind Götter und tragen den unrechtschaffenen Nachbarn,

Sagten sie, würdigen Lohn. Doch euch vergönnen wir, teillos

Solcher Strafe zu sein. Verlaßt nur euere Wohnung;

Folget unserem Schritt, und hinauf zu den Höhen des Berges

Gehet zugleich! – Sie gehorchen, und beid' auf Stäbe gestützet,

Streben sie weit hinauf mit mühsamen Tritten die Anhöhn.

Jetzo dem Gipfel so fern, wie der Pfeil, von der Senne geschnellet,

Abreicht, wenden sie bange den Blick; und in sumpfender Sündflut

Sehen sie alles versenkt; ihr eigenes Häuschen war übrig.

Während sie noch anstaunen der Nachbarn Schicksal bejammernd,

Sieh! die veraltete Hütte, zu klein auch zweien Bewohnern,

Wandelt zum Tempel sich um: für die Gaffeln ragt ein Gesäul auf;

Rötlich schimmert das Stroh, und wie Gold erscheinet der Giebel,

Bunt getrieben die Pfort', und gedeckt der Boden mit Marmor.

Jetzt mit ruhigem Antlitz begann Saturnius also:

Sagt uns, redlicher Greis, und du des redlichen Mannes

Würdige, was ihr begehrt! – Mit Baucis redet Philemon

Weniges, öffnet den Himmlischen drauf den gemeinsamen Ratschluß:

Euere Priester zu sein, und euch zu pflegen des Tempels,

Werd' uns vergönnt! Und weil wir in Eintracht immer gelebet,

Laßt die selbige Stund' uns beid' hinehmen; und niemals

Schau' ich die Gruft der Gattin hinfort, noch bestatte mich jene!

Gleich war Wunsch und Erfolg. Sie pflegten beide des Tempels,

Ganz ihr Leben hindurch. Da gelöst von Jahren und Alter

Einst vor den heiligen Stufen vereint sie standen und sprachen

Über das Schicksal des Orts, sah Baucis in Laub den Philemon,

Sah der alte Philemon in Laub aufgrünen die Baucis.

Und wie um beider Gesicht der laubige Wipfel emporwuchs:

Leb', o Trautester, wohl! und o Trauteste! riefen sie wechselnd,

Weil sie noch konnten, zugleich; und zugleich umhüllte das Antlitz

Beiden Gebüsch. Noch zeigt der tyanischen Fluren Bewohner

Dort das heilige Paar als nachbarlich grünende Bäume.[133]


Sehr häufig tritt dies Märchen in Frankreich auf, zwar in christlicher Form, doch der ovidianischen Erzählung sehr ähnlich. Vielleicht darf man hier auf die unmittelbare Verbindung der römischen und gallo-fränkischen Kultur zurückgehen und darin den Ursprung der noch heute lebenden Volksüberlieferung suchen. Spätere literarische Einflüsse haben, wie eine mittelalterliche Variante (S. 136, 3 a) zeigen wird, zur Sagenerhaltung mit beigetragen; gewiß wird auch das Ansehen, das Ovid im Mittelalter als Schulschriftsteller gehabt hat, von einigem Einfluß gewesen sein. Hinzugetreten sind natürlich mancherlei Ausschmückungen, die auf Motiven einheimischer Volkssagen beruhen.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 132-134.
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