XII. Verschiedenes.

[263] 1. Aus Griechenland (Phelloë, Kalavryta).


Als der große Alexander die ganze Welt erobert hatte, ging er auch dahin, wo das unsterbliche Wasser quillt, und füllte zwei Krüge voll, um sich zu waschen und unsterblich zu werden. Als er sie nach Hause gebracht hatte, sagte ein Offizier, der gegen ihn trotzte, das Geheimnis seinen (d.h. des Königs) Schwestern und überredete sie, sich damit zu waschen und davon zu trinken und anderes Wasser in die Krüge zu gießen. Diese nahmen das Wasser, tranken und wuschen sich und gössen das schmutzige Wasser auf die Straße. Da wurde zufällig eine Henne und ein μποτσάχις (?) von dem unsterblichen Wasser benetzt, und darum mausert sich die Henne jedes Jahr und wird wieder jung, und der μποτσάχις verwelkt nicht, auch wenn er mit der Wurzel ausgerissen und an die Luft gehängt wird.


  • Literatur: Politis, παραδόσεις Nr. 651.

2. Aus Indien.


Bei großer Hitze, wenn alles Gras vertrocknet ist, denkt der Affe, er habe es alles gefressen, und bei Regen, wenn es wieder grün wird, meint er, er müsse es noch alles fressen. So ist er immer zufrieden.


  • Literatur: Panjab Notes and Queries 1, 15.

3. Aus Annam.


Ein betender Bonze wurde von der Göttin Thât bà in einen Frosch verwandelt, weil er der zehnmaligen Versuchung der Göttin nicht widerstand. Daher kommt es, daß der Frosch seine Füße wie zum Gebet faltet, wenn man ihm den Kopf abschneidet.


  • Literatur: Nach Landes, Contes Annamites S. 140.

4. Sage der Wishosk.


Die Spinne lebte hier auf der Erde, ohne Fliegen und andere Insekten fangen zu können. Sie ging zu Gurugudatrigakwitl [dem Schöpfer] und bat ihn, ihr ein[263] Mittel zu geben, um sie zu fangen. Gurugudatrigakwitl sagte zu ihr: »Setz dich eine Weile hin und arbeite für mich,« und gab ihr einen Faden zu verarbeiten. Die Spinne nahm etwas Faden in ihr Maul und verschluckte es. Sie verschluckte immer mehr und behielt ihn in ihrem großen Magen, bis sie sehr viel beisammen hatte. Gurugudatrigakwitl sah es und wußte, was sie tat, aber er dachte: »Mag sie ihn behalten, wenn sie ihn so braucht«. Die Spinne aber dachte: »Anders kann ich nicht wieder herunterkommen,« zog ein Stück Faden aus dem Mund, band es fest und ließ sich daran hinunter, immer weiter, immer weiter. Als sie auf der Erde ankam, machte sie ihre Netze, fing Fliegen und lebte davon.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 18, 98.

5. Sage der Bornu.


Einst kamen die Insekten zu Gott und baten, er möge ihnen Arbeit geben, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Gott hörte ihre Bitte an und gebot der Grille, nach Sonnenuntergang allen Insekten kundzutun, sie sollten am folgenden Tage in der Frühe zu ihm kommen.

Kaum war die Sonne untergegangen, so begann die Grille, laut ihre Botschaft auszurufen, wie der Herr ihr befohlen. Mitternacht kam, und noch immer rief die Grille zum Gebet. Da sandte Gott einen Boten zu ihr und ließ ihr sagen, sie habe nun lange genug gerufen, sonst mache sie dem Herrn noch Kopfschmerzen. Die Grille aber wollte dem Befehle nicht gehorchen, sondern sagte: »Bleibe ich draußen, so wird man mich sehen« und lief in ihre Höhle; sie steckte den Kopf daraus hervor und rief und rief, bis die Sonne aufging. Dann erst verstummte sie, und alle Insekten begaben sich zu des Herrn Betplatz. Da wies der Herr einem jeglichen seine Arbeit an.

Ganz zuletzt kam auch das Pátkēma1 zum Herrn. Befragt, warum es denn so spät käme, gab es zur Antwort: »Ich belud erst meine Esel mit all ihren Reisesäcken, die andern aber eilten mir inzwischen vorauf.« Der Herr aber sprach: »Alle Ämter bis auf eins sind vergeben; das will ich dir anweisen. Geh an den Eingang zur Höhle der schwarzen Ameisen, sammle die Ameisenköpfe dort auf, von denen viele dort liegen, und fülle deine Säcke damit. Dann treibe deine Esel zum Markte, breite Matten daselbst und verkaufe deine Ladung.«

Das Pátkēma gehorchte. Bald hatte es seinem Esel einen großen Sack voller Ameisenköpfe aufgeladen und trieb ihn zum Markte. Unterwegs warf der Esel den Sack ab. Da das Pátkēma nicht stark genug war, so bat es die Vorübergehenden, mit Hand anzulegen, aber es achtete niemand auf es. Da kamen die kleinen roten Ameisen2 des Weges; die bat das Pátkēma, ihm doch hilfreiche Hand zu leisten. Sie aber sagten: »Helfenwollen wir dir schon, aber nicht umsonst«. »Nun, faßt also nur an,« sagte das Pátkēma, »ich will euch bezahlen, wenn ich vom Markte heimkehre.« Da beluden die kleinen roten Ameisen den Esel wieder, das Pátkēma aber trieb ihn zum Markte, verhandelte dort seine Ameisenköpfe gegen andere Waren und machte sich auf den Rückweg.

Als die kleinen roten Ameisen das Pátkēma sahen, riefen sie ihm zu: »Vater Pátkēma, gib uns nun, was du uns schuldest.« Das Pátkēma aber weigerte sich[264] und zog seines Weges. Es war noch nicht weit gekommen, als es sich fieberkrank fühlte. Es stieg infolgedessen vom Esel herab, band ihn fest und nahm ihm seine Last ab. Dann setzte es sich unter einen Baum, um ein wenig zu ruhen. Das Fieber aber überwältigte es, und es fiel zu Boden. Als die kleinen roten Ameisen es dort liegen sahen, taten sie sich zusammen und töteten es.

Ein anderes Insekt aber hatte dies gesehen und lief eilends zum Herrn, ihm zu verkünden, das Pátkēma sei von den kleinen roten Ameisen getötet worden. Da sandte der Herr einen Boten und ließ die kleinen roten Ameisen sämtlich vor sich fordern. Als sie erschienen waren, fragte der Herr: »Warum habt ihr denn das Pátkēma getötet?« Die Ameisen teilten darauf das Vorgefallene mit, und der Herr sprach: »Ihr hattet recht.«

Noch heute ruft die Grille vom Abend bis zum Morgen. Das Pátkēma baut nicht das Feld und arbeitet nicht, sondern zieht mit seinen Waren auf den Markt; und wo die kleinen roten Ameisen ein krankes Insekt liegen sehen, da gehen sie hin und geben ihm den Rest.


  • Literatur: Bleek, Reineke Fuchs in Afrika S. 156 = Koelle, African Native Literature S. 58.

6. Sage der Aschanti.


Es war einst eine Hungersnot. Vater Spinne sprach zum Sohne: »Geh du heute zu deiner Familie, und ich gehe zu meiner.« Der Sohn erwiderte: »Ich habe doch keine andere Familie.« Aber der Vater warf ihn in ein Gebüsch im Walde. Dort lag eine Boa. Der erzählte er sein Geschick, und sie hatte Mitleid. Sie machte ihn zum König einer Stadt und bedang sich nur die Nahrung aus, die sie zu bekommen habe, und daß niemand in ihr Zimmer kommen dürfe, das sie im Palast bewohnen wolle. Dafür spie sie obendrein täglich Gold. Das ging so lange gut, bis eines Tages der Vater Spinne kam. Trotz so vieler Wohltaten, die er erhielt, ging er in das Zimmer der Schlange, als sie gerade Gold spuckte. Er schrie: »Sie frißt das Gold meines Sohnes!« und tötete sie. Darauf wurden die Leute verwandelt in Vögel, Tiere, Blätter, Lianen, Bäume, so daß der Spinnensohn sich in einem dichten Walde befand. Vom Vater Spinne fielen alle schönen Kleider ab, und er sprang schnell hinter ein Blatt. Der Sohn sprang hinter ein anderes Blatt, und daher kommt es, daß man noch jetzt Spinnen-Vater und -Sohn auf der Rückseite eines Blattes kleben sieht.


  • Literatur: Bull, de la Soc. Neuchât. 17, 187.

7. Aus Loango.


Die Springspinne hat das Netz erfunden, hat es sich aber vom Menschen abschwatzen lassen. Nun muß sie sich ohne Netz behelfen.


  • Literatur: Pechuel-Loesche, Volkskunde von Loango S. 105.

8. Rumänische Sage.


Ein Storch hatte einmal vier Eier gelegt. Da vertauschte eine Frau ein Storchei mit einem Gänseei, und es kroch auch wirklich eine junge Gans aus. Als der Storch dieses eigenartige Kind sah, tötete er es. Seitdem tötet er jedes Jahr eins seiner Jungen.


  • Literatur: Şezătoarea 8, 53.

9. Aus Rußland.


Gott hat dem Maulwurf keine Augen gegeben »Wenn du mir so viele Hügel aufwirfst, wie ich Sterne habe,« sagte er, »gebe ich dir Augen.« Und so graben die Maulwürfe noch immer und immer wieder Hügel.


  • Literatur: Manšura, Skazki S. 146.

[265] 10. Aus der Haute-Bretagne.


Der Wiedehopf und der Grünspecht sind gute Freunde. Einst hatten sie beschlossen, ihr Vaterland zu verlassen, um in die Fremde zu ziehen, aber sie mußten über das Meer fliegen. Als sie auf halbem Wege waren, fing der Grünspecht an, einzuschlafen, denn er war sehr müde geworden. Da rief ihm der Wiedehopf: »Huup, huup!« zu, damit er nicht ins Wasser fiele. Er wachte auf und faßte neuen Mut. Durch diese Zurufe legte der Grünspecht die Reise ohne Unfall zurück. Da er aber den Dienst, den sein Gefährte ihm erwiesen hatte, gar wohl zu schätzen wußte, wollte er ihm nun auch seine Dankbarkeit beweisen und begann Löcher in die Bäume zu bohren, damit diese den Nestern des Wiedehopfes als Schirmdach dienen sollten. Seit dieser Zeit höhlen die Spechte die Bäume aus.


  • Literatur: Sébillot, Trad. de la Haute-Bretagne 2, 185.

Fußnoten

1 »Kuli-pátkēma«, d.i. das Kaufmannsinsekt, ist der Name eines Käfers, der alle möglichen Dinge in seiner Höhle aufzuspeichern pflegt.


2 Diese roten Ameisen sind ganz klein, mit bloßem Auge kaum sichtbar, aber, namentlich in Sierra Leone, höchst lästig, um so mehr, als ihnen bei ihrer Winzigkeit der Zugang zu Eßwaren u. dgl. kaum versperrt werden kann.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 266.
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