XV. Mitgefühl der Bäume und Pflanzen.

A. Die verdorrte Eiche.

[230] Zu Hebron steht noch die uralt ehrwürdige, nun bald dreitausendjährige Eiche, unter welcher schon Abraham sein Zelt aufgeschlagen und die drei Fremdlinge zu Mambre bewirtet hatte. Sie mißt bereits 23 Fuß im Umfange, während ihre Zweige bis auf 90 Fuß sich in die Runde ausbreiten. Aber zur Zeit der Kreuzigung, wie noch John Mandeville (Travels p. 68) schreibt, verdorrte auch sie, wie damals alle anderen Bäume der Welt, und blieb fortan zum ewigen Gedächtnis stehen.


  • Literatur: Sepp, Symbolik 5, 135. Vgl. Douhet, dictionnaire des légendes p. 54.
    Hans Schiltbergers Reisebuch. Hrsg. von Langmantel (172. Publ. des Stuttg. Lit. Ver.) S. 72 erzählt:

Nicht verre von Ebron ist das Mamberthal, und da ist der türr paum, den haissen die haiden Kurruthereck, man haist in auch Sirpe; und der ist gewesen seyt Abrahams zeitten, und ist alleweg grün gewesen, huntz das unser herre an dem creutz starb, do ward er türr... Die haiden haben den paum in grosen eren und hütten sein wol.


  • Literatur: Schiltberger hat dies aus Mandeville, c. 6 genommen.
    Über den dürren Baum siehe Zarncke, Der Priester Johannes. 1. Abhdlg. 7. Bd. der Abhdl. d. phil.-hist. Kl. d. sächs. Ges. d. Wiss. S. 1010 ff. A. Graf, Roma (Torino 1883) 2, 491–506. Kuhn, Herabk. des Feuers 128 ff. Max Müller, Chips 2, 209 f.

B. Die Espe und die Trauerweide.

1. In Schlesien heißt es: die Espe zittere deshalb, weil sie die Kreuzigung mit angesehen habe.


  • Literatur: Mitt. d. Vereins f. schles. Vk. 6, 37.

2. Ebenso in Nord-Ohio.


  • Literatur: Bergen, Animal and Plantlore 117.

3. Aus demselben Grunde soll in der schlesischen Sage die Trauerweide ihre Äste hängen lassen.


  • Literatur: Mitt. d. Vereins f. schles. Vk. 6, 37.

C. Die Birke.

Aus Schweden.


Die Hangelbirke (betula nana) wuchs an dem Kreuze des Heilandes und trauerte so tief, daß ihre Zweige sich neigten, was man noch heute sieht.


  • Literatur: Runa (1847) S. 26.

Eine schlesische Legende von der Trauerbirke siehe unten S. 233.


D. Verschiedene andere Bäume.

[230] Als Jesus am Kreuz den letzten Seufzer aushauchte, trauerte die ganze Natur. Dichte Wolken verhüllten die Sonne, Blitze durchzuckten die Luft, und der Donner verbreitete Schrecken um sich, die Erde öffnete sich an vielen Orten und ließ grundlose Tiefen erscheinen, Menschen, Tiere und Vögel flüchteten sich in die entlegensten Winkel und konnten vor Schrecken keinen Ton hervorbringen. Nur die Bäume, die Büsche und Blumen sprachen leise miteinander und klagten:

Die Fichte (pin) von Damaskus sagte: »Er ist tot, so werde ich als Zeichen der Trauer von jetzt ab ohne Schatten sein, und ich werde entlegene Orte bewohnen.«

Die Weide von Babylon raunte: »Er ist tot, so werden sich meine Zweige von nun an zu den Wassern des Eu phrat beugen und Tränen vergießen.«

Der Weinstock von Sorrent klagte: »Er ist tot, so sollen meine Trauben in Trauer schwarz werden, und der Wein aus ihnen soll Lacrimae Christi heißen.«

Der Taxus sagte traurig: »Er ist tot; ich aber bin dunkler geworden, weil ich von nun an Hüter der Friedhöfe sein werde, keine Biene wird sich auf meine giftigen Blüten setzen, kein Vogel sich auf meinen Zweigen schaukeln, und mein Hauch wird tödlich sein.«

Die Schwertlilie von Enze sprach: »Er ist tot, so werde ich meinen Goldkelch zum Zeichen der Trauer mit violetter Farbe verschleiern.«

Hoch auf dem Kaukasus fühlte der Buchsbaum einen traurigen Hauch: das war des Sterbenden Seufzer, der von Golgatha zum Himmel stieg. Der Saft erstarrte in seinen Zweigen; seine Blätter wurden noch dunkler, und die Zweige drängten sich aneinander. Da klagte er traurig: »Er ist tot. Und zum Andenken werde ich immer auf steinigen und unbewohnten Höhen bleiben. Meine schwarzen Zweige werden die Gräber bedecken, und mit ihnen wird man heiliges Wasser auf die Totenbahre sprengen.«

Die Winde sagte: »Er ist tot, so werde ich jeden Abend meine Blüte schließen und sie erst am Morgen wieder öffnen.«

Die Eiche ließ ihre Eicheln fallen, und die Fruchtbäume ihre Früchte, die Platane verlor ihre Rinde, von der Ceder Libanons bis zum Ysop der Täler hörte man schmerzliche Klagen gen Himmel steigen.

Nur die stolze und hochmütige Pappel blieb unbeweglich und sagte: »Er ist für die Schuldigen gestorben, ich aber bin unschuldig, was geht mich dieser Schmerz an.« Über ihr stolzes Haupt flog ein Engel, der hörte diese Worte. Er trug einen Goldkelch, den er am Stamm des Kreuzes mit Blut gefüllt hatte, zum Himmel und ließ einige Tropfen davon auf die Wurzeln des Baumes fallen: »Damit du an dem allgemeinen Schmerz, teilnimmst, sollen an den heißen Sommertagen, wenn der Windhauch alle Pflanzen und Blätter unbeweglich läßt, die deinigen in fortwährender Bewegung sein, und man wird dich Zitterpappel nennen.«


  • Literatur: Ledieu, Nouvelles et légendes rec. à Démnin p. 154 ff.

E. Die Nachtviole.

Nachdem bei dem Kreuzestode Christi alle Blumen bereits in tiefem Schlafe versunken waren, blieb nur noch die Nachtviole wach und sandte zur Erquickung dem sterbenden Gottmenschen balsamische Düfte empor. Als Lohn dafür entfaltet sie seit diesem Tage auf Gottes Geheiß immer zur Nachtzeit die Pracht ihres Kelches.


  • Literatur: Österreichisch. Mitteilung von F. Branky bei Rolland, Flore pop. 1, 247.


Übertragung.

[231] Der Gegensatz zwischen der schönen Belaubung und dem kümmerlichen Aussehen des Stammes des Terpentinbaumes gab Veranlassung zu folgender Sage:


Als Muhammed starb, begaben sich alle Bäume ihres Blätterschmuckes zum Zeichen der Trauer, nur der Terpentinbaum behielt sein Laub. Das machten ihm die anderen Pflanzen zum Vorwurf, indem sie es als einen Akt der Pietätlosigkeit ansahen. Der Terpentinbaum aber zeigte ihnen seine klaffenden Seiten und sein fast geschwundenes Mark und sagte bloß: »Die wirkliche Trauer sieht man nicht am Blätterschmucke, sondern in der Seele. Ihr sehet, daß ich mein Inneres selbst zerrissen habe.«


  • Literatur: L. Jacquot, Légendes Sahariennes in Revue des traditions populaires 16, 310.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 230-232.
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