VI. Sagen von geplantem oder vollzogenem Wohnortswechsel.

[215] 1. Aus Ungarn.


Die Feldmaus wollte eine Hausmaus werden. Da kamen die Feldmäuse zusammen, wählten eine unter ihnen aus und sandten sie hinein zur Hausmaus, sie um Wohnsitze zu bitten. Die Feldmaus sagte der Hausmaus, sie möchte ihr eine Wohnung geben, es sei ihr schon über, da draußen auf dem Felde in Nässe und Kälte zu sitzen, sie wolle nun auch einmal drinnen wohnen! Die Hausmaus hatte auch nur knapp zu essen und wollte ihr nicht Herberge geben, doch die Feldmaus bat und bettelte so, daß sie böse wurde. »Geh, dort ist der Herzog, er liegt dort auf der Ofenbank; bitte ihn um Herberge!« Die Feldmaus ging zum Herzog; der Herzog schlief. Sie sprach: »Er schläft!« »Na, kannst du ihn denn nicht aufwecken? Steck ihm deinen Schwanz ins Ohr, dann wird der Herzog gleich aufwachen und dir auch eine Wohnung geben!«

Als der Herzog erwachte, packte er sie gleich und fraß sie mit Stumpf und Stiel. Da sprach die Hausmaus: »So geschieht's dir recht, wenn du ins Schloß kommst und nicht weiß, wie man mit einem Herzog umgeht!«

[215] Seitdem haben die Feldmäuse niemanden wieder hineingeschickt, um Wohnung zu bitten.


  • Literatur: Kálmány, Széged Népe 3, 170.

2. Aus Rumänien.


a) Ein armes Weib, von Läusen geplagt, litt an Hunger und bat einen Käsemacher um etwas Käse; sie wurde aber abgewiesen. Als sie den Schafhirten ihr Leid klagte, wurde sie ebenfalls verhöhnt und fortgetrieben. Ein Lämmerhirt schlug sie sogar. Deshalb nahm die Alte eine Laus und warf sie unter die Lämmer und Schafe; das war ihre Bache, denn die Laus (melophagus ovinus L.) vermehrte sich zahlreich und plagt seitdem die Schafe.


  • Literatur: Marianu, Insectele, S. 401.

b) Die Stadtfliegen, unzufrieden mit den Verhältnissen, beschlossen in die Berge zu ziehen. Die Bergfliegen anderseits hofften, in der Stadt ein besseres Dasein zu finden. Beide Parteien trafen sich unterwegs und erzählten sich gegenseitig die Nachteile ihres bisherigen Aufenthalts. Trotzdem aber konnten sie sich nicht überzeugen, sie setzten den Weg fort, und daher sind jetzt die zahlreichen1 früheren Stadtfliegen in den Bergen, die ehemaligen Bergfliegen aber in der Stadt.


  • Literatur: Marianu, Insectele, S. 374.

3. Estnische Sage.


Es war ein heißer Tag. Der Floh hüpfte eifrig auf dem Wege zur Stadt. Ihm begegnete eine Fliege und fragte, wohin er gehe. Der Floh erzählte: »Auf dem Lande läßt es sich nicht leben. Die Menschen kommen müde von der Arbeit, werfen sich ins harte Bett und fühlen gar nicht, wenn ich beiße. Und wenn ich gerade unter ihre Seite zu liegen komme, so kann ich mich nicht bewegen, weil sie nichts von mir fühlen und sich nicht rühren. Ich gehe in die Stadt. Da sollen die Menschen in weichen Federbetten liegen und viel empfindlicher sein, so daß sie einem in der Nacht alle Seiten zukehren.«

Die Fliege sagte: »Ich ziehe wieder aus der Stadt aufs Land. Mir gefällt das Stadtleben nicht. Wenn ich in der Stadt in eine Speise gerate, so fischt man mich mit der Gabel heraus und wirft mich in einen Sandtopf. Auf dem Lande aber soll man die Fliege mit einem Löffel aus der Speise holen und mitsamt der Suppe auf dem Löffel ›platsch‹! auf die Diele werfen. Es bleibt auf der Diele mehr, als man zum Sattwerden braucht.« Die beiden verabschiedeten sich und gingen jeder seinen Weg.

Darum sollen auch so viel Flöhe in der Stadt und so viel Fliegen auf dem Lande sein.


  • Literatur: Aus d. hdschr. Nachlaß von J. Hurt.

4. Weißrussische Sage.


Der Löwe hat deshalb unsere Länder verlassen, weil er einmal von einem Menschen betrunken gemacht worden ist. Während seines Bausches hat ihm der Mensch das Fell bis zu den Knien abgezogen, und er denkt nun, daß er sich im Bausch an Steinen und Wurzeln verwundet habe. Daher will er nur dort leben, wo es keinen Hopfen gibt.


  • Literatur: Federowski, Lud białorusski 1, Nr. 712.

[216] 5. Aus Ostpreußen.


In den ersten Zeiten der Schöpfung waren die Tiere und Vögel nach ihrem Aufenthalte anders verteilt als jetzt. Die Wachtel wohnte und nistete in den Häusern der Menschen, die Schwalbe aber wohnte auf den Feldern Da die Wachtel dem Menschen aber immer zurief: »The(?) torügg! Möt Bedacht!« so wurden diese schüchtern bei jedem Unternehmen und legten die Hände in den Schoß, und das Menschengeschlecht drohte unterzugehen. Da erbarmte sich Gott der Menschen, er schickte die Wachtel aufs Feld und die Schwalbe ins Haus. Diese rief nun den Bauern immer zu: »Fitschet! fitschet!« Das klang, als triebe sie die Säumigen mit der Peitsche an, und von da gings besser.


  • Literatur: Frischbier, Altpr. Monatschr. 22, 289.

Fußnoten

1 Es ist vorher nicht ausdrücklich gesagt, daß die Stadtfliegen zahlreicher waren.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 217.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon